Michael Siefener

Die magische Bibliothek


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faszinierten Albert. Man konnte sich in ihnen so vieles vorstellen, wenn man sie nicht allzu eingehend untersuchte. Er erinnerte sich an die unzähligen Höhlen und Tunnelsysteme, die das Werk Howard Phillips Lovecrafts durchzogen, und an die grausigen Geheimnisse, die diese lichtlosen Kavernen bargen. Ein wohliger Schauer durchrieselte ihn. Dracula war vergessen. Er machte einen Schritt in die Höhle hinein.

      Dunkelheit sprang ihn an. Es war, als sei er vom einen Augenblick auf den anderen erblindet. Beißende Gerüche stiegen ihm in die Nase: Erbrochenes, Exkremente. Nach ein paar weiteren Schritten drehte er sich um.

      Der Höhlenausgang war kaum mehr zu erkennen.

      Hinter ihm raschelte etwas.

      Er wirbelte wieder herum und blinzelte in die Finsternis. Das Rascheln hörte auf; einige Minuten herrschte völlige Stille, doch dann setzte ein schabendes Geräusch ein.

      Es kam auf ihn zu.

      Es klang wie etwas Großes, das über den Boden schleifte. Wie etwas sehr Großes.

      Albert floh nach draußen. Hinter dem offenen Gitter hielt er kurz an. Das Geräusch war verstummt.

      Inzwischen hatte samtene Schwärze die letzten Reste des Tages geschluckt. Albert konnte kaum mehr etwas sehen. Er ertastete sich seinen Weg zurück und ging so vorsichtig, als wandle er über dünnstes Eis. Langsam beruhigte er sich wieder. Bestimmt hatte er nur ein Tier in dieser Höhle aufgescheucht, das mindestens genauso viel Angst gehabt hatte wie er selbst.

      Nein, dort in den Eingeweiden des Berges war er seinen Träumen zu nahe gekommen; das spürte er. Es war besser, die Fantasie über die Wirklichkeit zu stülpen und nicht die Fantasie mit der Wirklichkeit zu erschlagen.

      Er fand den Gratweg wieder. Hier war er besonders vorsichtig; schließlich wollte er keinen Absturz riskieren. Trotzdem kam er einmal dem Abgrund gefährlich nahe. Sein Fuß fand keinen Halt mehr und er geriet ins Trudeln. Rasch klammerte er sich an eine der Fichten und verhinderte so in letzter Sekunde seinen Fall in die Tiefe. Seine Beine wurden weich und gaben nach. Mit klopfendem Herzen setzte er sich auf den Boden des Pfades.

      Bald hatte er sich wieder beruhigt und setzte seinen unsicheren Weg fort. Er war froh, als er endlich die Torburg sah. Eine vereinzelte Laterne brannte vor ihr und tauchte einen Teil der Mauern in hartes, unwirkliches Licht, während der Rest in der Dunkelheit verdämmerte.

      Albert spürte wieder den unnachgiebigen Asphalt unter den Füßen und war dankbar dafür. Dieser abendliche Ausflug war eine große Dummheit gewesen. Nun sollte er sich auf sein Zimmer begeben und den Tag bei einem guten Buch ausklingen lassen. Morgen erwartete ihn schließlich wichtige Arbeit auf der Burg des Grafen.

      Er hasste den Grafen.

      Roderich von Blankenstein hatte bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen er samt seinem Diener Paulus die Kanzlei besucht hatte, einen äußerst ungünstigen Eindruck auf Albert gemacht. Solange der Graf bei diesem Abenteuer für Albert die Rolle Draculas eingenommen hatte, war er nicht gezwungen gewesen, sich mit der wahren Person Blankensteins auseinanderzusetzen. Doch jetzt, da seine Fantasie zerfallen war, grinste ihn unter der verführerisch teuflischen Maske das bacchantische, hässlich hämische Gesicht des Grafen an, dem er morgen früh gegenübertreten musste. Albert wusste, dass der Graf nichts von ihm und seinen bescheidenen juristischen Fähigkeiten hielt. Warum war er damit einverstanden gewesen, dass Albert diesen Auftrag ausführte? Und warum hatte Paulus bei der Herfahrt gesagt, man sei froh, Albert hierzuhaben? Verbarg sich unter den Trümmern seiner Träume tatsächlich noch ein anderes, realeres Geheimnis?

      Als Albert in das dunkle Dorf hinunterging und von einer Pfütze aus Laternenlicht in die nächste trat, wusste er plötzlich, woran ihn seine Situation nun entfernt erinnerte. Es gab eine Geschichte des begnadeten englischen Fantasten Algernon Blackwood, deren Titel in der deutschen Übersetzung enigmatisch … à cause du sommeil et à cause des chats lautete. Ein Reisender steigt in einem ihm unbekannten kleinen Städtchen aus, bezieht dort ein Zimmer im einzigen Gasthaus und gerät in einen Strudel äußerst rätselhafter und gefährlicher Ereignisse. Konnte der Rote Ochse nicht dieses Gasthaus sein? Albert ging schneller.

      Voll neu gefasster Freude lief er durch das schweigende Dorf, hastete über den Kirchplatz und zur Tür des Roten Ochsen. Er sperrte sie mit seinem Schlüssel auf, fand einen Lichtschalter, stieg nach oben unters Dach, betrat sein Zimmer und packte den Reisekoffer aus, der so schwer gewesen war, weil er eine kleine Bibliothek enthielt.

      Albert stellte die Bücher in einer Reihe auf den Schreibtisch und ließ den Blick über die verheißungsvollen Rücken gleiten. Das Buch der Stunde war schnell gefunden: Blackwoods Band Das leere Haus, erschienen in der legendären Bibliothek des Hauses Usher, herausgegeben von dem nicht minder legendären Kalju Kirde, gedruckt auf parfümiertes, grünes Papier. In diesem Buch befand sich die Erzählung, die Albert Moll gesucht hatte. Er setzte sich in den weichen Ledersessel neben dem Schreibtisch und begann mit der Lektüre.

      Er versank in ihr und in den Gemeinsamkeiten mit seiner persönlichen Situation.

      Da war von einem Zimmer im Gasthaus die Rede, von dem aus der Protagonist einen Blick über die schiefen Dächer des Ortes hatte. Albert drehte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Er sah nur die von der Nacht geschwärzten Linden und dahinter eine Ahnung der riesigen neugotischen Kirche und einiger Häuser, doch für ihn war dieser Ausblick wie jener in der Erzählung. Selbst die außergewöhnliche Stille des Ortes stimmte überein. Und der Wirt des Roten Ochsen war durchaus mit jener alten Wirtin in der Geschichte vergleichbar. Albert schnurrte wie eine zufriedene Katze und las weiter.

      Er hatte sich recht erinnert.

      Es war auch eine Liebesgeschichte. Sein Herz schlug ein ganz klein wenig schneller.

      Die Wirtin hatte eine wunderschöne Tochter, welche den Reisenden verführte, er sollte sie zum Hexensabbat begleiten.

      Ob auch der Wirt des Roten Ochsen eine Tochter hatte?

      Albert schüttelte den Kopf. Warum sollte ihn das interessieren? Seit Inge hatte er das Verlangen nach der Damenwelt verloren. Es war schon sechs Jahre her, doch die Kränkungen und Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatte, waren noch lange nicht vergessen. Nein, er sehnte sich nicht mehr nach Liebe. Nie wieder!

      Die Stille seines Zimmers wurde gestört.

      Eine Diele knarrte auf dem Flur. Jemand stand dort, dessen war Albert sich plötzlich sicher. Lauschte jemand an seiner Tür? Er legte das Buch zur Seite, stand auf und versuchte, leise zur Tür zu gehen, doch bei jeder Bewegung knarrte der Boden. Er hörte, wie draußen auf dem Korridor hastige Schritte fortliefen. Rasch zog er die Tür auf und spähte hinaus.

      Es war dunkel auf dem Flur und nun befand sich dort niemand mehr.

      Doch er hatte etwas gesehen.

      Es war die Gestalt einer Frau gewesen, die rasch auf der nach unten führenden Treppe verschwunden war. Er lauschte eine Weile ihren verklingenden Schritten, bevor er zurück zu seinem Buch ging. Er las mit noch größerer Aufmerksamkeit und größerem Freudenschauer weiter.

      Und mit größerer Beklemmung.

      3. Kapitel

      Seine nächtlichen Träume waren ganz nach seinem Geschmack gewesen. Es dauerte ihn, sie verlassen zu müssen, als am Morgen der Wecker rasselte und ihn aus dem Schlaf riss. Rasch machte er Morgentoilette, zog sich an und ging hinunter zum Frühstück. Er war der einzige Gast. Ein Tisch in der Nische vor einem Fenster war für ihn gedeckt. Albert setzte sich und wartete auf den Wirt.

      Er kam nicht. Dafür stand plötzlich, als habe sie sich gerade erst materialisiert, eine junge, schwarzhaarige Frau hinter dem Tresen. Albert war sich sicher, dass sie bei seinem Eintreten noch nicht dort gewesen war. Mit verzehrender Macht kehrte die Erinnerung an Algernon Blackwoods Geschichte zurück.

      Die junge Frau kam mit geschmeidigen Bewegungen auf seinen Tisch zu und streckte zur Begrüßung die Hand aus. »Mein Vater hat mir gesagt, dass Sie gestern Abend angekommen sind«, meinte sie mit einer hellen, weichen Stimme,