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Systemische Erlebnispädagogik


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oder tun, wirkt sich auf den Prozess aus. Ist es das, was du damit meinst?

      Robert: Als Zuschauer und Zuhörer danebenzusitzen, war in gewisser Weise eine Intervention. Wir hatten eine Absicht und waren bei der Sache. Also waren wir auch aktiv, aber eben nicht im gewohnten Sinne einer Intervention. Damit wird meistens ein direktes Eingreifen in den Prozess verbunden. Wir hingegen wirkten für die Außenwelt recht passiv – deshalb die von mir vorgenommene Unterscheidung zwischen aktiv und passiv, was auch einen Link zur systemischen Haltung herstellen soll. Die Leitung ist in diesem Verständnis immer Teil des Systems und beeinflusst allein schon durch ihre Zeugenschaft und Beobachtung.

      Deine Frage nach einem prozessbestimmenden Phänomen löst in mir Ungläubigkeit und Verunsicherung aus. Es fällt mir nicht ein einziges Beispiel ein. Natürlich haben die Teilnehmer nach ihrem später folgenden Solo so einiges erzählt, was ich dem Feld der Phänomene zuschreiben würde: wenn Felsformationen zu Gestalten und Gesichtern werden oder merkwürdige Tierbegegnungen geschehen, die dann vom Protagonisten in seine Geschichte und sein Thema metaphorisch eingebaut werden, dann beeinflusst dies zumindest den persönlichen Prozess der Teilnehmer. Aber eine Situation, in der wir als Leitung uns von Phänomenen führen ließen?

      Vielleicht rührt meine Beispiellosigkeit daher, dass der Begriff Phänomen so ein großes Wort ist und ich die kleinen Hinweise an unserem „Wegrand“ zwar als nützlich angenommen habe, aber nicht den Begriff Phänomen verwenden will, weil es im Allgemeinen zu spektakulär klingen könnte. Vielleicht kann man in diesem Kontext „Auffälligkeiten“ im weitesten Sinn auch dem Begriff Phänomen zuordnen, aber darüber gibt es ja einen anderen Beitrag in diesem Buch.

      Tatsächlich erlebten wir eine partielle Sonnenfinsternis gleich zu Beginn unseres Wüstentrekkings. Wir wussten vorher davon, aber nicht, dass der Moment unseres Aufbruchs der gleiche wie jener der Finsternis sein würde. Dieses scheinbar „klassische“ Phänomen hatte aber mit unserem Prozess nichts zu tun. Auf dieser Ebene ist einfach nichts in Resonanz getreten und so haben wir auch nicht versucht, irgendetwas hineinzuinterpretieren. Es war einfach ein beeindruckendes Naturschauspiel, welches die Teilnehmer allenfalls für eine phänomenologisch achtsame Wahrnehmung (im oben erwähnten Sinne) sensibilisierte.

      Da fällt mir ein, dass du mir einmal vom Leben und den Überlebensstrategien der noch heute existierenden Naskapi-Indianer erzählt hast. Ich habe in Erinnerung, dass sich diese Menschen an ihren Träumen orientieren, um an ausreichend Lebensmittel zu gelangen. Wie dogmatisch übersetzen sie die geträumten Bilder in ihre Tagesrealität? Was glaubst du, würde ein Naskapi unter Prozessorientierung verstehen?

      Susanne: Schön, dass du dieses Beispiel ansprichst. Ich habe tatsächlich gerade heute an die Naskapi gedacht, weil ich in einem Seminar über Traumdeutung von ihnen erzählen möchte. Es handelt sich um einen Indianerstamm im Nordosten Kanadas, der über viele Jahrhunderte unter sehr unwirtlichen Bedingungen auf der Labrador-Halbinsel überlebt hat. Ihre Überlebensstrategie war – und das könnte man vermutlich von vielen Naturvölkern behaupten – völlige Prozessorientierung.

      Sie pflegten eine innige Beziehung zu ihrem Mista‘peo, was man mit „großer innerer Mensch“ übersetzen könnte. Er sprach durch Träume oder Ereignisse in der Natur und konnte durch die Trommel, durch Lieder oder Tanz gerufen werden. Mista‘peo war nicht irgendeine abstrakte Idee, sondern eine vitale innere Instanz, die für ihr Überleben von größter Bedeutung war. Im Winter waren die Lebensumstände der Naskapi besonders hart. Die Temperaturen waren extrem streng, die Landschaft unwegsam und die

      Karibu-Herden nicht immer in der Nähe. Wenn sie nicht mehr weiterwussten, riefen sie Mista‘peo mit der Trommel oder baten um einen Traum. Tatsächlich gibt es viele eindrückliche Beispiele dafür, wie wirksam dieser Dialog mit dem großen inneren Menschen sein kann und wie konkret und unmittelbar sie die Hinweise befolgten, die ihnen durch Zeichen oder Bilder übermittelt wurden. Eines davon will ich hier erzählen:

       Der Schwiegervater von Cimon, ein Jäger von Lake St. John, hatte einen mächtigen Mista‘peo. Einst hielt er sich zusammen mit seiner Familie am nördlichen Ufer des Aschuapmouchouan-Flusses auf, zu einem Zeitpunkt im Frühling, als eben das Eis zu brechen begann. Sie kamen zu spät und konnten den Fluss nicht mehr zu Fuß überqueren. Sie hatten auch kein Kanu. Nachdem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, gab er sich in der Nacht ganz dem Singen und Wünschen hin. Nach kurzer Zeit blieb das Eis an einer bestimmten Stelle des Ufers hängen und türmte sich zu einer Brücke von einem Ufer zum anderen auf, die sechs bis acht Fuß breit war. Sie war gerade breit genug, um ans andere Ufer zu gelangen. Ober- und unterhalb schäumte das angestaute Wasser. Nachdem sie am anderen Ufer angelangt waren, brach die Eisbrücke ein. (Speck)

      Naturvölker, wie die Naskapi, sind der Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten hautnah ausgesetzt. Ihr Überleben war und ist davon abhängig, dass sie in einen vitalen Dialog mit Bäumen, Tieren, Steinen, Himmelskörpern eintreten und in Harmonie mit ihnen leben. Sie haben komplexe Formen der Anrufung entwickelt, um mit den geistigen Kräften der Natur in Kontakt zu treten und günstige Bedingungen zu erbitten; und sie wissen, dass sie die Zeichen, die sie erkennen, ernst nehmen müssen.

      In unserem Kulturkreis haben wir gelernt, uns von der Natur abzugrenzen und uns vor ihren Bedingungen zu schützen. Wir haben sie entmystifiziert, indem wir ihre Gesetze erklären und sie uns zunutze machen können. Auch ist der rein physische Erhalt unseres Lebens nicht tagtäglich gegenwärtig und so haben wir uns an die Freiheit gewöhnt, unser Leben nach unseren Ideen und Wünschen zu planen und uns Ziele zu setzen, die über den existenziellen Erhalt hinausgehen. Dazu dienen uns Erfahrungswerte, vor allem aber auch ein kausaler Zugang zum Leben, der besagt: „Wenn ich A mache, dann kommt B dabei heraus.“

      Prozessorientierung hingegen erfordert, neben dem rationalen Denken auch ein feinstoffliches Bewusstsein und neben dem kausalen auch ein synchronistisches Weltbild zuzulassen. Und schon ist‘s vorbei mit so mancher Planerei – man begibt sich sozusagen bewusst und freiwillig auf unbekanntes Terrain. Wenn ich so arbeiten will, muss ich akzeptieren können, dass unser Sein mehr ist als eine logische Kette von Ereignissen und dass es Brücken gibt zwischen der materiellen und der geistigen Welt, die uns Phänomene bescheren und Hinweise geben, die wir nicht planen oder vorausahnen können, die aber für den Prozess, in dem wir uns bewegen, von großer Bedeutung sind. Prozessorientierung heißt auch, sich innerhalb eines festgelegten Zeitraums im Kontext unseres linearen Zeiterlebens auf Momente einzulassen, die neben der Zeit zu liegen scheinen. Momente, die mit der Uhr als kurz zu messen sind, dehnen sich beispielsweise aus und füllen sich mit Informationen. Ebenso kann es passieren, dass plötzlich Dinge in der Umgebung, die wir sonst allenfalls wahrnehmen, auf einmal zu bedeutungsvollen Symbolträgern werden. Das ist immer auch eine Art Spurensuche auf dem Weg entlang der größten Energie innerhalb einer durch den Auftrag definierten Passage. Vor diesem Hintergrund, und nachdem mir wieder in den Sinn gekommen ist, dass das Wort Methode von dem griechischen methodos abstammt, was übersetzt nachgehen heißt, wird mir noch klarer, warum die Prozessorientierung im Feld des methodischen Könnens angesiedelt ist.

      Robert: Die Erzählung über das Geschehen am Fluss ist wirklich spannend.

      Mit einem Ziel unterwegs zu sein, an einer Stelle nicht mehr weiterzukönnen und auch keine Lösung in Aussicht zu haben, kommt mir natürlich sehr bekannt vor. In solchen Momenten sich nicht panisch und aktionistisch zu verhalten, sondern zuerst etwas aufzugeben, eine Idee, ein mitgebrachtes Lösungsbild oder den Anspruch an sich selbst, es sogleich wissen zu müssen, ist manchmal eine Herausforderung. Diesen damit einhergehenden Gefühlszustand aushalten und dabei weiter in die Sache vertrauen ist jedoch eine wichtige Voraussetzung, um für hilfreiche Impulse oder gegebenenfalls Phänomene offen zu sein. Ist das die kompetente Inkompetenz? Zumindest ist es eine Kernkompetenz für prozessorientiertes Führen und Leiten von Menschen. Manchmal hilft eben nur das Warten auf den richtigen Zeitpunkt, auf diesen Moment, wenn sich etwas verdichtet und, wie in deinem Beispiel von den Naskapi, einem sogar Brücken gebaut werden.

      Susanne: Ich denke spontan an Wu wei aus dem Taoismus. Das ist der Weg, der zum Tao führt, und er wird definiert als Handeln durch Nichthandeln bzw. als Enthaltung eines gegen die Natur gerichteten Handelns. In