ja genug Platz.«
Die beiden warfen ein paar Runden und setzten sich wieder auf das Sofa. Tom trank einen Schluck. »Da muss ich wohl noch ein bisschen üben, du bist ja ein richtiger Meister. Was meintest du übrigens vorhin mit den Buchstaben und den Kreideresten im Mund der Leichen. War das bei allen der Fall? Welche Buchstaben? Lateinische Schrift? Oder sind das Informationen, die du nicht weitergeben darfst?«
»Eigentlich nicht für deine Ohren bestimmt und unter Ausschluss der Öffentlichkeit.« Heiko seufzte. »Aber ich komme da im Moment nicht weiter. Ich ermittle gerade allein in diesem Fall. Meine Chefin hatte einen Unfall und liegt im Koma. Es wird also dauern, bis sie wieder einsatzfähig ist, und die Kollegin, die mich unterstützen sollte, hat mich ebenfalls sitzen lassen.« Er winkte ab. »Das ist wirklich mein erster großer Fall, so viele Mörder laufen hier nicht rum, zumindest von denen ich weiß. Aber Spaß beiseite. Bei allen Leichen haben wir Kreide im Mund- und Rachenraum gefunden. Der Mörder hat sie eindeutig dort platziert. Was er uns damit sagen will, ist mir bisher ein Rätsel, denn Kreide ist kein Symbol für irgendetwas, soviel ich weiß. Ich habe da noch nichts gefunden.«
»Aber natürlich ist es ein Symbol, zumindest in der Traumdeutung.« Tom beugte sich vor. »Lach nicht, aber Traumdeutung gehört zu meinen Interessen, neben der Biologie und der deutschen Geschichte.« Er hob die Augenbrauen. »Ich bin eben doch ein Nerd. Sorry. Kalk – Kreide ist eine seiner Formen – wird im Traum als Symbol für begrabene Hoffnung gedeutet und auch als Warnung, besonders aufmerksam zu sein. Worauf will der Mörder aufmerksam machen? Wen will er warnen und um welche Hoffnungen, die offensichtlich zerstört wurden, geht es? Alle Opfer kommen aus der Gegend, alle sind mit Clara Jolcke verbunden. Aber haben sie untereinander auch eine Verbindung? Kannten sie sich eventuell, gibt es da eine Connection, von der du noch nichts weißt? Da gibt es doch diesen Ausdruck Kreide fressen. Bedeutet das nicht, dass man seine Stimme verstellt, die Unwahrheiten sagt? Vielleicht haben die Opfer etwas verschwiegen oder gelogen? Aber bei Kalk fällt mir noch etwas ein. Was hat diese Region über ihre Grenzen hinaus bekannt gemacht?«
»Äpfel? Landwirtschaft? Langeweile?«
Tom verdrehte die Augen. »Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht. Natürlich die Industrie. Die Zementfabrik. Überleg mal, was hier im letzten Jahrhundert los war. Wie viele Menschen von der Fabrik lebten. Es wurde sogar eine eigene Eisenbahnlinie für den Transport gebaut. Es gab internationale Kooperationspartner. Selbst für den Sockel der Freiheitsstatue wurde Zement aus dieser Fabrik geliefert. Nicht nur für die Menschen aus dieser Gegend war die Fabrik wichtig, sondern auch für die gesamte deutsche Industrie.« Tom überlegte kurz.
»Wundere dich nicht, dass ich so viel darüber weiß, denn schließlich komme ich aus der Familie, die mit der Zementfabrik zusammengearbeitet hat. Vielleicht sollte ich da mal Unterlagen anfordern. Morten inc. gibt es zwar nicht mehr, aber alle Dokumente wurden aufbewahrt. Unsere Familie und das Unternehmen haben selbst ein kleines Museum in La Salle.« Seine Stimme nahm einen traurigen Klang an. Oder war es eher Resignation? »Mein Vater hat alles in den Sand gesetzt und meine Mutter war eh nur am Alkohol interessiert. Mich trifft da natürlich selbst auch eine gewisse Schuld. Für mich zählte nur die Kunst. Außerdem war die Zeit der Zinkgewinnung fast schon vorbei, als ich auf die Welt kam. Und kannst du dir vorstellen, wie ich in Anzug und Krawatte am Schreibtisch sitze? Also, worauf ich eigentlich hinauswollte: Woraus wird Zement gemacht? Im Wesentlichen aus Kalk und Ton, und die kamen beide aus Hemmoor und der Umgebung.«
Tom strich sich nachdenklich mit der Hand übers Kinn und fuhr dann fort: »Und gibt es wirklich nur einen Mörder, der alle vier Opfer umgebracht hat? Es kann ja auch jemand sein, der die Vorgehensweise bei den Morden an den beiden Männern übernimmt, sie nachahmt – in den USA nennen wir das Copycat –, um den neuen Mord Clara Jolcke in die Schuhe zu schieben.« Tom stand auf, ging zum Kamin und legte ein Holzscheit nach. »Aber das ist auch Quatsch, denn es gibt ja noch diesen ehemaligen Kommissar, der ja auch gezeichnet ist.«
Tom überlegte. »Nein, es hört sich so an, als ob du einen Täter hast, der wohl seit Jahrzehnten mordet. Die Frage ist, ob und was hat Clara Jolcke damit zu tun, wenn sie nicht die Mörderin ist? Wenn sie es aber ist, dann ist sie richtig gut, denn es gibt ja keine nachweisbaren Spuren. Du hast also wenig in der Hand, außer dass die Kreide auf die alte Fabrik hinzuweisen scheint, und die ist seit den Achtzigerjahren geschlossen. – Welche Buchstaben sind es denn?«
»Die machen bisher noch nicht viel Sinn. H bei Christian Cordes, V bei Petra Harlor und ein W bei Johann Jolcke, alle eingeritzt auf der linken Wange der Opfer, nur bei Jolckes Freund nicht. Es sind jedenfalls nicht die Anfangsbuchstaben der Namen. Bestimmt haben sie einen besonderen Sinn, aber der erschließt sich mir noch nicht.«
Tom lachte »Das wäre auch zu einfach. Hoffentlich kommen nicht noch mehr Leichen dazu, sonst wird mir die Gegend langsam unheimlich. Ich denke, durch die Kreide, die hier so wichtig war, sind alle Morde miteinander verwoben, aber du bist der Fachmann und ich nur Bildhauer.«
»Mit einer erstaunlich guten Kombinationsgabe! Lass mich mal in Ruhe über alles nachdenken.«
Heiko gähnte. Er konnte den Alkohol im Blut spüren, sein Kopf wurde schwer. »Langer Tag! Ich sollte langsam los.« Er schaute auf die Uhr. Es war fast neun. Er gähnte noch mal. »Sorry, oh Mann, der Rum hat es in sich! Ich glaube, ich brauche ein Wasser.«
»Na, du bist ja wirklich keinen Alkohol gewöhnt.« Tom lachte. »Kommt wahrscheinlich daher, dass du so fit bist, da verträgt der Körper ihn nicht so gut. Bei mir wirkt er ja eher stimulierend und ich rede wie ein Wasserfall. Ich mache dir einen Espresso, der wird dich fit für die Rückfahrt machen.«
Tom ging in die Küche und setzte Wasser auf. Er drehte sich um. »Ich werde in den nächsten Tagen mal zu dieser Zementfabrik fahren. Solange die Sonne scheint, muss ich das ausnutzen. Schließlich habe ich mir ja heute nicht umsonst ein Fahrrad gekauft.« Er grinste. »Der nächste Regen kommt bestimmt.«
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