verengten sich, als wolle sie durch Alberts Panzer hindurchsehen und herausfinden, ob ihn mehr als Geschäftliches mit dem Grafen verband.
Albert stand höflich auf und ergriff ihre Hand, die zart und hart zugleich war. Es durchschauerte ihn. »Ja«, krächzte er und musste sich erst einmal räuspern. Dann stellte er sich mit seinem Namen vor und fügte hinzu: »Ich bin einer seiner Anwälte.«
Die junge Frau sah ihn erstaunt an. Er kannte diese Reaktion. Niemand traute ihm aufgrund seiner durchschnittlichen Erscheinung und seines zurückhaltenden Auftretens einen solchen Beruf zu.
Warum zog sie die Hand nicht fort? Sie blickte ihm tief in die Augen. »Hauptsache, Sie sind nicht einer seiner Freunde«, rutschte es ihr heraus. Jetzt schlängelte sich ihre Hand aus der seinen und legte sich ihr in einer Geste des Erschreckens über den Mund. »Verzeihen Sie, das hätte ich wohl nicht sagen sollen. Mein Mundwerk ist immer das Schnellste an mir.« Sie sah ihn schuldbewusst an.
Albert musste lächeln. Sie erwiderte sein Lächeln und wirkte erleichtert.
»Ich kann Ihnen versichern, dass mein Interesse an dem Grafen nicht über eine reine Geschäftsbeziehung hinausgeht«, sagte Albert. Nun wäre es an ihm gewesen, entsetzt über seine Äußerung zu sein, denn über seinen wichtigsten Klienten durfte er keinesfalls abschätzig sprechen. Sein Bruder wäre fassungslos gewesen, wenn er Albert in diesem Augenblick gehört hätte. Aber der jungen Frau gegenüber hatte er das Gefühl, völlig offen reden zu dürfen. »Sie mögen ihn nicht besonders?«
»Richtig. Niemand im Dorf mag ihn. Er hat keinen guten Ruf hier.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Sie kennen ihn. Dann wissen Sie, dass er etwas unheimlich ist. Und nicht nur das. Er ist böse.« Ihre Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. »Vieles, was man sich über ihn erzählt, ist bestimmt übertrieben, aber für mich wirkt er immer so, als wären selbst die schlimmsten Gerüchte über ihn wahr.« Die junge Frau schlug die Augen nieder und faltete die Hände vor dem Busen zu einem Dach.
»Und was sind die schlimmsten Gerüchte?«
»Zum Beispiel, dass er seinen Bruder umgebracht haben soll.«
Albert sah sie erstaunt an. Ja, Roderich von Blankenstein hatte einen Bruder gehabt, der vor einigen Jahren unter ungeklärten Umständen irgendwo in England gestorben war. Aber niemals wäre Albert auf den Gedanken gekommen, dass Roderich von Blankenstein etwas mit seinem Tod zu tun haben könnte.
Die junge Frau seufzte. »Nehmen Sie das bloß nicht zu ernst! Hier im Dorf gibt es ein paar ziemlich abgedrehte Typen, die sich hauptberuflich solche Geschichten einfallen lassen. Ach, ich rede einfach zu viel. Aber Sie wirken so vertrauenerweckend.« Sie lächelte ihn komplizenhaft an. »Und jetzt sollte ich mich endlich um Ihr Frühstück kümmern. Der Kaffee ist gleich fertig.«
Albert setzte sich wieder.
»Übrigens heiße ich Ilse. Einfach nur Ilse.« Sie ging fort und verließ den Schankraum.
Albert saß da wie vom Schlag gerührt.
Sie hieß Ilse.
Wie die Tochter der Wirtin in Blackwoods Geschichte.
* * *
Der Weg hoch zur Fangenburg lag noch im Schatten der kleinen Häuser, doch der wolkenlose, stahlblaue Himmel versprach einen wunderbaren Frühlingstag. Albert hatte nicht die geringste Lust, zusammen mit dem Grafen an dessen Testament zu arbeiten. Er war nun ganz in der Blackwood-Geschichte versunken. Natürlich war es reiner Zufall, dass die Tochter des Wirtes denselben Namen trug wie die verführerische junge Frau in der Erzählung, doch besonders dieser Umstand erlaubte es ihm, immer tiefer in seinen Fantasien zu versinken, in denen nun kein Platz mehr für einen dämonischen Grafen war.
Ob er wirklich seinen Bruder auf dem Gewissen hatte? Albert fand, dass es ihm durchaus zuzutrauen war. Er musste bis heute Abend durchhalten, dann durfte er wieder seinen neuen Traum leben.
Rechts neben dem großen Holztor in der Burgmauer steckte ein großer, messingfarbener Klingelknopf. Albert drückte ihn zaghaft. Beinahe sofort schwangen beide Torflügel auf und gaben den Blick auf die imposante Burg und den großen Innenhof frei. Albert trat durch das Tor, das sofort hinter ihm mit einem unangenehm endgültigen Geräusch wieder zufiel.
Zur Linken erstreckte sich ein langer, turmbewehrter Flügel, der hinter einem zierlichen, hexenhaubigen Rundturm im spitzen Winkel nach rechts abknickte und in einem massigen Bergfried endete. An ihn schloss sich ein zweiter Bau an, der schon nach wenigen Metern in einem stumpfen Winkel leicht nach innen bog und bis zur Torburg führte. Er begrenzte den Innenhof an der östlichen, zur Bergflanke hin gelegenen Seite. Die gesamte Anlage bildete also ein ungelenkes U, dessen Öffnung die Torburg und die an sie grenzenden Verteidigungsmauern verschlossen.
Der rechte, stumpfwinklige Flügel schien der ältere zu sein; das Quaderwerk wirkte roh und ungelenk zusammengefügt; es war unverputzt und die Fenster waren so schmal wie Schießscharten. Der linke, westliche Flügel hingegen besaß große Spitzbogenfenster. Über allem thronte der gedrungene Bergfried mit seiner hohen, spitzen Schieferhaube.
Hier war es genauso still wie im Dorf. Der lange Bentley war vor dem archaischen Ostflügel geparkt und bildete einen seltsamen Kontrast zu den klobigen, altersdunklen Mauern.
Nun öffnete sich eine hohe Tür im weitaus eleganteren Westflügel. Hinter ihr wirbelten Schatten; niemand war zu sehen. Albert ging auf das Portal zu, über dem heraldische Ornamente in den Sandstein gemeißelt waren. Die ganze Fassade dieses Burgteils zeugte vom Geschmack der Renaissance. Die Umrahmungen der Fenster waren fein modelliert und verloren sich fast in den vielen Säulen, Simsen und Pilastern, die dem großen Bau ein verspieltes, aber auch verwirrendes Aussehen gaben.
Die hünenhafte Gestalt des Dieners schälte sich aus dem Dunkel und trat auf den kleinen Absatz der Freitreppe. Albert stieg die Stufen hoch, warf einen letzten Blick in die Runde und begrüßte Paulus mit einem kräftigen Handschlag. »Fantastisch haben Sie es hier oben.«
»Vielen Dank«, sagte Paulus mit seiner seltsam hohen Stimme. »Der Graf erwartet Sie bereits.« Er schloss das Portal hinter Albert.
Schatten flossen aus allen Ecken in die große, sich über zwei Stockwerke erstreckende Halle, die von hohen, bunt verglasten Kirchenfenstern nur unzureichend erhellt wurde. Es dauerte eine kleine Weile, bis Alberts Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Ein gewaltiger Kamin wurde sichtbar, dazu eine ausladende lederne Sitzgruppe und mehrere Tische. Rechts und links des Kamins führte eine breite Treppe nach oben auf einen Absatz, wo sich ein zweiter Kamin und weitere Sessel befanden. In einer Rückwärtsbewegung kletterten die Treppen weiter hinauf in den ersten Stock.
Paulus geleitete den Rechtsanwalt nicht nach oben, sondern durch einen breiten Korridor mit Kreuzrippengewölbe in die Tiefen des Renaissance-Flügels. An den Wänden lehnten träge Rüstungen; dazwischen hingen altersdunkle Ölgemälde, deren Sujets nur noch undeutlich zu erkennen waren: Bei einigen schien es sich um Porträts zu handeln, bei anderen um fantastische Landschaften. Unter ihnen hockten mittelalterlich wirkende Truhen und Stühle.
Von außen mochte die Burg Ähnlichkeiten mit dem Schloss des Grafen Dracula aufweisen, doch hier drinnen herrschte eine andere, schwerer zu fassende, undeutlichere Atmosphäre, die indes keinesfalls weniger unheimlich war. Sie erweckte in Albert eine bestimmte Erinnerung, die er jedoch nicht zu fassen vermochte.
Seine Schritte und die von Paulus klapperten über den schwarzen Parkettboden einem unausweichlichen Ziel entgegen.
Plötzlich wusste er es.
Der Diener, das Haus, das Parkett, die Spitzbogenfenster und der Name des Hausherrn! Wie hatte Albert es nur vergessen können? Er befand sich mitten im Haus Usher aus der meisterhaften Erzählung Edgar Allan Poes. Hieß der letzte Spross des dekadenten Geschlechts Usher nicht Roderick? Nannte er nicht ein gewaltiges, unheimliches, totes Haus sein Eigen? Doch es war verwahrlost, während die Fangenburg einen tadellosen, höchst gepflegten Eindruck machte. Dennoch: Die Gemeinsamkeiten waren frappierend. Ahmte hier das Leben wieder einmal die Kunst nach – oder vergewaltigte