niedrigen Fenster an der Platzseite drangen, gaben Albert bloß eine Ahnung gedrungener, labyrinthischer Balken, etlicher Tische und Stühle und einer breiten Theke.
Er stellte sein Gepäck ab und rief: »Hallo?«
Niemand antwortete ihm.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Zwielicht. Die Tische waren poliert und hatten keine Decken; auf jedem stand eine kleine Vase mit frischen Blumen. Balkenkonstruktionen bildeten Nischen um einige der Tische und verwirrten die Konturen des Raumes zu einem hölzernen Irrgarten.
»Hallo?« Sollte das ein Witz sein? Hatte man ihn als Zielscheibe für eine Posse auserkoren? Es wäre nicht das erste Mal in seinem Leben. Albert spürte, wie jegliche Gefühle von Freude und Wunder aus ihm abflossen und einer verzweifelten Wut Platz machten. »Ist denn hier niemand?«
Ein Lichtspalt erschien neben der Theke und warf einen hellen, sich rasch verbreiternden Balken auf den Boden. Eine gedrungene Gestalt erschien im Türdurchgang. Sie machte einen Schritt in den Schankraum hinein, dann blieb sie stehen.
»Hallo, Sie da!«, rief Albert. Er rührte sich nicht von der Stelle. »Hier ist offenbar ein Zimmer für mich bestellt worden. Albert Moll ist mein Name. Sind Sie der Wirt?«
Wie ein Blitz sprang Licht ihn an. Die Gestalt hatte die Beleuchtung eingeschaltet. Schatten flohen mit leisem Gewisper. Langweilige Formen und Farben ordneten sich zur Alltäglichkeit einer Dorfkneipe.
»Moll?«, fragte die Gestalt mit tiefer, heiserer Stimme und glitt hinter die Theke. Albert hörte, wie ein Buchdeckel aufgeschlagen wurde und Papier raschelte. »Albert Moll? Ein Zimmer, bestellt vom Grafen. Ja. Hier ist der Schlüssel.«
Es klapperte auf der Theke.
Albert nahm seine beiden Koffer auf und stellte sie vor dem Tresen wieder ab. Der alte Mann dahinter trug einen fleckigen Pullover, aus dem viele Fäden hervorlugten; er war unrasiert; seine grauweißen Bartstoppeln erinnerten an ein abgeerntetes Feld. Die Lippen waren eingefallen; offenbar hatte der Mann keine Zähne mehr im Mund.
Er sah Albert mit forschendem Blick an. »Aus der Stadt, nicht wahr? Sie haben das schönste Zimmer. Gleich unter dem Dach. Gemütlich und groß. Wird Ihnen gefallen. Nummer 14.« Er schob Albert den Schlüssel entgegen. »Nehmen Sie ihn mit, wenn Sie heute Abend noch ausgehen. Obwohl ich nicht wüsste, wo Sie hingehen sollten.«
»Kann ich bei Ihnen ein Abendessen bekommen?«
»Wir haben heute Ruhetag.«
»Gibt es hier am Ort noch ein anderes Restaurant?«
»Nein.«
»Und was soll ich jetzt machen?« Alberts Wut kochte höher.
»Auf das Frühstück warten. Gibt’s morgen früh ab sieben. Sie sehen nicht so aus, als würden Sie in der Zwischenzeit verhungern.« Er starrte seinen Gast frech an.
Sollte Albert es diesem verlotterten Alten mit gleicher Münze heimzahlen? Nein, das war es nicht wert. Er würde eine oder zwei Nächte hier verbringen und dann diesem Ort den Rücken kehren für immer und ewig. »Wo ist die Treppe nach oben? Einen Fahrstuhl haben Sie ja wohl nicht, oder?«
»Einen Fahrstuhl für zwei Etagen? Unsere Gäste sind normalerweise noch so rüstig, dass sie ihr Gepäck zu Fuß raufbringen können. Die Treppe ist da hinten.« Er zeigte auf eine Tür rechts neben der Theke; dann verschwand er ohne ein weiteres Wort hinter der Tür, durch die er gekommen war.
Albert schleppte sich ächzend mit seinem schweren Reisekoffer ab. Auf der schmalen, steilen Treppe wäre er beinahe gestürzt, konnte sich aber gerade noch am Geländer festhalten. Schließlich stand er in einem fensterlosen Gang, der wie ein schwarzer Schlauch ins Nichts zu führen schien. Albert tastete nach einem Lichtschalter. Als er ihn endlich gefunden hatte, quälte sich das kranke Licht einer Energiesparlampe durch den Korridor, von dem nur drei Türen abzweigten. Nr. 14 war das letzte Zimmer. Resigniert schloss Albert die Tür auf, schaltete das Licht dahinter ein und sah sich um.
Der Raum machte einen geräumigen, sauberen und frischen Eindruck; er passte keinesfalls zu der Erscheinung des verwahrlosten Wirtes. Die beiden Gaubenfenster besaßen gerüschte Gardinen; die Bettwäsche war vom selben Stoff; der alte Schreibtisch unter dem rechten Fenster hatte eine Schreibunterlage aus grünem Leder und am Schlüssel des verspiegelten Kleiderschrankes baumelte ein Lavendelsäckchen.
Albert wuchtete den Reisekoffer auf das Bett, das kaum nachgab. Den Aktenkoffer legte er daneben und verließ das Zimmer. Er musste nach draußen, an die Luft, musste ein paar Schritte gehen, um Ordnung in seine Gedanken und Wünsche zu bringen.
* * *
Das Licht in der Schankstube war bereits wieder ausgeschaltet. Albert durchquerte den Raum an der verlassenen Theke und den Balkennischen entlang und trat nach draußen in den Frühlingsabend.
Die Sonne war bereits hinter dem Kraterrand versunken; die Bäume des kreisförmigen Bergkamms stachen wie Nägel in den tiefblauen Himmel. Alle Wolken hatten sich verzogen. Albert ging die Gasse zurück, durch die Paulus ihn gefahren hatte, und bog dann nach rechts in die steil ansteigende Straße ein, von der er vermutete, dass sie zur Burg führte.
Die Häuser rechts und links wirkten verlassen; kein Lichtschein drang aus ihren Fenstern. Niemand war auf der Straße zu sehen; nicht einmal ein Hund bellte, als Albert sich den Berg hochkämpfte. Er war nicht gerade leichtgewichtig und schwitzte stark, als er endlich die Hügelkuppe erreicht hatte. Der Torbau des Schlosses erhob sich zu seiner Linken; er war genauso tot und abweisend wie all die anderen Häuser. Zwischen zwei zinnenbewehrten Türmen steckte ein uraltes Holztor, das nicht den geringsten Ausblick auf die Burg dahinter freigab. Lediglich die hexenhutartigen Schieferdächer einiger Rundtürme ragten hinter den Mauern so hoch in den Himmel, dass sie auch vom Tor aus zu sehen waren.
Albert war traurig, nicht innerhalb dieser Mauern logieren zu dürfen. Er war traurig, dass sein Dracula-Traum zerstoben war. Aber was hatte er denn erwartet? Früher oder später mussten all seine Fluchten an der Wirklichkeit zerschellen. War es eigentlich nicht genau das, was er wollte? Was wäre denn, wenn er plötzlich einen Schritt hinter die Wirklichkeit machte und mitten in eine seiner papiernen Fantasien stolperte? Was wäre, wenn er keine Rückzugsmöglichkeit mehr hätte, wenn er selbst in eines der Bücher geriete, die er über alles schätzte, und deshalb nicht mehr einfach den Band zuklappen konnte, um seine Geister zu bannen? Ihn fröstelte.
Er wandte sich von der Burg ab und war erstaunt, dass die Straße hier oben keineswegs zu Ende war. Sie verengte sich zu einem unasphaltierten Weg und verlief über einen schmalen Grat, der den Burghügel mit dem kreisförmigen, bewaldeten Kraterrand verband. Eine kleine Wandertafel kurz vor dem Grat zeigte einige Rundwege. Sie zerstörte mit ihrer spießigen Normalität die letzten Wunderreste, die noch in der kühlen Abendluft um die Mauern der alten Burg gelagert hatten.
Albert hatte keine Lust, jetzt schon zum Roten Ochsen zurückzukehren; also betrat er den Gratweg.
Der Pfad wurde von einigen Fichten gesäumt, zwischen denen man nach rechts und links einen beunruhigenden Blick auf den Grund des Kratertals hatte. Der Weg schien in der Luft zu schweben wie eine Hängebrücke über einem geheimnisvollen Urwaldtal. Albert hätte sich kaum gewundert, wenn der Boden unter ihm plötzlich zu schwanken begonnen hätte.
Doch er blieb fest und unbewegt und rasch hatte Albert die enge Schlucht überquert. Der Kamm dahinter war viel breiter, als es von unten den Anschein gehabt hatte. Der bequeme Weg verlief zunächst auf der Kammhöhe, dann führte er ein Stück weit abwärts und schmiegte sich an die Bergflanke.
Albert blieb bald stehen. Der Himmel wechselte langsam von Dunkelblau zu Schwarz. Schon sah er das Funkeln der ersten Sterne über den Wipfeln. Es war zu gefährlich, in diesem Düster weiterzugehen; wie schnell konnte er sich den Knöchel verstauchen oder gar einen Fehltritt machen!
Da bemerkte er neben sich in der Bergflanke ein aufklaffendes Gittertor. Zuerst hatte es im ungewiss gewordenen Licht wie Gestrüpp ausgesehen, doch als Albert näher heranging, entdeckte er, dass sich hinter dem spärlichen Unterholz eine Grotte oder gar eine Höhle in den