wie der angrenzende Salon. Jeder verfügbare Raum war von der Decke bis zum Fußboden mit eingebauten Regalen bedeckt; manche davon waren verglast, manche besaßen Gittertüren. Die Fenster waren mit Regalen umbaut; unendlich fern und tief kauerte das Dorf.
Das Heer der Bücher wartete geduldig. Lederrücken, Goldprägungen, Pergamentbände, Kostbarkeiten über Kostbarkeiten. Wahllos nahm Albert einige Bände aus den Regalen. Es waren reich illustrierte Kräuterbücher, Ansichtenwerke mit unzähligen Stahlstichen, Klassikerausgaben, kulturgeschichtliche und theologische Werke.
Bücher ohne Geheimnis.
Albert verspürte nach der ersten Atemlosigkeit eine gelinde Enttäuschung. Die Bibliotheken in den Büchern, die er so liebte, enthielten zumeist dunkle Rätsel: Bücher über zauberische Riten, Geisterbeschwörungen und Teufelsanbetungen. Solche Bücher waren seine große Leidenschaft. Er selbst besaß kein einziges dieser düsteren Gattung und wusste natürlich, dass es die meisten derartigen Werke, die in seinen geliebten fantastischen Erzählungen vorkamen, nicht wirklich gab, doch in seinen Fantasien stellte er sich oft vor, wie es sein mochte, wenn er irgendwo – nie dachte er sich dafür einen konkreten Ort aus – eine solche magische Bibliothek finden würde. Dies war ein Traum, in dem er stundenlang schwelgen konnte. Er durchblätterte die vor verbotenem Wissen strotzenden Folianten, zog geheime Kenntnisse aus ihnen, mit denen er seiner Umwelt die Stirn bieten konnte, rettete diese Bücher aus irgendeiner unterirdischen Halle, reihte sie in die heimische Bibliothek ein, katalogisierte sie und begann den Traum von Neuem. Er war unausträumbar.
Auf den ersten Blick hatte die Bibliothek des Grafen ihm jene Wunder versprochen, nach denen er sich schon immer gesehnt hatte. Warum konnte er nicht einmal für kurze Zeit der versponnene Wissenschaftler sein, der nach vergessenem Wissen forschte, so wie H. P. Lovecraft ihn unzählige Male beschrieben hatte? Warum fand er nicht das Mysterium Arcanum aus der Erzählung Das Grimoire des Reverend Montague Summers? Warum entdeckte er nie Bücherhorte wie jene, in denen das ungeheuerliche Werk Thomas Ligottis lauerte, das den Weg nach Vastarien eröffnete? Warum war diese Bibliothek nicht wie die des Roderick Usher mit all ihren Merkwürdigkeiten und Bizarrerien?
Goethe und Schiller, Herder und Wieland, Kotzebue und Raimund. Wo war das Geheimnis? Eine kindische Frage, natürlich.
Doch in einer unverschlossenen Vitrine entdeckte Albert nach kurzer Suche einige Bände, die sein Herz höher schlagen ließen. Es waren Bücher über Geistererscheinungen.
Das Nonnengespenst von Gehofen, anonym.
Die Gewissheit der Geister, von Baxter.
Das Gespenst von Annaberg, von Zobel.
De Spectribus, von Lavater.
Und vieles mehr.
Gespenster. Sofort stürmten alle Fragen, die Albert während des Essens gequält hatten, zurück. Hatte er tatsächlich einem Gespenst gegenübergesessen? Da hatte er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben eine Berührung mit dem Unerklärlichen gehabt, und wie hatte er darauf reagiert? Er war geflohen. Aber sehnte er sich wirklich nach einer solchen Berührung? Sie war schließlich etwas völlig anderes als seine papiernen, ungefährlichen Träume. Und wenn die junge Gräfin nun doch …
Verunsichert durchblätterte er die kleinen Gespensterbüchlein. Dabei fiel ihm ein Umstand besonders auf. Nur äußerst selten waren die wiederkehrenden Toten mit der Gabe der Rede gesegnet; meistens blieben sie stumm.
Wie die Gräfin.
Sie hatte während des ganzen Essens kein Wort gesagt. Sie hatte bei der Begrüßung nicht einmal seine Hand ergriffen.
Albert fühlte sich, als werde ihm der Boden unter den Füßen fortgezogen. Er musste einfach Gewissheit haben. Mit einer entschiedenen Bewegung legte er das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, aus der Hand und ging hinaus auf den Korridor. Gerade als er an die Tür zum Speisezimmer klopfen wollte, hörte er hinter ihr seltsame Geräusche herausdringen.
Es war ein Keuchen und Ächzen, das merkwürdig erstickt klang. Ganz eindeutig war es die Stimme des Grafen. Sonst war niemand zu hören. Schon hatte Albert die Hand auf die Klinke gelegt, denn er befürchtete, dass dem Grafen unwohl war und er der Hilfe bedurfte. Behutsam drückte er die Klinke herunter.
Die Tür war noch immer abgeschlossen.
Jetzt nahm das erstickte Keuchen an Intensität zu. Etwas daran verwirrte Albert. Es war kein angstvolles oder schmerzgeborenes, sondern ein höchst ekstatisches Keuchen. Angewidert ließ er die Klinke los und lief zurück in die Bibliothek. Er ließ sich in einen der ledernen Sessel fallen und hielt sich die Ohren zu. Was für schreckliche Laute! Aber wie … Der Graf war doch gelähmt … Nein, er musste sich verhört haben. Doch er wollte nicht noch einmal hinaus auf den Korridor gehen. War es überhaupt die Stimme des Grafen gewesen? Hätte es nicht jemand anderes sein können – oder etwas anderes?
Um sich abzulenken, durchwühlte er weiter die Bibliothek.
Schließlich entdeckte er einen Quartband, der in einer fernen Ecke des Raumes ein wenig aus der abgezirkelten Reihe der Buchrücken hervorstand, als warte er nur darauf, entdeckt zu werden. Albert nahm ihn mit zu seinem Sessel und schlug ihn auf.
Natürlich war es nur ein Zufall. Einer der vielen Zufälle, die seit gestern sein Leben durchzogen wie Krebs einen sterbenden Körper. Hatte er sich nicht sein ganzes, kümmerliches Leben lang nach solchen Zufällen gesehnt?
Es war ein lateinisches Buch und trug den Titel: Vigiliae mortuorum secundum eccl. Moguntiae …
Jenes unsagbar seltene und wertvolle Buch, das die Lieblingslektüre des Roderick Usher gewesen war.
In diesem Augenblick flog die Tür zur Bibliothek mit einem Knall auf und der Graf rollte in das Zimmer.
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