sich zu. Endlich zu Hause, es war Montagabend, kurz nach 20 Uhr. Er zog den Regenmantel aus, Wasser tropfte auf das Parkett. Im Laufe des Nachmittags war der Regen stärker geworden und vor einer Stunde war ein Sturm über die Stadt hinweggezogen, der es in sich hatte. Damit hatte er heute Morgen nicht gerechnet, sonst hätte er doch das Auto genommen. Erst mal eine Dusche. Das heiße Wasser tat gut, die eiskalte Abschreckung danach auch. Schnell trocknete er sich ab und schlüpfte in eine alte Jeans und seinen ausgeleierten Kaschmirpulli. Barfuß ging er in die Küche und machte eine Flasche Wein auf. Er trank selten, aber heute Abend brauchte er ein Glas von dem grauen Burgunder, den er im Februar gekauft hatte und der seitdem ein einsames Dasein in der Dunkelheit des Kühlschranks fristete. Im Wohnzimmer trat er an die große Fensterfront. Die Stadt lag unter ihm und nur ein paar Laternen erhellten die Dunkelheit. Der Sturm peitschte den Regen an die Scheiben.
Diesen Montag hätte er am liebsten aus seinem Leben gestrichen, obwohl er jetzt schon genau wusste, dass es nur der Anfang von dem war, was ihn in den nächsten Monaten erwarten würde. Heiko setzte sich auf das große Sofa, das den Raum dominierte. Davor ein Berberteppich und ein Couchtisch aus Holz, sonst keine Möbel. An der Wand ein Flachbildschirm, gegenüber ein einzelner großer Print von Otto Dix: Die Sieben Todsünden. Schnickschnack hatte er schon als Kind nicht gemocht. Infos gab es im Computer, in den digitalen Akten. Er brauchte im Büro keine große Wand mit Fotos und Infos der Opfer. Was nicht im Laptop war, war in seinem Kopf. Dachte er. Heiko schaltete den Fernseher an, bekam von der Sendung, die gerade lief, aber kaum etwas mit.
Der Tag hatte ihn überrollt. Er hatte die Besprechung mit Gabriele Römer am Morgen vorzeitig abgebrochen und war mit einem Einsatzwagen zum Elbe Klinikum gerast. Babette lag auf der Intensivstation, es stand nicht gut um sie. Ein Lastwagen hatte ihr auf dem Weg zur Polizeiinspektion die Vorfahrt genommen und ihren alten Mercedes voll erwischt. Der Wagen hatte sich überschlagen, man hatte sie aus dem Wrack herausschneiden müssen. Babette war nicht bei Bewusstsein, die Ärzte konnten noch nichts Genaues sagen, sprachen von Koma, Gehirntrauma.
Es konnte Monate dauern, bis Babette sich erholen würde oder gar wieder einsatzbereit war. Auf einmal war er nicht mehr die Nummer zwei. Innerhalb eines kurzen Moments lag die Verantwortung für die beiden Mordfälle bei ihm. Um 11 Uhr fuhr er zurück in die Inspektion. Babette war nicht sehr beliebt bei den Kollegen, aber diesen Unfall wünschte ihr nun wirklich keiner. Allgemeine Betroffenheit hatte in der Inspektion geherrscht.
Heiko kannte Babettes Geschichte. Sie waren auf dieselbe Schule gegangen, wenn auch in unterschiedliche Klassen. Ihr Vater war ein hohes Tier bei der Stader Kripo und hatte später Karriere in der Politik gemacht. Sein Tod vor drei Jahren hatte sie tief getroffen. Am Abend nach seiner Beerdigung hatte sie zu viel getrunken und ihm ihr Leid geklagt. Schwere Kindheit, keine Freunde, Übergewicht, Einsamkeit. Sie hatte sich früh auf ihre Karriere konzentriert. Der Schutzmantel aus Mercedes, Kaschmir, Pagenkopf und eisernem Willen sollte ihr irgendwann den Weg in die Landespolitik ebnen. Sie wohnte allein in einem Haus bei Agathenburg, einen Mann gab es nicht. Keine Angehörigen bis auf eine ewig nörgelnde Mutter, bei der im letzten Jahr dann auch noch beginnender Alzheimer diagnostiziert worden war.
Als Heiko Babette an diesem Morgen bewusstlos an den Schläuchen auf der Intensivstation gesehen hatte, empfand er Mitleid und Trauer. Was wenn sie sich nicht erholen, zum Pflegefall würde?
Nach einem kurzen Mittagessen traf er sich gegen 13 Uhr erneut mit Gabriele Römer. Auch wenn Heiko nicht die geringste Lust auf Einzelheiten zur zweiten Leiche aus dem Müllsack hatte.
Gabriele Römer stellte ihm eine Tasse mit dampfendem Tee auf den Tisch und sah ihn mitfühlend an: »Na, gehts wieder?« Sie mochte Babette nicht, war aber einfühlsam und sparte sich in diesem Moment jeden Sarkasmus.
Heiko strich sich die lange blonde Locke aus der Stirn. »Muss ja! Wir werden sehen, wie sich Babettes Zustand entwickelt. Es sieht nicht gut aus im Moment. Am besten machen wir da weiter, wo wir heute Morgen stehen geblieben sind. Bei Clara Jolcke! Woher kennen Sie sie und was hat das mit unserem zweiten Fall zu tun?«
Gabriele Römer sah ihn bewegungslos an. Sie verzog keine Miene, nur ihr rechtes Auge zuckte unmerklich. »Ich kenne die Jolcke und ich denke, dass wir sie mit beiden Fällen in Verbindung bringen können. Wir haben ja den Zahnstatus der Leiche aus dem Moor in der letzten Woche an alle Zahnarztpraxen in der Umgebung geschickt. Heute Morgen hat ein Zahnarzt ihn als den eines seiner Patienten identifiziert.« Sie schluckte und das Zucken des rechten Auges wurde etwas stärker. »Es handelt sich um Christian Cordes.«
Heiko sah sie erstaunt an. »Christian Cordes? Sind Sie sich da sicher? Das ist doch unmöglich.«
»Ja, wir sind sicher. Ich habe die Röntgenaufnahmen, die wir vom Zahnarzt bekommen haben, mit denen verglichen, die wir von den Zähnen der Leiche gemacht haben. Kein Zweifel.« Sie setzte sich und schloss müde die Augen.
Heiko konnte es noch nicht glauben. Christian Cordes war so etwas wie eine Legende, selbst für ihn, obwohl er damals viel zu jung war und die Informationen nur aus den Zeitungen mitbekommen hatte. Cordes war in den Achtzigerjahren bei der Hamburger Kripo gewesen und 1990 Leitender Kommissar in Stade geworden, unter Babettes Vater, Peter Petersen. Als Petersen in die Politik ging, übernahm Cordes die Leitung der Polizeiinspektion Stade, rigoros und immens erfolgreich. Er ließ eine Dealer-Bande hochgehen, die Drogen aus dem Hamburger Freihafen nach Stade brachte und von dort landesweit verkaufte. In einer großen Aktion wurden fünfzig Kilo Kokain sichergestellt. Die Presse überschlug sich und Cordes war so etwas wie ein lokaler Held. Er klärte zudem einige Mordfälle im Landkreis auf. Im November 1997 war er spurlos verschwunden, hatte eine Frau und eine Tochter hinterlassen.
»Weiß sie es schon?« Fragend schaute er Gabriele an, und sie wusste genau, von wem er sprach.
Sie schüttelte den Kopf. »Gott sei Dank hat sie ihn nicht erkannt, als der Sack aufplatzte.«
»Mir bleibt heute auch nichts erspart«, murmelte Heiko vor sich hin. »Ich rufe sie gleich an.«
»Das sollten Sie in diesem Falle besser persönlich machen. Er war schließlich ihr Vater.«
»Ich kann mir das nicht vorstellen, sind Sie sich vollkommen sicher? Wer bringt den Hauptkommissar der Stader Polizei um, stopft ihn in einen Sack und versenkt ihn im Moor, ohne Spuren zu hinterlassen oder geschnappt zu werden? Das ist doch unglaublich. Hat es damals denn keine Untersuchungen gegeben?« Er stand auf und ging unruhig auf und ab.
Gabriele räusperte sich: »Natürlich gab es Untersuchungen. Aber es schien damals wirklich so, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden. Er war ganz einfach unauffindbar.« Sie wandte sich ab und sah auf ihren Computer.
»Wir haben inzwischen alle Untersuchungen abgeschlossen.« Sie klickte sich durch den pathologischen Befund und die Laborergebnisse. »In der gut konservierten Leiche konnten Spuren von Kreide im Mund und Conium-Alkaloide im Magen und den Muskelfasern festgestellt werden.«
Fassungslos starrte Heiko sie an: »Das kann nicht sein, sie machen wohl Witze.«
»Keineswegs.«
Er setzte sich wieder hin und musste diese Information erst einmal verdauen. »Sie erzählen mir hier allen Ernstes, dass die vermutliche Todesursache im Falle von Petra Harlor und Cordes dieselbe ist? Dass es sich um zwei Giftmorde handelt, die 22 Jahre auseinanderliegen?«
»Es sieht ganz danach aus. Beide Personen sind aufgrund toxischer Wirkstoffe zu Tode gekommen. In beiden Fällen führte das Gift zu Muskellähmungen. Cordes wurde lebendig begraben, und Petra Harlor lebte ebenfalls noch, als man sie in den Baumstumpf stopfte. Ich nehme an, dass beide ihren Mörder kannten, das Gift wurde mit der Nahrung aufgenommen und nicht injiziert. Was die Kalkspuren im Mund bedeuten oder woher der Kalk stammt, kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht sagen.«
Gabriele sah ihn traurig an. »Diese Obduktion war sehr schwer für mich, denn ich kannte Christian Cordes. Ich war zum Zeitpunkt seines Todes seit zwei Jahren hier in Stade tätig und ich wusste, dass der Mordfall Jolcke sein erster Fall als junger Kommissar in Hamburg gewesen ist. Er war einer der Verantwortlichen, die Clara Jolcke noch am Tatort verhaftet haben. Seine Aussage trug maßgeblich zu ihrer Verurteilung bei. Als er dann vermisst wurde, ist sie