Marburg
Psychosozialer Stress stellt einen bedeutsamen (mit-) verursachenden, auslösenden oder verstärkenden Faktor bei weit verbreiteten chronisch-degenerativen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf- und Stoffwechselkrankheiten, bei psychosomatischen und psychischen Erkrankungen sowie bei einer Vielzahl weiterer Krankheitsbilder und Beschwerden dar (vgl. Beiträge von Arndt & Beerlage, Kastner und Polndorfer in diesem Buch sowie Kaluza & Renneberg, 20091). Daher kommt der Förderung individueller Kompetenzen zur Bewältigung alltäglicher Belastungen im Rahmen der Gesundheitsförderung eine zentrale Bedeutung zu. In ihrem Leitfaden Prävention schlagen die Spitzenverbände der Krankenkassen2 hierfür zwei Maßnahmenkomplexe vor:
• Maßnahmen zur Entspannung
• Maßnahmen zur multimodalen Stressbewältigung
Handlungsfelder und Kriterien des GKV-Spitzenverbandes zur Umsetzung von §§ 20 und 20a SGB V vom 21. Juni 2000 in der Fassung vom 27. August 2010. Berlin: GKV.
1. Maßnahmen der Entspannung
Entspannungstechniken zielen physiologisch auf die Beeinflussung des vegetativen Nervensystems. Zum Ausgleich von Anspannungszuständen und Stressreaktionen, bei denen der aktivierende Part des Nervensystems, der Sympathikus (verantwortlich für körperliche Aktivierungs- und Erregungsmuster), wirksam ist, soll durch den Einsatz der Entspannungstechniken der für Entspannung zuständige Parasympathikus angeregt werden. Dadurch können körperliche Erregungszustände abgebaut werden (z. B. Senkung von Puls und Blutdruck, Förderung der Verdauungstätigkeit, Muskelentspannung, Beruhigung der Atmung). Über die körperliche Entspannung hinaus bewirken Entspannungstechniken auch einen Abbau psychischer Anspannung und fördern Erlebnisse innerer Ruhe und Gelassenheit.
Wagner-Link (20103) unterscheidet Entspannungstechniken auf muskulärer, vegetativer, emotionaler und kognitiver Ebene. Hinzu kommen Verfahren, die mit Bewegung verbunden sind sowie unsystematische Entspannungs-Ansätze (vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1
Formen von Entspannungstechniken (vgl. hierzu auch Wagner-Link, 20104)
Muskuläre Ebene | Konzentrative Muskelentspannung | Durch Konzentration auf einzelne Muskelgruppen werden diese entspannt. |
Progressive Muskelentspannung | Zur Bewusstmachung von Spannungszuständen und zur gezielten Entspannung werden einzelne Muskelgruppen im Wechsel an- und dann wieder entspannt. Es folgt die bewusste, genießende Wahrnehmung der Entspannung. | |
Vegetative Ebene | Autogenes Training | Autosuggestives Verfahren, bei dem durch intensive Vorstellungen von Entspannungsphänomenen (z. B. Wärme) das vegetative Nervensystem beeinflusst wird. |
Atemtechniken | Bewusste, ruhige Atmung mit Betonung der Ausatmungsphase, ggf. gekoppelt mit Wortwiederholungen oder Zählen. | |
Emotionale Ebene | Fantasiereisen | Lenkung der Wahrnehmung auf innere Bilder mit positiver, entspannender Konnotation. |
Suggestive Musik | Lenkung der Wahrnehmung auf ruhige, entspannende Musik. | |
Kognitive Ebene | Meditation | Methode der inneren Versenkung, mit dem Ziel der Konzentration auf den Augenblick und die Schulung der Achtsamkeit. |
Verfahren in Bewegung | Tai-Chi/Qigong | Meditative Konzentrations-, Bewegungs- und Kampfkunstübungen zur Lenkung der Qi-Energie. |
Yoga | Geistige und körperliche Übungen mit Elementen wie geistige Konzentration und Atemübungen, mit dem Ziel, Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. | |
Unsystematische Verfahren | Aktivitäten, die individuell zur Entspannung genutzt werden wie Schwimmen, Spazieren gehen, Massagen, Lesen, Hobbys etc. |
Die Wirksamkeit von systematischen Entspannungstechniken zum Ausgleich von Stress ist empirisch hinreichend belegt (vgl. Vaitl & Petermann, 19935). Die gesetzlichen Krankenkassen erkennen insbesondere die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, das Autogene Training nach Schultz, Hatha Yoga, Tai-Chi und Qigong als förderungswürdige Entspannungsmethoden an (d. h. sie bezuschussen die Teilnahme an entsprechenden Maßnahmen finanziell). Allerdings ist Voraussetzung für die Wirksamkeit, dass die Techniken regelmäßig angewandt und trainiert werden (vgl. Meichenbaum, 20036) und dies möglichst präventiv (also nicht erst in Phasen akuter negativer Beanspruchung, da es oft schwer fällt, ungeübt aus einer extremen Anspannung einen Entspannungszustand zu realisieren). Das beinhaltet auch eine selbstgesteuerte Anwendung: Da ein zentrales Ziel von Entspannungstechniken ist, sich selbst in oder nach Belastungssituationen zu beruhigen, sollte möglichst keine Abhängigkeit von speziellen Trainern oder Audioformaten bestehen. Zum Erlernen von Entspannungstechniken ist es zunächst sinnvoll, entsprechende Workshops zu besuchen oder Lehrmedien wie Audioformate7, Filme8 oder Apps9 zu nutzen. Für die flexible Nutzung ist es aber wichtig, Entspannung mehr und mehr selbständig zu trainieren.
Bei entsprechendem Training ist es möglich, die erforderlichen Zeiten für die Entspannung immer weiter zu reduzieren und Kurzformen zu nutzen. So kann man beispielsweise bei der progressiven Muskelrelaxation die Muskeln, die an- und entspannt werden, immer weiter zu Gruppen zusammenfassen, sodass schließlich eine einzelne Anspannung mit anschließender Entspannung genügen kann. Zudem ist es möglich, Ruheworte oder -gesten mit der Entspannung zu koppeln: Indem man während des Trainings im entspannten Zustand immer wieder ein bestimmtes Wort denkt oder ein bestimmtes Bild vor Augen hat oder eine Handhaltung einnimmt, kann die Entspannung auf diesen Reiz (Wort, Bild, Haltung) konditioniert werden. Das heißt, man lernt die enge Verknüpfung zwischen Wort, Haltung oder Bild und dem entspannten Zustand, sodass es durch die enge Kopplung beider schließlich genügt, beispielsweise nur noch das Wort zu denken, um in den entspannten Zustand zu gelangen. Die eigentlichen Entspannungsformeln und -techniken sind nicht mehr erforderlich. Insbesondere wenn man diese Wege der Spontanentspannung beherrscht, können Entspannungstechniken auch direkt in akuten Stresssituationen genutzt werden. Dies ist gerade im polizeilichen Alltag eine wichtige Voraussetzung für den praktischen Nutzen von Entspannungstechniken, da man in der Regel nicht einfach die belastende Situation verlassen kann. Ist man durch entsprechendes Training in der Lage, sich durch kurze Instruktionen, Worte oder Gesten zu beruhigen, so hilft dies auch in außergewöhnlichen, belastenden Situationen handlungsfähig zu bleiben.
Unsystematische Verfahren wie sportliche Aktivitäten, Lesen, Sauna, Briefmarken sammeln sind sehr individuell. Entsprechend ist es kaum möglich, empirische Daten über ihre Wirksamkeit zu erstellen bzw. auf den individuellen Einzelfall zu übertragen. Sonnentag (200110) hat untersucht, wie sich verschiedene Freizeitaktivitäten auf das Wohlbefinden auswirken. Dabei ist Wohlbefinden nicht mit Entspannung gleichzusetzen. Entspannung ist definiert als ein „Zustand reduzierter metabolischer, zentralnervöser unbewusster Aktivität“11. Dies führt in der Regel zu Wohlbefinden. Aber auch aktivierende Verhaltensweisen können das Wohlbefinden fördern. So konnte Sonnentag nachweisen, dass arbeitsbezogene Freizeitaktivitäten zu einer Verschlechterung des Befindens führen, soziale Aktivitäten sowie Tätigkeiten ohne Anstrengung bewirken eine teilweise Verbesserung und körperliche, sportliche Beschäftigung eine deutliche Verbesserung des Befindens. Ob eine Aktivität im individuellen Fall zu dem gewünschten Entspannungs- und Ausgleichseffekt führt, hängt auch von der Art der zuvor erlebten Belastung ab. So können nach einem körperlich anstrengenden Arbeitstag insbesondere geistig anregende Tätigkeiten ohne körperliche Anstrengung oder soziale Aktivitäten den richtigen Ausgleich darstellen. Nach einem Arbeitstag dagegen, der mit vielfältigen sozialen Kontakten gefüllt ist, sind eher Beschäftigungen ohne Kommunikationsbedarf sinnvoll.
Insgesamt dienen gut trainierte Entspannungstechniken dazu, Erregungsspitzen in akuten Stresssituationen zu dämpfen und negative Folgen körperlicher Stressreaktionen für die Gesundheit (z. B. Schlafstörungen, Kopfschmerzen …) zu begrenzen.