führende Rolle spielt.
Karl Cerff (1907–1978) wächst in Heidelberg auf und tritt mit 15 Jahren bereits der SA und 1926 dann auch der NSDAP bei. 1928 wird er Führer der Hitlerjugend in Heidelberg und fungiert zwischen 1931 und 1932 als HJ-Propagandaleiter im Gau Baden. Ab 1933 ist Cerff in der Reichsjugendführung tätig, wo er die Abteilung Jugend- und Schulfunk leitet. Er steigt in der NS-Hierarchie bis zum Ministerialdirektor im Reichspropagandaministerium und zum Mitglied des persönlichen Stabs des Reichsführers der SS Heinrich Himmler auf. 1943 wird Cerff zum SS-Brigadeführer ernannt.
In der Nachkriegszeit arbeitet Cerff für den Europäischen Buchclub in Stuttgart. Doch seine Berufung liegt auf einem anderen Gebiet. 1951 wird in Deutschland die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS e. V.“ (HIAG) gegründet. Es ist ein Traditionsverband ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS, der in seiner Hochzeit über 20.000 Mitglieder hat. Das zentrale Ziel der HIAG ist eine juridische und gesellschaftliche Rehabilitierung der Waffen-SS. In den Nürnberger Prozessen sind das Oberkommando der Wehrmacht aus formalen Gründen freigesprochen worden, während die SS zu einer „verbrecherischen Organisation“ erklärt wurde. In dieses Urteil sind nicht nur die Mitglieder der Allgemeinen SS und der SS-Totenkopfverbände eingeschlossen, die als Wachmannschaften in den KZs operierten, sondern auch die Mitglieder der Waffen-SS. Diese ist 1939/40 aus den bewaffneten Einheiten der SS-Verfügungstruppe hervorgegangen und während des Krieges zu einer Massenorganisation angewachsen, der insgesamt etwa 900.000 Männer angehörten. Nach dem Krieg echauffierten sich rund 250.000 ehemalige Mitglieder der Waffen-SS über die Ungleichbehandlung gegenüber der „sauberen Wehrmacht“. Weil die Mitglieder der Waffen-SS sich nicht nur gesellschaftlich als „verbrecherisch“ verleumdet sehen, sondern auch konkrete Nachteile in der Pensionsversorgung oder der Übernahme in den Staatsdienst hatten, formiert sich mit der HIAG eine mächtige Lobbyorganisation. Das Projekt „Reinwaschung“ geht am Ende auch auf. Weil die großen Parteien CDU, CSU, aber auch FDP und SPD auf das Wählerstimmenpotenzial dieser Gruppe schielen, werden der HIAG schon bald von der Politik Zugeständnisse gemacht. Und dies, obwohl schnell klar wird, dass der Verband recht offen rechtsextreme Positionen vertritt.36
Karl Cerff ist 25 Jahre lang führendes Mitglied in der HIAG. Er sitzt im Beirat des HIAG-Bundesvorstandes, wird 1962 dritter Bundessprecher und ab 1963 zweiter Bundessprecher des Verbandes. Cerff ist einer der einflussreichsten Unterhändler der HIAG und unterhält zahlreiche Kontakte zu Politikern und Wirtschaftskreisen. Dass Karl Cerff in dieser Position ab 1961 jahrelang als V-Mann für den BND arbeitet, weiß bis heute kaum jemand. Hartmann Lauterbacher hat mit der Anwerbung des HIAG-Mannes einen für den deutschen Nachrichtendienst strategisch wichtigen Schritt gemacht. Im SS-Traditionsverband tut sich ein weites Rekrutierungsfeld auf, das der BND weidlich nutzt. Das wird am Wiener Treffen deutlich, das ebenfalls im Rahmen der HIAG stattfindet. Zudem hat Karl Cerff alias „V-6414“ schon bald ein zweites Einsatzgebiet: Südtirol. So schreibt Hartmann Lauterbacher Anfang 1962 unter seiner neuen Tarnziffer „938“ an Hans Georg Langemann alias „Lückrath“:
Lauterbacher-Bericht über Karl Cerff: „Gute Legende, da ein Freund in der Nähe von Bozen ein Landhaus besitzt.“
V-6414 hat, wie er am 11.1.1962 in München mündlich darstellt, ohne weiteres die Möglichkeit in Bozen bzw. in Südtirol mit einer Anzahl von Persönlichkeiten zu sprechen, die über die Hintergründe der Attentatswelle mehr wissen, als in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist. […] V-6414 hat für Reisen nach Südtirol insofern eine gute Legende, als sein Freund, der Inhaber einer Fabrik in Karlsruhe, Rudolf Enseling (bekannt) in der Nähe von Bozen ein Landhaus besitzt, das von den beiden Familien häufig aufgesucht wird. 938 fragt, ob es unter Umständen für zweckmäßig angesehen wird, V-6414 hier einzusetzen. An Kosten würden für die Bahnfahrt Karlsruhe-Bozen und zurück und die Aufenthaltskosten für schätzungsweise 2−3 Tage entstehen.37
„Lückrath“ antwortet vier Tage später:
Vielen Dank für den Hinweis auf die Möglichkeiten des V-6414, an deren operationeller Nutzung hier Interesse besteht. Bezugnehmend auf Ihre Anfrage, wird daher gebeten entsprechende Maßnahmen für eine Reise des V-6414 zu treffen.
Vordringlich interessieren hier neben allen zu gewinnenden personellen Erkenntnissen, die im Zusammenhang mit der Südtirol-Krise getroffen werden können, Klärung:
•der Hintermänner der wegen Sprengstoffvergehens überführten Inhaftierten;
•Verbindungen zur KP Italiens;
•Hinweise auf Oststeuerung (Namen und Fakten);
•Namen von beteiligten deutschen Staatsangehörigen.
Um weiterhin laufende Berichterstattung wird gebeten.38
Dass Rudolf Enseling von Hartmann Lauterbacher als „bekannt“ apostrophiert wird, hat einen einfachen Hintergrund. Auch Enseling ist zu diesem Zeitpunkt ein Spitzenfunktionär der HIAG. Der damals stellvertretende HIAG-Bundessprecher ist bereits beim Gespräch in Wien dabei und eine der wichtigsten Unterquellen für Karl Cerff.
Der Karlsruher Unternehmer Rudolf Enseling (1914–1977), SS-Obersturmbannführer und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Panzerkommandant, hat ein Haus in Jenesien oberhalb von Bozen. In einem vertraulichen Bericht der Bozner Quästur heißt es:
In den vergangenen Tagen wurde diesem Amt die Meldung zugetragen, dass der deutsche Staatsbürger Enseling Rudolf, Präsident einer Vereinigung ehemaliger SS-Leute in Deutschland, seit einigen Jahren in der Gemeinde Jenesien kürzere Urlaubsperioden verbringt. Laut der Mitteilung hat Enseling, der von starken antiitalienischen Ressentiments erfüllt ist, Geldsummen für die in Italien inhaftierten Kriegsverbrecher überbracht, die in Deutschland gesammelt wurden. Zudem soll er Kleidung an die Bauern im Ort verteilt haben. […] Es wurde außerdem festgestellt, dass die genannte Person in dieser Gemeinde Besitzer der Villa Erika ist. Ein Haus, das aus zwei Wohnungen besteht, in dem während der sommerlichen Ferienzeit immer wieder auch Angestellte des genannten Unternehmens mit ihren Familien die Ferien verbringen. Dabei soll auch ein nicht näher bekannter Cerff Karl des „Hilfswerk für Südtirol“ [gemeint ist damit wohl das „Kulturwerk für Südtirol“ – Anm. d. Autors] zu Gast bei diesem Ausländer sein.39
Hartmann Lauterbacher meldet Anfang Februar 1962 an Kurt Weiß („Winterstein“), dass Cerff seine Erkundungsfahrt angetreten hat und vom 7. bis 9. Februar in Bozen sei. Schon Wochen zuvor legt der Karlsruher HIAG-Funktionär gegenüber dem BND seine Südtiroler Gesprächspartner offen, von denen er Informationen erhält.
Cerff trifft sich in Südtirol mehrmals mit Hermann Nicolussi-Leck (1913–1999). Der Kalterer Anwalt, der zwei Legislativen lang (1956–1960 und 1968–1973) für die SVP im Regionalrat sitzt, ist der Bruder des damals bekanntesten Südtiroler SS-Mannes: Karl Nicolussi-Leck (1917–2008). Der ehemalige SS-Hauptsturmführer war nach Kriegsende in der Fluchthilfe für die gesuchten Nationalsozialisten tätig und ging schließlich selbst unter falschem Namen nach Argentinien. Auch als Karl Nicolussi-Leck in den 1950er-Jahren nach Südtirol zurückkehrt, bleibt er wichtiger Teil eines weltweiten Netzes ehemaliger freiwilliger SS-Männer.40
Hermann Nicolussi-Leck hingegen war im Weltkrieg bei den Gebirgsjägern. Was ihn für den BND aber besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass er der Verteidiger des inhaftierten Südtiroler BAS-Gründers Sepp Kerschbaumer ist. Der BND will über den Anwalt zu vertraulichen Informationen kommen. Dabei soll Cerff für den BND auch eine Verbindung Kerschbaumers nach Deutschland zu einem namentlich bekannten Busunternehmer abklären.
Bericht der Bozner Quästur über Rudolf Enseling: „Übergabe von Geldern, die in Deutschland gesammelt wurden“.
Ein weiterer Gesprächspartner von „V-6414“ in Südtirol ist der Bozner Geschäftsmann Emil