Er seufzte, als er in dem schaukelnden Zugabteil an seine erste fantastische Leseerfahrung zurückdachte. Neununddreißig war er nun und die Liebe zur Fantastik hatte ihn nie mehr losgelassen. Seit jenem Tag vor achtundzwanzig Jahren hatte er sein ganzes Geld zu Buchhändlern und später zu Antiquaren gebracht, um zu vergessen, zu vergessen, zu vergessen. Sein Leben in diesen Büchern war viel wirklicher als sein Leben in der Welt. Seine Bücher hatten es ihm ermöglicht, über den Tod seiner Mutter hinwegzukommen. Sie war ein halbes Jahr später an den Folgen ihres bizarren Selbstmordversuches gestorben, ohne Albert oder sonst jemanden auch nur ein einziges Mal wiedererkannt zu haben.
Das gleichmäßige Grau des Himmels löste sich zu helleren und dunkleren Wolken auf; Albert versank wieder in seinem Roman. Er las jeden einzelnen Satz so, wie man guten Wein oder gutes Essen genießt. Man weiß, was einen erwartet, und will den Genuss so lange wie möglich währen lassen. Natürlich kam er so kaum mit dem Text voran.
Endlich gelangte er an die Stelle, die er zu Beginn der Reise vor sich hin gemurmelt hatte, übersprang sie und las weiter: »Dunkle drohende Wolken flogen über unseren Häuptern dahin und in der Luft lag eine schwere, drückende Schwüle. Es war, als trennte der Gebirgszug zwei grundverschiedene Atmosphären und als träten wir nun in die der Gewitter.«
Genauso empfand er es. »Ist es noch weit bis Kyllburg?«, fragte er die Runzeldame.
Sie schaute hinter ihrer Zeitschrift hervor. In ihren Augen lagen Vorsicht und eine gelinde Überraschung darüber, dass ihr Gegenüber offenbar einen zusammenhängenden Satz formulieren konnte. »Nein«, sagte sie heiser. »Wir sind gleich da.«
Und wirklich bremste der Zug bereits keuchend und quietschend.
»Ich hielt nun selbst Ausschau nach dem Gefährte, das mich zum Grafen bringen sollte …«
Er klappte das Buch wieder zu, stand auf und steckte es zurück in den Aktenkoffer. Dann nahm Albert seinen bleischweren Reisekoffer herunter und kämpfte sich aus dem Abteil, während er sich murmelnd von seiner Reisegefährtin verabschiedete. Sie gab ihm eine unverständliche, brummende Antwort.
Der Zug hatte tatsächlich eine ganze Stunde Verspätung.
* * *
Auf dem Bahnsteig wartete Paulus, der Chauffeur und Diener des Grafen, geduldig auf die Ankunft Albert Molls. In der bereits einsetzenden Abenddämmerung wirkte der Diener wie eine gewaltige, schwarze Schaufensterpuppe, die reglos auf ihre Belebung wartete. Erst als er Albert bemerkte, kam Leben in ihn. Mit automatenhaften Schritten ging er auf den Anwalt zu und streckte ihm die Hände entgegen.
»Ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen, Herr Moll«, sagte er mit jener lächerlich hohen, in keinerlei Verhältnis zu seinem majestätischen Körper stehenden Stimme, die Albert bereits bei den wenigen Besuchen des Dieners in der Kanzlei belustigt hatte. Er unterdrückte ein Lächeln, setzte Koffer und Aktentasche ab und schüttelte Paulus die Hand. War Paulus sein Vor- oder Nachname? Oder beides? Albert wusste es nicht.
Paulus nahm die Koffer und geleitete seinen Gast durch das kleine Bahnhofsgebäude hinaus auf den Parkplatz, wo der alte, riesige Bentley des Grafen geparkt war. Paulus legte Alberts Gepäck in den Kofferraum, in dessen schwarzer Weite es beinahe verschwand, öffnete dann den Schlag und zwängte sich selbst hinter das große Lenkrad.
Albert lehnte sich in dem bequemen Rücksitz nach hinten und fuhr mit der Hand über das polierte Walnussholz, das an vielen Stellen durch das Leder brach. Dann entschuldigte er sich dafür, dass Paulus wegen der Verspätung so lange am Bahnsteig hatte warten müssen.
»Das macht nichts«, entgegnete Paulus piepsig. »Wir sind ja so froh, dass Sie nun bei uns sind.«
Albert runzelte die Stirn. Froh? Über die Ankunft eines Anwalts? Über Testamentsverhandlungen? Er bemerkte, wie Paulus ihn im Rückspiegel aufmerksam beobachtete. Was mochte ihn in Wahrheit erwarten? Er zitterte leicht vor unfassbarer Vorfreude.
Der Wagen ließ Kyllburg hinter sich, fuhr durch den winzigen Ort Malberg, dessen Schloss auf einer Bergkuppe über dem Ort thronte, tauchte in einen Wald ein, in dem sich schon die Schatten der Dämmerung geballt hatten, und kam schließlich zu einem bewaldeten Kamm, der von der Straße nur an einer einzigen Stelle durchbrochen wurde.
Als sie auf die andere Seite des Kamms gelangten, war es Albert, als sei er in eine fremde, abgeschirmte Welt eingedrungen.
Der Kamm war nichts anderes als der Kegel eines erloschenen Vulkans, der sich in einem fast vollkommenen Rund um Wiesen und ein Dorf schloss, an dessen Rand sich ein Hügel wie ein drohender Zeigefinger erhob. Auf diesem Hügel hockte die Burg mit ihren Türmen und Zinnen wie ein Schatten aus einer anderen Welt.
Ein Abendsonnenstrahl, der zaghaft hinter der aufreißenden Wolkendecke hervorblinzelte, traf eines der hohen, schmalen Fenster des mächtigen Gebäudes – ein goldgleißendes Auge starrte in den Abend und auf den ankommenden Gast.
Sie fuhren am gelben, ausgeblichenen Ortsschild vorbei.
Fangenburg.
2. Kapitel
Albert fragte sich, wie wohl sein Zimmer aussehen mochte. Lag es in einem der Türme oder war es ein hochherrschaftlicher Raum mit einem uralten Himmelbett, einer altersdunklen Holztäfelung und unheimlichen Porträts an den Wänden? Er hatte noch nie auf einer Burg übernachtet.
Der Bentley rollte die Hauptstraße entlang, bog dann nach links in eine kleine Gasse ein und glitt zwischen gedrungenen, weiß gekalkten Häusern hindurch, die sonderbar verlassen wirkten. Wiederum an der linken Seite führte eine schmale Straße bergan und auf das Schloss zu.
Albert war verwirrt, als der Bentley nicht dort hochfuhr, sondern weiter der kleinen Gasse folgte, die geradewegs in das Herz des stillen Dorfes zu stoßen schien. Sicherlich gab es irgendwo eine zweite Auffahrt, die für den schweren Wagen geeigneter war.
Zur Rechten bemerkte Albert eine neugotische Kirche, die für das winzige Dorf viel zu groß zu sein schien. Links neben ihr erstreckte sich ein Platz, unter dessen Linden bereits die Nacht eingekehrt war.
Der Bentley hielt auf diesem Platz, der an der linken Seite von einem zweistöckigen Haus mit eifeltypischen Sandsteineinfassungen um die lichtlosen Fenster begrenzt wurde. Über der modernen, hellen Holztür hing ein neongrelles Schild mit der Aufschrift: Zum Roten Ochsen.
»Ich hoffe, Sie werden hier einen angenehmen Aufenthalt haben«, meinte Paulus und schaltete den Motor aus.
»Bekomme ich kein Zimmer in der Burg?«, fragte Albert mit tiefer Enttäuschung in der Stimme. Er sah im Rückspiegel, wie Paulus lächelte.
»Ich bedaure zutiefst, dass das nicht möglich ist«, gab der Diener zurück. »Wir haben oben auf der Burg nicht die Mittel, es einem Gast Ihres Ranges bequem zu machen. Wir sind nicht auf Besuch eingerichtet.«
»Aber mein Bruder …«
»Auch Ihr Bruder hat noch nie eine Nacht auf der Fangenburg verbracht«, schnitt ihm Paulus das Wort ab. »Seien Sie versichert, dass Sie im Roten Ochsen besser aufgehoben sind.« Der Diener stieg aus und hielt Albert die Tür auf. Es war eine höfliche, zugleich aber auch sehr bestimmende Geste. Als Albert in der kalten Abendluft stand und sich zwischen den Schattenseen des Platzes umschaute, fröstelte ihn. Er schaute hoch zur Burg. Das goldene Fensterauge war erloschen.
Schon hatte Paulus sein Gepäck auf den Platz gestellt. »Der Graf erwartet Sie morgen früh.« Ohne dem Rechtsanwalt die Hand zu geben, stieg er wieder in den Bentley und fuhr davon.
Adieu, Dracula, dachte Albert. Hier endet die Übereinstimmung des Lebens mit dem Traum. Es wäre ja auch zu schön gewesen.
Wie still es hier war. Kein Laut drang an seine Ohren. Kein Hundegebell, keine Kinderstimmen, kein Motorenlärm, kein Hühnergegacker oder Gänsegeschnatter. Er warf einen letzten Blick auf die plötzlich so fern wirkende Burg, wuchtete seufzend den Reisekoffer hoch, nahm mit der anderen Hand den kleinen, schwarzledernen Aktenkoffer auf und tauchte in die Lindenschatten ein.