Christoph Franceschini

Segretissimo, streng geheim!


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Gehlen, der Gründervater und Leiter der „Organisation Gehlen“ (Org.) und erster Präsident des BND, kultivierte diese Verwirrungstaktik besonders intensiv. Gehlen, der den DN „Dr. Schneider“ (umgangssprachlich innerhalb des BND auch „Professor“) trägt, operiert in der Org. zwischen 1947 und 1956 anfänglich unter der Tarnchiffre „34“, wechselte dann auf „50“ und später auf „88“. Als aus der Org. 1956 der „Bundesnachrichtendienst“ (BND) wird, firmiert der Chef zuerst als „70“, dann jahrelang als „160“ oder „363“.4

      Bei jedem Chiffrenwechsel änderte auch die gesamte BND-Struktur ihre Bezeichnungen. So wurden etwa enge Mitarbeiter der Dienststellenleiter entweder durch den alphabetischen Zusatz a bis z oder durch römische Ziffern gekennzeichnet. „160/I“ zum Beispiel war der persönliche Referent von Reinhard Gehlen, „160/II“ seine persönliche Sekretärin und Büroleiterin.

      Weil es bis heute keinerlei wirklich schematische Übersicht über die Tarnziffern und Decknamen gibt, ist bereits eine Rekonstruktion der handelnden Dienststellen und Personen eine detektivische Kleinarbeit. Dem Berliner Historiker Ronny Heidenreich, Mitglied der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes (UHK), gebührt das Verdienst, 2019 erstmals einen solchen Überblick zusammengestellt und publiziert zu haben.5 Wer also ist dieser „Dr. Lückrath“, der im November 1961 mutmaßt, dass der Südtiroler Landeshauptmann und langjährige Obmann der Südtiroler Volkspartei Silvius Magnago direkte Kontakte zum BND habe?

      Hinter dem DN „Lückrath“ verbirgt sich Hans Georg Langemann (1925–2004). Der Jurist aus Westfalen kommt 1957 zum BND und macht eine steile Karriere. „Lückrath“, der die Tarnziffer 348a führt, wird zu einer der engsten Vertrauenspersonen von Reinhard Gehlen. Als der BND-Gründer 1968 in Pension geht, wird „Lückrath“ als BND-Resident nach Rom versetzt, also als offizieller Vertreter des BND in Italien. Dort betreut er weiterhin sein weltweit verzweigtes Spitzelnetz, bis er 1970 aus dem BND ausscheidet. Langemann landet in der Bayerischen Staatskanzlei, zuerst als Sicherheitsberater für die Olympischen Spiele in München 1972 und dann als Leiter der neuen Abteilung „Staatsschutz“ im bayerischen Innenministerium. Im Mai 1982 wird der oberste bayerische Staatsschützer verhaftet. Langemann wird beschuldigt, zwei Journalisten interne Informationen und Dokumente über BND-Operationen weitergegeben zu haben. Er wird eineinhalb Jahre später deshalb auch zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.6

      Hans Langemann alias „Lückrath“ wird Anfang der 1960er-Jahre innerhalb des BND zu einem der wichtigsten Akteure im „Strategischen Dienst“. Dabei handelt es sich um eine Art Geheimdienst im Geheimdienst. Diese Struktur ist rund zwei Jahrzehnte lang abgeschirmt vom restlichen BND in allen Bereichen tätig, sammelt Meldungen, führt im In- und Ausland Agenten und Zuträger und finanziert und organisiert nachrichtendienstliche Operationen. Die Hauptaufgabe des „Strategischen Dienstes“ ist es dabei vor allem, Reinhard Gehlen zuzuarbeiten. Der mächtige BND-Präsident hält sich somit eine Art Sonderdienst, den er von Beginn an mit absoluten Vertrauensleuten besetzt.

      An der Spitze des „Strategischen Dienstes“ (Tarnchiffre „180“) steht der in der Notiz genannte „L 180“, wobei das L für „Leiter“ steht. Dabei handelt es sich um Wolfgang Langkau (1903–1991), einen ehemaligen Artillerieinspekteur der Wehrmacht, der nach Erfahrungen in der Abwehr bereits Anfang der 1950er-Jahre zur Org. kommt. Langkau (DN „Holten“ oder „Langendorf“, Tarnziffer „180“ oder „273“) steht wie Reinhard Gehlen im Generalsrang und wird im BND zu dessen rechter Hand. Die beiden Generäle Gehlen und Langkau prägen mit ihren militärischen Umgangsformen zuerst die „Organisation Gehlen“ und dann den BND nachhaltig. General Langkau alias „Holten“ hat seinen Dienstsitz in Pullach in der ehemaligen Villa von Hitlers Geliebter Eva Braun. Deshalb trägt das weltweit verbreitete Agentennetz des „Strategischen Dienstes“, das Hans Langemann alias „Lückrath“ in den 1960er-Jahren aufbaut, auch den Titel „Operation EVA“.7

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      Hans Langemann alias „Lückrath“ (beim Prozess in den 1980er-Jahren): Vermutet kommunistischen Einfluss in der Südtirol-Frage.

      Bei „Lückrath“ und „Holten“ laufen im BND jahrelang alle Fäden in Sachen Südtirol zusammen. Zuständig für die außenpolitische Aufklärung, bereiten sie die Informationen für Reinhard Gehlen vor und beeinflussen nachhaltig die Gangart des deutschen Nachrichtendienstes in der heißen Phase des Südtirol-Konflikts.

      Daneben gibt es noch einen weiteren engen Gehlen-Vertrauten, der zuerst innerhalb der Org. und dann im BND von Beginn an in Sachen Südtirol mitmischt: Hans Walter Julius Winter (1915–1985), von Studium und Beruf Mediziner, wird 1948 von Reinhard Gehlen persönlich für den deutschen Nachrichtendienst angeworben. Winter, der den DN „Wilden“ trägt, ist jahrzehntelang in Pullach in leitenden Positionen tätig, unter anderem als Leiter der BND-Abteilung „Verbindung zu den Partnerdiensten“ (Tarnziffer „424“).

      Es sind also innerhalb der deutschen Geheimdienste eine Handvoll Personen mit dem Thema Südtirol betraut, aus den BND-Akten geht jedoch eines eindeutig hervor: Es ist vor allem Reinhard Gehlen, der ein besonderes Interesse an Südtirol hat. Der mächtige BND-Chef greift im Laufe der Jahre immer wieder in Geheimdienstabläufe ein und wird auch selbst tätig. image Fortsetzung

       Der Mann im Vatikan

       Der BND hat einen hochkarätigen Kleriker aus dem Vatikan in seinen Diensten. Es handelt sich um einen Südtiroler Latinisten, dessen tiefgründige Analysen bestechend sind.

      Der „Lagebericht über Südtirol“ trägt das Datum 3. Mai 1961. In dem Schreiben heißt es:

      Es ist keine große Genugtuung für den Berichterstatter, wenn er melden muss, dass die früher gemachten Voraussagen über eine Zunahme der Terrorakte durch die Ereignisse in den letzten Wochen bestätigt wurden.

      Trotz fieberhafter und systematischer Tätigkeit der italienischen Behörden gelang es noch nicht, einen der Sprengstofftäter zu finden. Das bestätigt die frühere Vermutung, dass eine verhältnismäßig kleine, aber gut organisierte Gruppe am Werke ist. Es dürfte heute auch kaum mehr ein Zweifel daran bestehen, dass die Terroristengruppe nach einem genau überlegten Plan arbeitet. Es wird nur Sachschaden zugefügt, es geht den Terroristen um die psychologische Wirkung. Ohne es zu wollen, unterstützen die italienischen Behörden mit ihren Maßnahmen diese Zielsetzungen: Sie richten sich vornehmlich auf die lokalen Spitzen der SVP und der Südtiroler Schützen; diese werden beinahe in ganz Südtirol systematisch verhört und verhaftet, um dann nach einigen Tagen wieder freigelassen zu werden, weil man nichts Belastendes feststellen konnte. […] Die dadurch hervorgerufene Unruhe in Südtirol und die zunehmende Verbitterung der Bevölkerung über die willkürlichen Verhaftungen waren wohl ein Ziel der Terroristen. Für die weitere Entwicklung scheint die Feststellung nicht unerheblich zu sein, dass die Südtiroler Bevölkerung über die Sprengstoffanschläge in ihrer Mehrheit keineswegs entrüstet ist, sondern sie mit einer gewissen Schadenfreude verfolgt, mit Ausnahme natürlich jener Kreise, die am Fremdenverkehr interessiert sind.

      Für die Terroristen ist diese Haltung der Südtiroler eine gute Ausgangsstellung, um ihre Aktionen zu intensivieren. Ob sie damit einen von der Bevölkerung aktiv mitgetragenen Aufstand vorbereiten wollen, kann nicht festgestellt werden.8

      Dies ist nur einer von Dutzenden solcher Lageberichte, die heute im Archiv des BND ruhen. Gezeichnet sind sie mit einer Datumsangabe in römischen Ziffern und dem Kürzel „SV EGG.“ Die Abkürzung SV steht dabei für „Sonderverbindung“. Die Sonderverbindungen im BND sind eine ganz eigene Kategorie von Mitarbeitern. Der langjährige Chef-Historiker des BND Bodo Hechelhammer beschreibt sie als „hochgestellte Persönlichkeiten mit größten Einblicks- und Einwirkungsmöglichkeiten, die zur Unterstützung