Nach dem Krieg eröffnet Emil Gutweniger unter den Bozner Lauben das erste Spielwarengeschäft in Südtirol. Hartmann Lauterbacher schreibt über Gutweniger an seinen Vorgesetzen in Pullach: „Ein Mann, der V-6414 gegenüber schon einmal Andeutungen über Hintergründe gemacht hat.“42
Die dritte Südtiroler Quelle von „V-6414“ ist uns bereits aus dem ersten Band dieses Werkes bekannt: Pater Franz Pobitzer.43 Der Franziskanerpater, mit bürgerlichem Namen Oswald Pobitzer (1908–1974), von dem die CIA bereits 1952 in einem Bericht schreibt, „shows interest in intelligence matters“, scheint gleich mit mehreren Nachrichtendiensten auf Tuchfühlung zu sein. Karl Cerff beschreibt ihn, als „den geistlichen Betreuer der Inhaftierten und der betroffenen Familien“. Dass man Franz Pobitzer in Pullach bereits kennt, geht aus einer Notiz auf einem Bericht von Karl Cerff vom Oktober 1961 hervor, in dem „V-6461“ „Pater Dr. Franz Pobitzer, Bozen“ als Quelle angibt. Der BND-Sachbearbeiter macht hinter dem Namen ein Sternchen mit der Anmerkung: „Wird sich weiterhin um Aufklärung kommunistischer Hintergründe bemühen und 6414 gegebenenfalls davon unterrichten.“44
Aber auch der oben zitierte Verweis der Bozner Quästur auf das „Kulturwerk für Südtirol“ ist im Zusammenhang mit Karl Cerff richtig. Der HIAG-Sprecher gehört nämlich zum Leitungsgremium Baden-Württemberg, dieses 1957 in München gegründeten Hilfsvereins für Südtirol. „V-6414“ liefert jahrelang Insider-Informationen auch aus diesem Kreis. So etwa im Frühjahr 1962 über die Jahrestagung des Kulturwerks in Karlsruhe.45
Die Spur in den Osten
Anschlag der Burschenschafter in einem Bus in Rom (September 1961): Alarmstufe Rot für den BND.
Werden die Anschläge in Südtirol vom Osten gesteuert? Das ist eine zentrale Frage, der Reinhard Gehlen und der BND jahrelang nachgehen. Mit einer Gegenspionage-Aktion in Wien will man hier Klarheit schaffen. Gleichzeitig kommt es kurz nach der Feuernacht in Rom zu einer brisanten Verhaftung: ein BAS-Mann, der für den BND tätig ist. Dies könnte zu einer diplomatischen Krise führen, denn es wäre für die italienischen Behörden der Beweis des lang gehegten Verdachtes, dass Deutschland hinter den Anschlägen in Südtirol steckt.
Genau zu dem Zeitpunkt, an dem in Europas Hauptstädten die Studentenrevolte explodiert, geht der General, der über zwei Jahrzehnte lang den deutschen Geheimdienst verkörpert hat, in Rente. Anfang Mai 1968 wird Reinhard Gehlen als Präsident des „Bundesnachrichtendienstes“ (BND) abgelöst und tritt in den Ruhestand. Gehlen arbeitet danach formal noch ein Jahr lang als Berater für seinen Nachfolger Gerhard Wessel, doch de facto kommt es zu einem Bruch zwischen dem Gründervater des BND und seinem Dienst.
Zwei Jahre lang schreibt Reinhard Gehlen danach an seinen Memoiren. 1971 erscheint das Buch mit dem schlichten Titel „Der Dienst“. Was als große Sensation angekündigt ist, erweist sich als sehr mittelmäßiges und eher langweiliges Werk. Der große Geheimnistuer bleibt seinem Ruf treu und plaudert in seinen Lebenserinnerungen rein gar nichts über die Geheimdienstarbeit aus.1 Das Buch erlaubt aber einen Einblick in Gehlens Gedankenwelt, die man getrost als etwas verschroben beschreiben kann. Gehlens Koordinaten sind geprägt von seiner militärischen Ausbildung, den Kriegsjahren und einem fast bis zum Fanatismus reichenden Anti-Kommunismus. „Ich betrachte den Kommunismus als eine tödliche Gefahr und lehne sein Gedankengebäude vollkommen ab“, fasst der BND-Gründer in seinen Lebenserinnerungen jene ideologische Auffassung prägnant zusammen, die sein privates und berufliches Leben prägt.2
Reinhard Gehlens nachrichtendienstliche Karriere beginnt, als er am 1. April 1942 zum Chef der Abteilung „Fremde Heere Ost“ (FHO) ernannt wird. Der neuberufene Oberst ist damit für die militärische Aufklärung an der gesamten Ostfront zuständig. Drei Jahre lang baut Gehlen die FHO zu einem Spionageapparat gegen die Sowjetunion auf. Diese Arbeit wird auch zum Leitmotiv seines Lebens. In der Nachkriegszeit sind es diese Informationen und das FHO-Archiv über vermeintliche kommunistische Aktivitäten, die den General für die Amerikaner so wertvoll machen, dass sie Reinhard Gehlen den Aufbau eines deutschen Nachkriegsgeheimdienstes finanzieren. Die „Organisation Gehlen“ (Org.), zuerst vom Militärgeheimdienst, dann ab 1949 von der „Central Intelligence Agency“ (CIA) kontrolliert und geleitet, ist für die USA ein wichtiges und willkommenes Werkzeug im aufkommenden Kalten Krieg. Der Kampf gegen den kommunistischen Feind schweißt die Gegner von einst zusammen.
Innerhalb der Gestapo und der militärischen Abwehr hatte man bereits Ende der 1930er-Jahre einen Begriff erfunden, mit dem die Nationalsozialisten ein vermeintliches Netz aus kommunistischen Spionen definierten, das sich über ganz Europa erstrecken sollte: die „Rote Kapelle“. Nicht nur die von Admiral Wilhelm Canaris geleitete Abwehr, also des militärischen Geheimdienstes der Wehrmacht, sondern auch die Gestapo und Gehlens FHO sahen in der Jagd auf die „Rote Kapelle“ eine ihrer zentralen Aufgaben. Obwohl man heute weiß, dass die „Rote Kapelle“ in Wirklichkeit eine Chimäre war, geht die Jagd auf das vermeintliche kommunistische Netzwerk auch in den Nachkriegsjahren unvermindert weiter. Reinhard Gehlen und viele seiner leitenden Mitarbeiter sind überzeugt, dass die Kommunisten den Westen unterwandern wollen. Dieser fanatische Antikommunismus aus den Kriegsjahren lebt in den Köpfen der meisten Mitarbeiter im deutschen Nachrichtendienst nach 1945 fort. Es ist eine Haltung, die alle Bereiche des BND durchdringt. Der Berliner Historiker Gerhard Sälter hat in seinem 2016 erschienenen Buch „Phantome des Kalten Krieges“ detailliert nachgezeichnet, wie man bis Anfang der 1970er-Jahre innerhalb des BND bewusst das Feindbild „Rote Kapelle“ am Leben erhalten und mit viel Aufwand gejagt hat.3
Exemplarisch zum Vorschein kommt diese Haltung auch in den bisher freigegebenen Akten des BND zu Südtirol. Die Frage, ob die Südtirol-Attentate vom Osten gesteuert werden und es kommunistische Hintermänner gibt, die den Südtirol-Konflikt ausnutzen wollen, um im westlichen Verteidigungsbündnis einen Unruheherd zu schaffen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Beschäftigung Pullachs mit Südtirol.
Nach Kenntnisnahme vernichten!
Zwischen Dezember 1962 und Juni 1963 kommt es im sowjetischen Sektor in Berlin zu mehreren Sprengstoffanschlägen. Nach kleineren Anschlägen an der Mauer folgt am 28. Dezember 1962 an der Ecke Zimmer-/Lidenstraße eine größere Explosion, die nicht nur einen Schaden an der Mauer verursacht, sondern auch über 1.500 Fensterscheiben in der Umgebung zu Bruch gehen lässt. Zwei Tage später explodieren Sprengladungen im Ausstellungsraum des Hauses der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft und gleichzeitig auf einem öffentlichen Parkplatz an der Wadzeckstraße. Bei einer dritten Sprengladung, die am Präsidium der Volkspolizei hinterlegt wird, versagt der Zeitzünder.
Die DDR-Behörden rechnen die Anschläge von Beginn an einer „revanchistischen Terrorgruppe“ aus dem Westen zu. Dass sie damit richtig liegen, machen die Ermittlungen der bundesdeutschen Polizei und ein dramatischer Vorfall deutlich, der sich wenige Wochen später ereignet. Am 10. März 1963 detoniert in einer Wohnung in Berlin-Wilmersdorf eine Sprengladung. Dabei stirbt der 23-jährige Student Hans-Jürgen Bischoff. Zwei Frauen werden schwer verletzt. Die Ermittlungen ergeben, dass Bischoff beim Scharfmachen einer Sprengladung verunglückt ist. Im Keller findet die Polizei ein ganzes Sprengstoff- und Waffenarsenal.
Östliche Steuerung der Südtirol-Attentate: Reinhard Gehlen („106 pers.“) gibt Marschrichtung vor.
Laut ersten Ermittlungen des Bundeskriminalamtes (BKA) stammen die bei Bischoff gefundenen Zünder und Zündschnüre sowie der Sprengstoff aus Österreich. Die polizeilichen Ermittlungen ergeben ein klares Bild: Hans-Jürgen Bischoff ist Mitglied der Berliner Burschenschaft Vandalia-Teutonia und war über den rechtsgerichteten „Bund Heimattreuer Jugend“ (BHJ) mit dem Kreis um Norbert Burger in Berührung gekommen. Das BKA kann den Weg der bei Bischoff