einer Sanftheit, die schlecht zu seiner riesenhaften Gestalt zu passen schien, eine Tür am Ende des Korridors und meldete den Rechtsanwalt. Nun galt es. Nun konnte Albert dem Grafen – und der Wirklichkeit – nicht mehr ausweichen.
»Ah, Moll!«, dröhnte es aus der Ferne des riesigen Saales. »Kommen Sie näher!«
Albert trat ein; die Tür wurde hinter ihm sacht geschlossen. Zuerst war er von diesem Zimmer so überwältigt, dass er den Urheber der Stimme nicht sofort erkannte. Vier hohe, klarverglaste Spitzbogenfenster gingen auf das Dorf hinaus und wurden von ungeheuren, blutroten Damastvorhängen eingefasst. Zwischen den Fenstern und an allen anderen Wänden hingen unzählige Bilder in schweren, dunklen Goldrahmen. Dicke Teppiche bedeckten hier das Parkett; zwei Kamine an den Stirnseiten reichten über die ganze Breite des Raumes. Sessel, Sofas und Stühle standen scheinbar wahllos verteilt überall herum, doch wenn man genauer hinsah, bildeten sie Gruppen und Muster. Zwischen den beiden mittleren Fenstern hockte ein ausladender Schreibtisch mit kühn geschwungenen Beinen, die den Eindruck erweckten, als könnten sie jederzeit losspringen.
»Ich hoffe, Sie sind gut untergebracht, Moll.«
Die Stimme kam vom Schreibtisch her. Erst jetzt bemerkte Albert den kleinen Mann, der hinter dem polierten, zum Sprung bereiten Holz kauerte.
»Vielen Dank«, antwortete Albert und ging auf den Schreibtisch zu.
Graf Roderich von Blankenstein glitt um das Möbel herum und rollte vor den Rechtsanwalt.
Einen größeren Kontrast zum aristokratischen, schmalgliedrigen, leichenblassen Roderick Usher konnte es kaum geben. Der Graf war dick, klein, ungeschlacht, hatte grobe Gesichtszüge, die ihn eher wie einen Metzger als wie einen Adligen wirken ließen, und einen fast völlig kahlen, gewaltigen Kopf, dessen Röte an manchen Stellen ins Bläuliche hinüberspielte. Die fleischige Nase wucherte vor wie ein Geschwür.
Und er saß im Rollstuhl.
Albert streckte die Hand aus; der Graf ergriff sie kurz und drückte sie mit großer Kraft. Als er sie losließ, hatten sich rote Striemen in Alberts Haut eingegraben.
»Setzen Sie sich, Moll.«
Albert hasste diese Anrede. Es klang, als sei er noch immer ein linkischer Schüler. Doch er gehorchte und nahm in einem der englischen Ledersessel Platz. Er sank so tief in das knarrende Polster ein, dass sein ganzes Blickfeld plötzlich nur noch aus apfelgrünem Leder zu bestehen schien.
Der Graf rollte mit einigen heftigen Armbewegungen vor ihn und sagte: »Ich dachte mir schon, dass Sie es sind, der mein Testament aufsetzt. Ihr Bruder ist ja immer sehr beschäftigt. Er ist ein so hervorragender Jurist.«
Das war ein dezenter Tiefschlag. »Warum haben Sie dann darauf bestanden, dass nur einer von uns beiden Ihr Testament aufsetzen soll?«, fragte Albert gereizt.
Der Graf lachte und schlug sich auf die Schenkel. »Oho! Der sonst so stille Windschattenanwalt gibt Widerworte! Das gefällt mir außerordentlich. Ich sehe, wir werden gut miteinander auskommen. Ich kann Ihnen sagen, warum ich nur einen von Ihnen beiden haben wollte, mein Lieber. Es könnten persönliche Dinge zur Sprache kommen, die ich sonst niemandem anvertrauen will. Aber freuen Sie sich denn nicht, dass Sie die Gelegenheit zu diesem Ausflug der Sonderklasse erhalten haben? Wann sieht jemand wie Sie schon eine solche Burg von innen? Wollen Sie sie denn nicht besichtigen?«
Albert spürte, wie seine Wut auf diesen Krüppel immer stärker wurde. Woher nahm der Graf das Recht, ihn fortwährend zu beleidigen? »Natürlich möchte ich sie mir mit Ihrer gütigen Erlaubnis gern ansehen, aber sollten wir nicht zuerst an die Arbeit gehen?«
»In meinen vier Wänden stehen Sie unter meinem Befehl, Moll! Wenn ich sage: ›Arbeiten!‹, dann arbeiten Sie. Wenn ich sage: ›Besichtigen!‹, dann besichtigen Sie. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Der Graf röhrte vor Lachen. Dann schrie er: »Paulus!«
Sofort wurde die Tür leise geöffnet und der Diener trat ein.
»Eine Burgführung für unseren Gast!«, rief Graf Roderich. Er beugte sich zu Albert vor und flüsterte: »Diese Burg enthält zahlreiche Seltsamkeiten. Sie befinden sich hier im Zentrum eines ganzen Kosmos voller Ungeheuerlichkeiten.« Und wieder stieß er sein unangenehmes Lachen aus.
»Das Ungeheuerlichste von allem sind Sie«, hätte Albert ihm beinahe entgegengeschleudert. Er beherrschte sich nur mit Mühe. Wo waren jetzt seine kindischen Fantastenträume geblieben? Zu nichts waren sie zerstoben angesichts dieses widerlichen Menschen, dem Albert nicht einmal wegen seiner Lähmung eine gewisse Sympathie entgegenzubringen vermochte.
Paulus schob den Rollstuhl hinaus; Albert folgte den beiden. Zuerst begaben sie sich in die mächtige Halle. Am Fuß der Treppe stand ein kleiner Lift, der am Geländer entlang hochführte. Paulus hievte seinen Herrn scheinbar mühelos in den schmalen Sitz des Liftes. Der Graf legte einen Schalter um und der Lift setzte sich in Bewegung. Auf dem ersten Absatz hielt er an. Paulus war mit dem Rollstuhl in den Händen hochgeeilt und fuhr den Grafen zum zweiten Lift am gegenüberliegenden Ende des Absatzes. Von dort aus ging es hinauf in den ersten Stock. Graf Roderich führte Albert etliche Korridore entlang, wobei Paulus bisweilen den Rollstuhl über einige Tritte heben musste, wenn sich das Niveau des Bodens änderte.
Albert sah Gästezimmer, die ein wenig verwahrlost wirkten und häufig von dicken Staubschichten überzogen waren, und Schlafzimmer, von denen eines das Kaiserzimmer genannt wurde, weil angeblich Kaiser Karl V. einmal in dem riesigen Himmelbett genächtigt hatte. An vielen Wänden klebten schwarze, feuchte Flecken, die dem gepflegten Eindruck, den das untere Stockwerk gemacht hatte, Hohn sprachen. Langsam verstand Albert, warum man hier keine Gäste unterbringen konnte. Also gab es wieder ein Geheimnis weniger. Aber gleichzeitig glich sich das Bild des Gebäudes langsam dem des Hauses Usher an.
Das ganze Bauwerk schien Albert ein riesiges Labyrinth zu sein, das von zahllosen Zimmern, Sälen, Kammern, Korridoren, Erkern und Treppen gebildet wurde. Wie mochte es sein, in einer solchen Burg zu leben? Würden die Schatten und die unzähligen verstohlenen Geräusche einen langsam überwältigen? Oder wurde man irgendwann unempfindlich gegen die Einflüsterungen und Vorgaukelungen der eigenen Fantasie?
Nässe, Modergeruch, Kälte, Zugluft – hier oben gab es alles, was der üblichen Vorstellung von einer alten Ritterburg entsprach. Und es wurde noch schlimmer, als der Graf seinen Besucher in den alten Flügel führte, der nicht mehr bewohnbar war. Die wenigen hier verbliebenen Möbel waren vor Feuchtigkeit aufgequollen. Schimmel wucherte über die Wände. Risse im Mauerwerk waren mit Spinnweben verklebt. Fensterscheiben waren gesprungen; Rahmen hatten sich verzogen; uralte, zerfressene Gobelins, die einmal ein Vermögen wert gewesen sein mussten, hingen an einigen Wänden oder waren aus ihren Halterungen gefallen und in moderigen Klumpen auf den Boden gesunken.
Alberts Träume kehrten zurück. Trotzdem war er froh, als sie wieder in den behaglicheren Renaissancebau hinüberwechselten. Doch eines war seltsam: Der Graf befahl Paulus bisweilen, den Rollstuhl anzuhalten. Dann legte er den Kopf schief und lauschte.
Lauschte wie Roderick Usher auf die schrecklichen Laute seiner lebendig begrabenen Schwester.
Als sie wieder in den gewaltigen Saal mit den vielen Sofas und Sesseln und dem ausladenden Schreibtisch zurückgekehrt waren, schickte von Blankenstein Paulus fort, um das Mittagessen zu richten.
»Er ist ein hervorragender Koch«, sagte der Graf anerkennend. »Eigentlich ist er in allem hervorragend«, setzte er hinzu, als der Diener das Zimmer verlassen hatte. »Man darf es ihm nur nicht sagen, sonst wird er übermütig.« Er klatschte sich vor Lachen auf die gefühllosen Schenkel. Dann sagte er stiller und erstaunlich nachdenklich: »Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn machen sollte.« Plötzlich sah er sehr verletzlich aus.
Es musste schwer für ihn sein, im Rollstuhl zu leben. Albert wusste, dass der Graf erst seit einem Autounfall vor drei oder vier Jahren querschnittgelähmt war. Vielleicht erklärte dies viele Ungehobeltheiten im Charakter des Adligen.
Der Rechtsanwalt versuchte, das Thema des Testaments anzuschneiden, doch von Blankenstein wollte noch immer nichts davon hören.
»Erst essen