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Grundwissen Psychisch Kranke


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Persönlichkeiten bei der Lebensbewältigung jedoch immer wieder oder anhaltend scheitern, dabei leiden oder Leid verursachen, hat innerhalb der kategorialen Persönlichkeitsmodelle zu einer Dimensionierung geführt, die bis heute durchgehalten wird und z. B. in der psychoedukativen Arbeit mit Betroffenen genutzt wird.11, 12

      In Tabelle 1 wird beispielhaft die Einteilung des Psychiaters Karl Leonhard dargestellt13, der „Varianten der Persönlichkeit“, „Akzentuierte Persönlichkeiten“ und „Abnorme Persönlichkeiten“ unterscheidet. Heute (unterste Zeile der Tabelle) spricht man meistens von „Persönlichkeitsstilen“ und „Persönlichkeitsstörungen“. Dabei ist entscheidend, dass zwischen den einzelnen Kategorien fließende Übergänge bestehen.

       2. Die moderne Klassifikation und Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

      Aus dem kurzen Überblick zur Geschichte der Persönlichkeitsmodelle wird bereits deutlich, dass die endgültige Definition einer Persönlichkeitsstörung mit zahlreichen Problemen behaftet ist. Der Begriff ist daher theoretisch immer wieder neu definiert worden, war oft mit Spekulationen und Wertungen verbunden und bleibt bis heute umstritten.14

      Da man in einer wissenschaftlich fundierten Medizin und Psychologie klare Kriterien und definierte Prozeduren braucht, um zu einer zuverlässigen, nachvollziehbaren und gültigen Diagnose zu kommen, wendet man heute international einheitliche Klassifikationssysteme an, die anhand eines Kriterienkataloges und eines Algorithmus möglichst genau definieren, wann man allgemein von einer Persönlichkeitsstörung sprechen darf, wie die spezifischen Persönlichkeitsstörungen bezeichnet und woran sie erkannt werden. Man nennt dies auch operationale Diagnostik.

      Diese Klassifikationssysteme sind das DSM-IV15 und das ICD-1016. Beide Klassifikationssysteme wollen auf Spekulationen hinsichtlich der Ursache von Persönlichkeitsstörungen verzichten und wollen statt willkürlicher und diffuser Gesamteindrücke konkrete Verhaltensaspekte zur Grundlage des klinischen Urteils machen. Es gibt darin Listen von Erlebensund Verhaltensmerkmalen, die eine bestimmte Persönlichkeitsstörung ausmachen und zwar immer dann, wenn ein definiertes Minimum an Merkmalen beobachtet werden kann.

       2.1 Allgemeine diagnostische Kriterien einer Persönlichkeitsstörung

      „Eine Persönlichkeitsstörung stellt ein überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten dar, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht, tiefgreifend und unflexibel ist, seinen Beginn in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter hat, im Zeitverlauf stabil ist und zu Leid und Beeinträchtigungen führt.“17

      Den betroffenen Menschen fehlen in der Regel grundlegende Fähigkeiten/Kompetenzen18 in verschiedenen Bereichen. Hierzu gehören19:

       1. der zwischenmenschliche Umgang (Interaktionsverhalten): Menschen mit Persönlichkeitsstörungen haben oft unbefriedigende, inkonstante oder ganz fehlende Beziehungen zu ihren Mitmenschen. Dies kann darauf zurückzu führen sein, dass sie nicht vertrauen können (z. B. bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung) oder sich zu sehr an andere anklammern, weil ihnen eigenständige Entscheidungen und das Alleinsein schwerfallen (z. B. bei der dependenten Persönlichkeitsstörung). Andere wiederum neigen zur Manipulation ihrer Mitmenschen, weil ihnen das Mitgefühl fehlt (z. B. die antisoziale Persönlichkeitsstörung). Die Beziehungsstörung ist ein so zentrales Merkmal der Persönlichkeitsstörung, dass sie oft als erstes ins Auge springt und mitunter schon aus den Biographien ersichtlich ist. Persönlichkeitsgestörte Menschen haben häufige Beziehungsabbrüche oder hochfrequente Wechsel der beruflichen Anstellungen (sogenannte „Abbruchsbiographien“)20 oder sie leben in hyperstabilen, aber dysfunktionalen Verhältnissen (z. B. in Gewaltehen).

      2. die Regulation des Gefühlslebens (Emotionalität): Menschen mit Persönlichkeitsstörungen haben oft überschießende oder kaum kontrollierbare Emotionen und können sich selbst schlecht beruhigen oder trösten (z. B. bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Andere stehen unter dem Einfluss eines einzigen dominierenden Gefühls, etwa der Angst (bei der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung). Wieder andere wirken distanziert und können Gefühle kaum ausdrücken (schizoide Persönlichkeitsstörung). Schließlich gibt es Persönlichkeiten, die selbst aus sachlichen Themen einen emotionalen Gehalt gewinnen und theatralisch inszenieren können (hysterische Affektgewinnung).

       3. die Genauigkeit der Realitätswahrnehmung (soziale Wahrnehmung): Die äußeren Umstände, die Mitmenschen und die Beziehung zu ihnen werden von persönlichkeitsgestörten Menschen oft verzerrt oder falsch wahrgenommen. Diese Perspektive kann dann kaum oder nur mit Mühe korrigiert werden. So werden etwa gut gemeinte Kommentare als verletzende Kritik wahrgenommen (Kritikempfindlichkeit bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen), oder es wird anderen Menschen generell ein feindseliges Motiv unterstellt (paranoide Persönlichkeitsstörungen).

       4. die Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung: Es finden sich Betroffene, die ihre eigene Person stark in den Vordergrund rücken, die eigene Besonderheit/Talente hervorheben und damit sehr auf Bewunderung aus sind (histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörungen); andere wiederum stellen ihr Licht generell unter einen Scheffel und zweifeln fortwährend an ihren eigenen Kompetenzen (vermeidend-selbstunsichere und dependente Persönlichkeitsstörungen).

       5. die Impuls- und Selbstkontrolle: Die Kontrolle eigener Impulse kann so weit vermindert sein, dass es zu autoaggressiven, aggressiven oder deliktischen Verhaltensweisen kommt (z. B. Kaufsucht, selbstverletzende Handlungen, suizidale Handlungen oder Drogenmissbrauch bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen; Diebstahl und Gewalttätigkeit bei antisozialen Persönlichkeitsstörungen). Anderen wiederum fehlt die Geduld, Dinge einfach geschehen zu lassen oder widrige Umstände zu akzeptieren (Ärgerreaktionen bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen).

      Von einer Persönlichkeitsstörung spricht man – das sei noch einmal betont – nur dann, wenn die oben gelisteten Störungsbereiche zu überdauernden Problemen führen (über Jahre hinweg) und in mehreren Lebensbereichen (also z. B. am Arbeitsplatz und in der Familie) auftreten.

      Treten solche Störungen nur vorübergehend auf, etwa als Reaktion auf ein belastendes Lebensereignis (z. B. depressiver Rückzug nach Todesfall in der Familie) oder als Folge einer Substanzwirkung (z. B. Reizbarkeit nach Alkoholkonsum) oder als Folge eines medizinischen Problems (z. B. Realitätsverkennung nach Hirnverletzung), so darf nicht von einer Persönlichkeitsstörung gesprochen werden.

      Ebenso wird bei Jugendlichen oder Adoleszenten (mindestens bis zum 14. Lebensjahr, bei antisozialen Verhaltensweisen bis zum 18. Lebensjahr) übereinkunftsgemäß nicht von Persönlichkeitsstörungen gesprochen, weil man hier noch von einem erheblichen Entwicklungspotential ausgeht.21

      Im Bereich der klinischen Psychologie wird mitunter darauf Wert gelegt, dass nur dann von einer Persönlichkeitsstörung gesprochen wird, wenn der Betroffene selbst (und nicht nur seine Umwelt) unter seinem Verhalten und seinen Folgen leidet. Dies wird durchaus kontrovers diskutiert. Persönlichkeitsgestörte Menschen können sehr lange zufrieden und erfolgreich durchs Leben gehen und verursachen mehr Leid bei ihren Mitmenschen, als dass sie selbst ein Unbehagen spüren. Namhafte Autoren wie Peter Fiedler22 fordern jedoch den subjektiven Leidensdruck als Diagnosekriterium und wollen nur im Falle eines „erheblich eingeschränkten Funktionsniveaus“, d. h. im Falle einer „Kollision mit Ethik, Recht oder Gesetz“, eine Ausnahme gelten lassen.

       2.2 Epidemiologische Daten – Häufigkeiten und Verteilung

      Die einzige in Deutschland durchgeführte Studie zur Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen in der Allgemeinbevölkerung kommt auf eine Häufigkeit (Prävalenz) von 9,4 %.23 Dies entspricht in etwa der Zahl, die andere, internationale Untersuchungen neueren Datums ergeben haben.

      Unter den Patienten psychiatrischer Einrichtungen ist diese Zahl wesentlich größer. Hier leiden 40 - 60