Als „NS minderbelastet“ eingestuft, arbeitet Stadlmayer ab Sommer 1945 in der bei der Tiroler Landesregierung neu eingerichteten „Landesstelle für Südtirol“. Später wird daraus das „Referat S“ werden. Die resolute Frau knüpft somit wieder dort an, wo sie zu Kriegsende aufgehört hat. Schon bald geht in der österreichischen Südtirol-Politik nichts mehr ohne „die Stadlmayer“. Sie wird nicht nur der Kopf des Südtirol-Referats, sondern auch Mitglied der österreichischen Expertenkommission, die mit Italien über Südtirol verhandeln soll. Eine sechswöchige Haft im Mai/Juni 1961 in Bozen macht Viktoria Stadlmayer international bekannt und zu einer Galionsfigur des Südtirol-Konflikts. Die Hofrätin (zu der sie 1969 ernannt wird) und ihr Amt werden so jahrzehntelang zu einer der wichtigsten Anlaufstellen für Journalisten, Wissenschaftler und Politiker, die sich mit Südtirol beschäftigen.
Schon sehr bald entwickelt aber auch der deutsche Nachrichtendienst Interesse an Viktoria Stadlmayer und ihrem Wissen um Südtirol. Das geht aus den Akten hervor, die 55 Jahre später vom BND freigegeben werden. Offiziell ist der Name der Quelle zwar geschwärzt, doch bei genauerer Recherche wird schnell klar, dass Stadlmayer jahrzehntelang den bundesdeutschen Nachrichtendienst mit Informationen versorgt hat. Die Innsbrucker Hofrätin wird in Pullach mit einem Decknamen bedacht, der sich an ihren Schreibnamen anlehnt, aber einen ganz besonderen Beigeschmack hat. Stadlmayer wird spätestens ab 1962 vom BND als Sonderverbindung „Stasi“ geführt.24
Viktoria Stadlmayer (nach ihrer Freilassung im Juni 1961 am Brenner): Jahrelang Informationen zu Südtirol nach Pullach geliefert.
Die Zusammenarbeit mit Viktoria Stadlmayer dürfte aber bereits in den 1950er-Jahren unter der Org. begonnen haben. Die Innsbrucker Südtirol-Expertin wird dabei von Beginn an in der obersten Leitungsebene des deutschen Nachrichtendienstes angesiedelt. Ihre Informationen werden anfänglich vom engen Intimus von Reinhard Gehlen Hans Walter Julius Winter (1915–1985), Deckname „Wilden“, ausgewertet. Nach der Umwandlung der Org. in den BND wird Stadlmayer 1957 dann als „Quelle 70“ in Pullach registriert. Auch das macht deutlich, dass Burgers Manuskript nicht aus der Luft gegriffen ist. Denn hinter der Tarnziffer „70“ verbirgt sich zu diesem Zeitpunkt BND-Präsident Reinhard Gehlen.
Nachrichtendienstlich geführt wird Viktoria Stadlmayer von einer Frau, die innerhalb des BND den eindeutig größten Einfluss auf Reinhard Gehlen hat und deren Biografie einige Parallelen zum Lebensweg der Innsbrucker Hofrätin aufweist. Annelore Krüger (1922–2012) wird als Tochter eines Arztes in der pommerischen Kleinstadt Köslin im heutigen Polen geboren. 1940 legt sie die Reifeprüfung ab, besucht zuerst eine Fremdsprachenschule (Englisch/Spanisch), um dann ein Studium aufzunehmen. Doch sie wird kriegsdienstverpflichtet und landet schließlich bei Gehlens Abteilung „Fremde Heere Ost“ (FHO). Dort baut die 20-jährige Schreibkraft zuerst eine „Bandenkartei“ auf und wird dann als Sekretärin in das Vorzimmer Reinhard Gehlens versetzt. Auf eigenen Wunsch wird sie schließlich im Referat „Feindpropaganda“ tätig, wo sie vor allem die ausländische Presse auswertet. Als Reinhard Gehlen nach der Kapitulation mit seinen engsten Getreuen und den wichtigsten Akten aus dem FHO-Archiv in eine Berghütte nach Bayern flieht, ist auch Krüger mit dabei.25
Todesanzeige für Gehlens rechte Hand und Geliebte Annelore Krüger: Unter ihrem Alias „Kunze“ führte sie auch die Sonderverbindung „Stasi“.
Auch im Nachkriegsdeutschland bleibt Annelore Krüger ihrem Chef treu. Mit 1. Mai 1947 wird die junge Frau formal von der Org. übernommen. Sie wird nicht nur zur Vorzimmerdame und wichtigsten Mitarbeiterin von Reinhard Gehlen, sondern sie ist bis zu seinem Tod auch die Geliebte des Leiters des deutschen Nachrichtendienstes. Annelore Krüger tritt schließlich in den BND ein, wird zuerst Beamtin, und Gehlen schafft es über Staatssekretär Hans Globke, dass seine Büroleiterin 1961 mit 39 Jahren zur Regierungsrätin und drei Jahre später zur Oberregierungsrätin befördert wird. Für Reinhard Gehlen ist Annelore Krüger eine absolute Vertrauensperson, deshalb bindet er sie von Beginn an auch in seine nachrichtendienstliche Arbeit voll ein. Gehlen übergibt seiner Geliebten dabei besonders sensible Aufgaben. So ist Annelore Krüger jahrzehntelang unter dem Decknamen „Kunze“ und der Tarnziffer „106/II“ (unter dieser firmieren auch andere Mitarbeiter) Teil der operativen Arbeit des BND und seines Chefs. Das heißt: Sie leitet Operationen und sie führt auch selbst Quellen, die zumeist von Gehlen persönlich angeworben werden.
Annelore Krüger alias „Kunze“ führt so auch die Sonderverbindung „Stasi“. Dabei dürften sich die beiden Frauen durchaus gut verstanden haben. Fast gleich alt (Krüger ist fünf Jahre jünger), mit ähnlichem Lebensweg, beide mit Bezug zu Pommern: Viktoria Stadlmayer hat dort familiäre Beziehungen und in ihrer Kindheit und Jugend immer wieder Zeit dort verbracht, Krüger kommt aus Pommern. In den BND-Akten finden sich Dutzende Protokolle von Besprechungen zwischen „Kunze“ und „Stasi“ aus den Jahren 1956 bis 1968. Aus den Akten geht dabei auch hervor, dass Viktoria Stadlmayer bewusst immer wieder die Hilfe von Reinhard Gehlen und des BND in Sachen Südtirol eingefordert hat. Anfänglich geht es in den Berichten vor allem um die politischen Entwicklungen in Südtirol und um eine mögliche Unterstützung durch deutsche Stellen. Stadlmayer berichtet dabei mehrmals auch über die Haltung und Initiativen von Otto von Habsburg in Sachen Südtirol. So beschreibt sie auch ein Treffen, das Ende 1956 zwischen dem Sohn des letzten österreichischen Kaisers und dem Südtiroler Nachrichtenoffizier Christoph Alexander von Hartungen (auch „Cristofero De Hartungen“) stattgefunden hat. Von Hartungen war Agent des faschistischen Nachrichtendienstes „Servizio Informazioni Militare“ (SIM) gewesen, hatte in den letzten Kriegsjahren mit dem US-amerikanischen „Office of Strategic Service“ (OSS) und dem italienischen Widerstand zusammengearbeitet und war auch nach dem Krieg für den italienischen Militärnachrichtendienst tätig. Hartungen nahm sich 1959 unter mysteriösen Umständen in Südtirol das Leben.26 Im BND-Bericht von „Kunze“ heißt es: „Der Onkel von Major Hartungen ist Hausarzt von [Name geschwärzt – Anm. d. Autors] in Innsbruck.“27. Gemeint ist hier der bekannte österreichisch-italienische Kurarzt Erhard Hartung von Hartungen (1880–1962), der als Pensionist in Innsbruck noch eine Reihe von Privatpatientinnen betreute. Unter ihnen war auch Viktoria Stadlmayer.28 Dass Stadlmayer Details über die Haltung Ottos von Habsburg zu Südtirol und dessen politische Überzeugung nach Pullach übermitteln kann, liegt daran, dass beim besagten Treffen auch ihr Cousin Dietrich von Wolkenstein-Trostburg mit von der Partie ist. Der gebildete Adelige, Anhänger der Weltföderalisten, der 1961 für den deutschen Zweig dieser Bewegung auch ein Buch veröffentlicht,29 ist ein Freund von Christoph Alexander von Hartungen. Von ihm dürfte Stadlmayer die Details erfahren haben.
Besprechung mit Quelle „70“: Kündigt Kundgebung von Sigmundskron an.
In einem weiteren Gesprächsprotokoll „Kunzes“ nach einer Besprechung mit Stadlmayer wird eine weitere Südtiroler Verbindung zur Org. und Reinhard Gehlen angesprochen, auf die man durch Friedl Volgger (1914–1997) aufmerksam wurde. Der Journalist, SVP-Funktionär und ehemalige Abgeordnete des italienischen Parlaments lässt in einem vertraulichen Gespräch 1956 durchblicken, dass er einen Südtiroler BND-Kontakt namentlich kenne. In Pullach will man die Indiskretionsstelle ausmachen. Auch hier ist die Innsbrucker Informantin zur Stelle. Annelore Krüger notiert:
Kurz vor dem Tode von Kanonikus Gamper [Michael Gamper, Direktor und Chefredakteur der Tageszeitung „Dolomiten“ – Anm. d. Autors], als dieser schon krank und sehr deprimiert gewesen sei, habe Baron von L. ihm – um ihn etwas aufzumuntern und zu trösten – über Erich Amonn mitteilen lassen, dass er Verbindung zu uns habe und dass auf Hilfe von dieser Seite gerechnet werden könnte. Da Volgger für Kanonikus G. gearbeitet hat, liegt die Vermutung nahe, dass er es von ihm erfahren hat.30
Bei Baron von L. handelt es sich um Karl von Lutterotti (1886–1964), der in direktem Kontakt mit Reinhard