auf Clara Jolcke.« Er ging um den Schreibtisch herum und sah sich erneut die beiden Nahaufnahmen von Jolcke und Fauck an. Auf Johanns Wange war eindeutig der Buchstabe W zu erkennen.
18 Am Scheideweg
Heiko fuhr zu schnell. Das tat er immer, wenn er genervt war. Björn Schierling war ein Arsch! War er immer schon, selbst damals auf dem Gymnasium. Heiko konnte den Typ nicht ausstehen. Großkotzig und dabei so hohl wie der Baumstumpf auf Clara Jolckes Grundstück. Immer auf dicke Hose gemacht in der Oberstufe mit seinen Tattoos und dem Ohrring, der Maschine und dem schweren Helm. Und ständig diese dumme Sarah am Arm, hübsch, blond, blauäugig. Aber da hörte es dann auch auf. Beide Abziehbilder, von Individualität weit entfernt, engstirnig und homophob, politisch auf der sehr rechten Seite. Und dieser Arsch war ausgerechnet jetzt Chefreporter bei den »Stader Nachrichten«.
Mit achtzig Sachen fuhr Heiko durch das kleine Dorf in Richtung Apfelplantage.
Björns Reportagen waren der Bildzeitung würdig. Schierling polarisierte und manipulierte seine Leser, was das Zeug hielt. Im Visier hatte er nicht den unbekannten Mörder der beiden Opfer, die er inzwischen einfach Moor- oder Baumstumpfleiche getauft hatte, und auch nicht Babette, die im Koma lag, sondern den neuen Leiter der Mordkommission. Heiko fühlte sich wie in einem schlechten amerikanischen Highschool-Film aus den Neunzigerjahren.
Sein Handy hatte in dem Moment geklingelt, als er Gabriele Römer auf ihrem Bildschirm gerade den gut erkennbaren Buchstaben W auf Johanns Wange gezeigt hatte. Heiko machte den Fehler, nicht auf das Display zu sehen. Schierling war der Letzte, mit dem er reden wollte. Ob es Neuigkeiten gebe, Entwicklungen im Falle der Baumstumpfleiche, wollte der eingebildete Fatzke wissen. Unter uns alten Schulfreunden. Die Leser hätten ein Recht, zu erfahren, wo er, Heiko, als neuer Einsatzleiter inzwischen stehe. Angst gehe um. Die Bevölkerung müsse geschützt werden. Was für ein ausgemachter Quatsch! Heiko unterdrückte die aufkommende Wut, riss sich zusammen und vertröstete Schierling auf die kommende Woche. Er sei mitten in den Ermittlungen und könne im Moment nicht viel dazu sagen. Er war allerdings wütend auf sich selbst, dass er Schierling nicht das gesagt hatte, was er wirklich dachte. Dass er nicht den Mut gehabt hatte und immer noch in einer Dynamik gefangen war, die er seit der Zeit auf dem Gymnasium kannte. Bloß nicht die Klappe aufmachen.
Er hielt an, stieg aus und holte tief Luft. Er musste einen klaren Kopf behalten. Vier Leichen, die miteinander verbunden waren, drei davon mit einem eingeritzten Buchstaben auf der rechten Wange, deren Bedeutung er nicht kannte. Und alle Wege führten zu Clara Jolcke.
Vor ihm lagen die Felder im Sonnenschein, Kühe grasten, ein Falke zog seine Kreise, in der Ferne sah er zwei Rehe am Waldrand. Dies war seine Heimat, dies war eine friedliche Gegend, hier gab es keine Serienmörder, und wenn, blieben sie unentdeckt. Heiko war klar, dass er es mit einem Killer zu tun hatte, der ganz genau wusste, was er tat.
Reiß dich mal zusammen, schimpfte er lautlos mit sich.
Er stieg wieder in sein Auto und fuhr weiter. Kurz danach bog er in den Feldweg, der zu Clara Jolckes Anwesen führte. Von Weitem konnte er zwei Fahrzeuge an der Biegung erkennen. Die Jolcke stand vor ihrem alten Renault, der Weg zu ihrem Haus war blockiert von einem Traktor, auf dem ein Mann saß. Offensichtlich stritten die beiden miteinander. Er schaute auf die Uhr. Es war halb drei. Clara Jolcke hatte die Inspektion vor zwei Stunden verlassen, wo war sie gewesen? Die Fahrt nach Hause dauerte knapp 25 Minuten.
Heiko hielt neben dem Renault und sah die Einkaufstaschen auf der Rückbank, sowie einen Sack Zement und eine Schaufel. Er stutzte. Gabriele Römer hatte Kreide im Mundraum der beiden Leichen gefunden. War Kreide nicht ein Kalkstein und war der nicht ein Bestandteil von Zement?
Ein kurzer Flash aus seiner Schulzeit. Sie hatten einen Ausflug zum Kreidesee gemacht, um das Zementmuseum zu besichtigen. Es war ein heißer Sommertag, aber sie durften nicht im See baden. Dort war vor Kurzem ein Taucher ertrunken, das Gewässer wurde als gefährlich eingestuft. Die Klasse schleppte sich bei der Hitze durch das Freilichtmuseum und lernte alles über die Herstellung von Zement. Ein weiterer Bestandteil dieses Baustoffs war Ton und den gab es, glückliche Fügung, in einer Ortschaft ganz in der Nähe, Lamstedt.
Es konnte kein Zufall sein, dass beide Leichen Kreide im Mund hatten. Der Mörder hatte nichts dem Zufall überlassen. Und wenn Jolcke ein Zeichen auf der Wange hatte, so wie die anderen Opfer, hatte er dann auch Kreide im Mund gehabt? Das würde nun nicht mehr festzustellen sein, da er eingeäschert worden war.
Heiko öffnete die Tür und stieg aus. Clara Jolcke blickte ihm feindselig entgegen, der Mann auf dem Traktor war vor lauter Wut rot im Gesicht. »Moin.«
Heiko erwiderte seinen Gruß nur mit einem Nicken und schaute Clara Jolcke fragend an.
»Folgen Sie mir jetzt nach Hause? Hat Ihnen meine Aussage heute Morgen nicht gereicht? Oder wollen Sie mich gleich ohne Beweise verhaften?«
»Nein, ich muss Sie enttäuschen, ich wollte zu Tom Morten und auf dem Weg Ihre Schwester besuchen.«
Clara Jolcke verzog keine Miene. »Falls Sie jemals hier durchkommen. Der Bauer blockiert den Weg!«
»Ich habe auch einen Namen, falls Ihnen das entgangen ist!«
Sie schnaubte verächtlich, während der Mann auf dem Traktor zu platzen drohte.
»Ich nehme an, Sie sind Malte Jensen, der Besitzer der Apfelplantage?« Heiko sah den wütenden Mann an. Er war um die fünfzig, drahtig, durchtrainiert und hatte unglaublich große Hände. Sein dunkelblondes Haar war kurz und ordentlich nach hinten gegelt, das Gesicht glattrasiert. Tiefe Falten auf der Stirn. Ein Mann, der bei Wind und Wetter draußen arbeitete.
Jensen nickte kurz und wurde etwas ruhiger. Heiko zeigte ihm seinen Ausweis. »Heiko Degen. Ich bin zuständig für den Mordfall Petra Harlor. Leider waren Sie letzte Woche, als wir die Leiche gefunden haben, nicht auf dem Hof. Gut, dass ich Sie treffe. Ich habe noch einige Fragen an Sie, wenn Sie nachher Zeit haben.«
»Sicher, gerne. Falls ich in diesem Leben dazu komme. Seit einer Viertelstunde blockiert die gute Dame hier meinen Weg.«
»Ich? Ich blockiere Ihren Weg? Das ist genauso mein Weg wie Ihrer! Und wenn Sie Ihren sicherlich ökologisch einwandfreien Traktor zurücksetzen, komme ich auch an Ihnen vorbei. Es ist ja nicht das erste Mal, dass Sie hier fahren und alles blockieren. Dieser gottverdammte Schotterweg ist eben zu eng. Sie hätten ihn längst asphaltieren müssen. Wenn ich jetzt zurücksetze, bleibe ich in den Fahrrillen stecken, die Sie mit Ihrem Trecker in den Matsch gefahren haben. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass hier alles vermodert ist vom Regen der letzten Wochen. Jedes Mal der gleiche Mist. Seit Sie hier sind, gibts nur Probleme. Und dieses Rumgefahre mit dem Traktor jede Nacht. Wollen Sie mich absichtlich um meinen Schlaf bringen? Und dass hier alles Bio ist, das glauben Sie doch selbst nicht!«
Sie funkelte ihn voller Wut an. Heiko traute seinen Ohren nicht. Die beiden stritten wirklich darum, wer als Erster den Weg frei machen würde? Beschwichtigend hob er die Hand. »Frau Jolcke, wie Sie sehen, muss ich auch hier durch. Herr Jensen kann hier nicht mit dem Traktor drehen, das sehen Sie doch. Und wenn er zurücksetzt und steckenbleibt, hat er ein großes Problem und blockiert den Weg noch länger. Falls Sie steckenbleiben, können wir Ihnen gerne behilflich sein!«
Ohne ein Wort stampfte Clara Jolcke wütend zu ihrem Auto, stieg ein und schlug mit einer Kraft, die Heiko ihr nicht zugetraut hätte, die Wagentür zu. Sie drückte den Rückwärtsgang rein und fuhr zwei Meter zurück auf die Grasnarbe. Nichts passierte. Sie versank nicht im Boden. Jensen startete seinen Traktor und fuhr langsam an ihr vorbei. Sofort drückte Clara Jolcke aufs Pedal und fuhr ohne ein weiteres Wort los.
Malte Jensen hielt seinen Traktor an und stieg ab. »Das geht jetzt seit Jahren so. Langsam habe ich wirklich die Nase voll von dieser geisteskranken Alten. Sie schikaniert mich, wo sie kann, sagt mir, was ich zu tun und zu lassen habe. Im letzten Herbst musste ich zwei alte Bäume fällen, die schon lange innen durch Blitzeinschläge hohl waren. Dass sie mich dafür nicht umgebracht hat, war alles. Die tickt nicht richtig, diese verrückte alte Kuh. Vor der muss man sich echt in Acht nehmen. Warum man sie wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen hat, ist mir schleierhaft.«