Michael Reh

Asta


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im Baumstumpf! Erstaunlich, dass der Baum im Wurzelbereich fast zwei Meter tief ausgehöhlt war. Konnte das wirklich durch einen Blitz geschehen sein? Was wusste er von Naturgewalten? Besser die Frage: Warum musste ausgerechnet er sie finden? Wer war sie? Die Frau musste um die fünfzig gewesen sein. Ihre billige Kleidung war nass, die flusigen blonden Haare nicht mehr als eine klebrige Masse rund um das aufgedunsene Gesicht. Die Zunge war dick aufgequollen und weiß belegt, die glasigen Augen starrten ins Leere. Ein kleiner Schnitt auf ihrer Wange. Blut war ansonsten nicht zu sehen. Wer hatte sie in dieses Loch gesteckt? Und warum? Vor zwanzig Minuten hatte er die Polizei angerufen. Er solle an der Fundstelle bleiben, wurde ihm gesagt, sie würden sofort jemanden schicken.

      Tom sah den alten Mercedes durch das Gatter am Ende des Weges kommen und den aufgeweichten, matschigen Weg entlangschlingern. Da waren wohl schon Sommerreifen drauf. Sommer, ein seltsames Wort in diesem Moment. Lichtjahre entfernt. Der Wagen hielt zehn Meter vor ihm. Tom hatte mit Streifenwagen, Unfallwagen, viel Licht und Aufregung gerechnet. Typisch amerikanisch dachte er. Du bist eben nicht mehr in New York, mein Freund!

      Am Steuer saß ein attraktiver blonder Mann in Toms Alter, auf dem Beifahrersitz eine pummelige, offensichtlich schlecht gelaunte Blondine mit Pagenkopf. Sie sprach mit dem Fahrer und beobachtete Tom wie ein lästiges Objekt, hielt plötzlich ihr Handy ans Ohr, redete sichtlich genervt auf den Anrufer ein und rollte mit den Augen.

      Der Fahrer stieg aus und kam auf Tom zu. Seine Sneakers waren dreckig vom Matsch. Er streckte die Hand aus: »Moin, Heiko Degen, Kripo Stade. Sind Sie Thomas Morten?«

      Schoko rührte sich nicht, während Tom dem Kommissar die Hand reichte: »Yep, das bin ich. Das ging aber schnell!« Er deutete Richtung Mercedes und schaute Heiko Degen fragend an.

      »Der Rest der Belegschaft sollte gleich eintreffen. Wir kommen gerade von einem Einsatz. Die Dame im Auto ist Hauptkommissarin Babette Petersen, meine Chefin. Sie zieht es vor, im Trockenen zu bleiben.« Er verzog den Mund. »Sie sind nicht aus der Gegend, nehme ich an?«

      Tom verneinte. »Meinen amerikanischen Akzent kann ich nicht verleugnen. Ich habe das Haus unten am Ende des Deichs vor ein paar Wochen gemietet.«

      »Ihr Hund?«

      Tom nickte, Schoko behielt sein Pokerface bei und blieb sitzen.

      »Und, wo ist die Leiche?«

      »Gleich da vorne.« Tom führte ihn zum Baumstumpf. Heiko streifte sich Handschuhe über und inspizierte vorsichtig den Fundort. Es war nicht viel zu erkennen, außer den Abdrücken von Toms Gummistiefeln gab es keine weiteren Spuren. Die Frau musste schon einige Tage im Baumstumpf liegen, so wie sie aussah. Zwei Mordopfer an einem Tag. Mehr als im letzten Jahr im ganzen Landkreis.

      In diesem Moment hörten sie die Einsatzfahrzeuge kommen. Auch ein Transportwagen war dabei, die Sirenen waren nicht eingeschaltet. Dies ist wirklich nicht New York, dachte Tom.

      »Ich war auf meinem Spaziergang mit Schoko, die Frisbeescheibe ist in den hohlen Baumstumpf geflogen, so habe ich die Leiche entdeckt.« Tom wartete in sicherem Abstand.

      »Kennen Sie die Frau zufällig? Sind Sie ihr hier schon einmal begegnet? Oder haben Sie zufällig irgendjemand gesehen, seitdem Sie hier warten? Drüben im Haus? Oder vom Apfelhof nebenan?«

      »Heute Morgen noch nicht. Ich bin davon ausgegangen, dass das alte Haus unbewohnt ist. Wie gesagt, ich lebe erst seit ein paar Wochen hier. Und Malte Jensen, dem Bauern, bin ich vor ein paar Tagen das letzte Mal begegnet. Aber vielleicht ist das alte Gebäude doch bewohnt, es steht ja auch ein Auto davor. Und was die Dame im Baum betrifft: Ich habe keine Ahnung, habe sie nie zuvor gesehen.«

      »Ja, natürlich, entschuldigen Sie. So häufig finden wir hier in der Gegend keine Leiche«, entgegnete Heiko. Nervös strich er sich die inzwischen vom Regen durchnässten Locken aus dem Gesicht und schaute in Richtung des alten Bauernhauses.

      »Dort wohnt Clara Jolcke, der Baum steht auf ihrem Grundstück, der werden wir gleich mal einen Besuch abstatten.«

      Tom sah Heiko interessiert an. »Na, das wäre doch eine Gelegenheit, meine Nachbarin kennenzulernen. Und ich müsste langsam mal raus aus diesem Regen, sonst ertrinke ich noch.«

      Ein schlechter Witz, aber Heiko schmunzelte trotzdem. Ein fremder Mann, Amerikaner und auch noch attraktiv. Und das in dieser gottverlassenen Gegend. Die Einsatzfahrzeuge hielten jetzt neben dem alten Mercedes, die Beamten stiegen aus und schauten Babette erwartungsvoll an.

      Sie ließ die Scheibe zur Hälfte runter. »Heiko, die Männer sollen anfangen, hier alles abzuriegeln und die Spuren zu sichern. Hat jemand einen Schirm dabei? Wir müssen zu Clara Jolcke. Scheiß erster April.«

      Sie kurbelte die Scheibe wieder hoch. Schoko stand auf, lief auf das alte Gebäude zu und verschwand im schmalen Mittelgang zwischen Hauptgebäude und dem kleineren Gebäude, das früher mal ein Stall gewesen sein mochte.

      Clara überlegte kurz, ob sie aufmachen oder einfach weiter ins Wohnzimmer gehen sollte. Sie erwartete keinen Besuch. Hätte sie bloß damals die alte Holztür gelassen, aber nein, es musste ja mehr Licht in den dunklen Bau und eine breite Glastür wurde eingebaut. Da hatte sie noch das nötige Kleingeld. Sie wusste, wo Johann das Schwarzgeld im kleinen Haus nebenan gebunkert hatte.

      Die Tür befand sich an dem schmalen Gang, der das Haupt- von dem kleineren Nebenhaus trennte, reinschauen konnte man nicht, außer jemand stand direkt vor der Glasscheibe. Normalerweise hing im Winter ein dicker Wollvorhang davor, es zog bei Kälte durchs ganze Haus. Aber vor zwei Wochen hatte Petra ihn abgenommen, als sie das letzte Mal hier war. Clara wollte ihn waschen, doch der alte Vorhang war so verfilzt und hätte wahrscheinlich die altersschwache Waschmaschine vollkommen ruiniert. Also legten sie ihn in die Abstellkammer rechts neben der Eingangstür, wo er sein Dasein mit altem Weihnachtsschmuck, dem Staubsauger und den Putzutensilien fristen durfte. Clara schmiss nichts weg. Man konnte nie wissen.

      Früher hatten die Bewohner die Tenne als Eingang genutzt, aber sie kam meistens von der Deichseite ins Haus, da zog sich das Reetdach tiefer und sie wurde nicht nass bei dem ständigen Regen, wenn sie mal das Haus verließ. Nur wenn sie mit dem Auto fuhr, ging sie durch die Tenne.

      Sie stand immer noch mitten in der Halle, mit der Kaffee­tasse in der Hand, und schaute die ungebetenen Gäste vor der Tür an. Wer war das? Was wollten die von ihr? Hier kam selten jemand vorbei, nicht einmal der Postbote, er steckte alles in den großen Briefkasten am Wegrand. Sie wusste, dass die Menschen im Dorf sie mieden, und selbst die Halbstarken hatten seit Jahren keine Fensterscheiben mehr eingeschlagen. Fast ein Vierteljahrhundert lebte sie hier draußen. Vergessen hatte niemand im Umkreis, wer hier wohnte, aber man ließ sie in Ruhe. Sie galt wohl inzwischen als alte Frau, vor der keiner mehr wirklich Angst haben konnte. Wenn die wüssten!

      Eine blonde Frau mit Pagenkopf und ein Mann mit blonden Locken, dahinter ein durchnässter Typ mit Dreitagebart, der auch noch einen Hund im Schlepptau hatte. Na bravo. Bünting und Onken würden ihren Spaß haben. Clara stellte ihre Kaffeetasse auf den alten Holztisch und schlurfte durch die große Diele. Jetzt verpasste sie auch noch den Rest der Sendung und morgen durfte sie dann raten, was passiert war, und kam nicht so schnell ins Geschehen. Mist! Der Regen wurde stärker und prasselte auf die ungebetenen Besucher. Die würden ihr jetzt die Halle versauen, sie hatte gestern erst gewischt. Petra war Freitag nicht gekommen und so musste sie es notgedrungen selbst machen. Sie öffnete die Tür und starrte die Fremdlinge wütend an.

      »Was gibts?«, bellte sie kurz.

      »Guten Tag, sind Sie Clara Jolcke?«, fragte die gestylte Blondine und versuchte, mit ihrer Tasche über dem Kopf den Regen abzuhalten. Clara nickte kurz und machte keine Anstalten, die drei in die Halle zu lassen. Zeugen Jehovas konnten es nicht sein, die hatten selten einen Hund dabei. Der Regen schlug ihr entgegen und sie ging einen kleinen Schritt zurück.

      Die Blondine räusperte sich, legte den Kopf leicht zur Seite und sah Clara genervt an. »Frau Jolcke, entschuldigen Sie die Störung, aber es ist wichtig. Haben Sie einen Moment Zeit?«

      Clara nickte erneut und sagte nichts.

      »Vielleicht