Michael Siefener

Die magische Bibliothek


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uns speisen. Sie wird Ihnen bestimmt gefallen.«

      Seine Frau, dachte Albert. Er spürte, wie sich auf seinem Rücken eine Gänsehaut bildete.

      Von Blankensteins Frau hatte bei dem schrecklichen Autounfall, der den Grafen seine Bewegungsfreiheit gekostet hatte, neben ihm im Wagen gesessen. Sie war noch auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben.

      * * *

      Der Speisesaal war eines der wenigen Zimmer, die ihm der Graf bei der Besichtigung noch nicht gezeigt hatte. Es war ein kristallblitzender Raum, der zum Innenhof der Burg hin lag und genauso lang und breit wie der Salon war, in dem Graf Roderich seinen Besucher empfangen hatte.

      Der Tisch in der Mitte war gigantisch und bot Platz für mindestens vierzig Personen. Am rechten Ende der Tafel war für drei Personen gedeckt.

      Der Graf rollte an den Kopf und bedeutete Albert mit einer herrischen Geste, er solle sich links neben ihn setzen. Albert nahm schweigend Platz und schaute zuerst durch das hohe Spitzbogenfenster ihm gegenüber und dann auf den leeren, gedeckten Platz. Ihn durchrieselte ein seltsames Gefühl. Wer mochte der dritte Gast bei diesem Mittagessen wirklich sein?

      Paulus war sofort aus dem Speisesaal geeilt, nachdem der Graf und sein Besucher sich gesetzt hatten.

      »Sie werden mit der Speisenfolge zufrieden sein, hoffe ich«, meinte der Graf und steckte sich die Serviette in den Hemdausschnitt. Dann hielt er wieder einmal den Kopf schief und schien angestrengt auf etwas zu lauschen. Kurz grinste er Albert an.

      Albert hörte, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde. Ein leiser, kalter Luftzug wehte herein. Ein Hauch wie aus einem Grab. Das Parkett knarrte nur ganz leicht, als jemand auf den Tisch zuging. Albert zwang sich, nicht den Kopf zu drehen; er wollte nicht neugierig wirken.

      Dann ging sie um den Grafen herum, berührte ihn leicht an der Schulter und setzte sich schweigend an ihren Platz.

      Die Gräfin von Blankenstein.

      Die verstorbene Gräfin von Blankenstein.

      Albert spürte, wie ihm Schweißperlen von der Stirn fielen. Ein seltsames, halb angenehmes, halb erschreckendes Gefühl durchwühlte seinen Magen. Er hatte die Gräfin nie gesehen, aber er hatte von ihrer Schönheit gehört.

      Und die Frau ihm gegenüber war in der Tat wunderschön.

      Und leichenblass.

      »Ich freue mich, dass du es einrichten konntest, mit uns zu Mittag zu essen«, sagte der Graf aufgekratzt und warf seiner Frau seltsame Blicke zu. »Darf ich dir unseren Gast vorstellen? Herr Rechtsanwalt Moll.«

      Albert erhob sich linkisch und reichte der Gräfin die Hand über den Tisch. Die Gräfin stand ebenfalls auf. Sie lächelte ihn spöttisch an und verneigte sich leicht, ergriff seine Hand aber nicht. Dann trat Paulus ein und servierte die Suppe.

      Während Albert seine Champignoncremesuppe löffelte, warf er immer wieder verstohlene Blicke auf die Gräfin. Es musste eine natürliche Erklärung geben. Vielleicht war sie damals gar nicht gestorben. Vielleicht hatte sie sich von ihren furchtbaren Verletzungen erholt. Sie war so erstaunlich jung, viel jünger als der Graf. Damals, zur Zeit des Unfalls, musste sie noch ein halbes Kind gewesen sein.

      »Was starren Sie meine Frau so an?«, erboste sich der Graf und richtete den Blick auf seinen Gast. Albert fuhr zusammen. Sein Löffel platschte in die Suppe.

      »Verzeihen Sie, aber ich … ich hatte nicht …« Albert schaute vom Grafen zur Gräfin. Die junge Frau schenkte ihm ein seltsames Lächeln, das nicht ganz frei von einer gewissen Unzüchtigkeit war. Gerade dies verwirrte ihn noch mehr.

      »Bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten bei meiner Frau landen!«, fuhr ihn der Graf an. »Glauben Sie bloß nicht, dass das kleine Biest verschmachtet. Sie sind bestimmt der Meinung, ich könnte es ihr nicht mehr besorgen, was? Pah! Ich krieg immer noch mehr zustande als Sie! Paulus! Den Hauptgang!«

      Albert empfand die Situation als unendlich peinlich. Was war der Graf bloß für ein Mensch! Wie hatte Albert ihn je mit Roderick Usher, jenem gebildeten, feinen, überkultivierten Mann aus Poes Geschichte vergleichen können? Er wünschte sich nur noch, seine Arbeit mit diesem viehischen Individuum so schnell wie möglich abschließen und wieder nach Hause fahren zu können. Seine Träume und Fantasien waren zerstoben.

      Der Hauptgang bestand aus einem vorzüglichen Wildschweinbraten und selbst gemachten Kartoffelkroketten. Paulus war in der Tat ein ausgezeichneter Koch. Doch so recht wollte Albert das Festessen nicht schmecken. Immer wieder spürte er die forschenden und saugenden Blicke der Gräfin auf sich ruhen. Die Gräfin … es gab keine Gespenster! Vor allem saß er in diesem Augenblick keinem Gespenst gegenüber, auch wenn die junge Frau sehr blass aussah und schwarze Ringe unter den Augen hatte wie von einer zu langen Nacht. Abgesehen davon war sie eine große Schönheit, jedoch mit einem winzigen Stich ins Gewöhnliche, wie er fand.

      Er fasste sich ein Herz. »Es ist schön, dass Sie uns Gesellschaft leisten, gnädige Frau …«

      »Was bilden Sie sich ein, unaufgefordert mit meiner Gattin zu reden, Sie Schnösel!«, giftete ihn der Graf an und schenkte ihm einen vernichtenden Blick. In diesem Moment hätte Albert eine Menge für den Panzer einer Schildkröte gegeben, in den er sich zurückziehen könnte. Was war dieser Mann doch für ein Ekel. Wie kam er nur zu einer so schönen, jungen Frau? Warum sagte sie kein Wort?

      Ihre Bewegungen waren wie im Traum: langsam, fließend, unsicher. Je länger Albert sie ansah, desto verwirrter wurde er, desto stärker keimte in ihm der Wunsch, sie anzufassen, nur um festzustellen, ob sie wirklich aus Fleisch und Blut war.

      Die junge Frau aß kaum etwas; sie legte das Besteck zur Seite und sah durch Albert hindurch. Und auch er hatte bald das Gefühl, als könne er durch sie hindurchsehen und hinter ihr verschwommen das Fenster und den Burghof erkennen. Er hielt den Atem an. Seine Hände zitterten. Aber war es nicht das, was er sich immer gewünscht hatte: einem Gespenst zu begegnen? Nein, nicht … nicht so.

      Er hielt sich an der Nachspeise fest. Noch immer sagte die junge Frau kein Wort.

      Da kam ihm ein Gedanke.

      Er bemerkte, wie seine Hände ruhiger wurden und der Löffel nicht mehr zitterte, wenn er ihn mit Schokoladenpudding gefüllt an den Mund führte. Natürlich! Wie hatte er nur so närrisch sein und an ein leibhaftiges Gespenst glauben können! Selbstverständlich war die junge Dame ihm gegenüber die zweite Frau des Grafen. Er hatte nach dem Tod der ersten Gemahlin einfach wieder geheiratet! Bestimmt liebte die junge Gräfin das Leben in Luxus, auch wenn es hinsichtlich gewisser körperlicher Bedürfnisse offenbar Probleme gab, denn sonst hätte ihn der Graf nicht so angefahren. Nun, das ging Albert nichts an. Er lächelte breit.

      »Warum grinsen Sie wie ein Honigkuchenpferd?«, raunzte ihn der Graf an.

      »Oh, Verzeihung, mir war gerade ein Gedanke gekommen …«

      »Das ist natürlich etwas anderes. Bei einem so seltenen Ereignis muss man ja einfach die Fassung verlieren«, meinte der Graf und grinste nun seinerseits den Anwalt an.

      Nur weg von hier! Wie hatte ihm sein Bruder so etwas antun können? Albert hätte allerdings damit rechnen müssen, denn sein Bruder hatte ihm noch nie etwas Gutes erwiesen. Wenn doch nur das Testament schon aufgesetzt wäre.

      »Ich sehe, Sie sind mit dem Essen fertig«, sagte der Graf grob. »Gehen Sie schon mal in die Bibliothek; sie liegt genau gegenüber dem Speisezimmer. Ich mache erst ein Nickerchen. Fühlen Sie sich zwischen den alten Scharteken ganz wie zu Hause. Nun gehen Sie schon!«

      Albert stand auf; Wut und Erleichterung hielten sich bei ihm die Waage. Er schenkte der jungen Gräfin einen absichtlich langen Blick und verneigte sich vor ihr, sagte aber nichts. Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Paulus, der diskret bei der Tür gewartet hatte, öffnete ihm und schloss dann das zweiflügelige Portal wieder. Albert hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Warum ließ sich der Graf im Speisezimmer einschließen?

      Albert schüttelte den Kopf, schritt quer durch den Korridor und stieß die Tür gegenüber dem Speisezimmer