Michael Reh

Asta


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worden war. Die Stare hatten das Stroh aus dem Dach gezupft, die Hecke des Bauerngartens schien seit Jahren nicht beschnitten worden zu sein, an den Fenstern blätterte die Farbe ab und Efeu rankte sich wild wuchernd um die Südfassade. Eigentlich ein wunderschönes altes Anwesen, man müsste allerdings viel Arbeit in eine Instandsetzung investieren, dachte er. Besonders im Garten. Umgeben wurde das Gebäude von uralten Bäumen, die bis zu vierzig Meter hoch waren. Eine Efeuhecke verbarg fast den Blick vom Deich aus auf die Fenster der Wohnräume. Eine alte Kastanie auf der Nordseite des Hauses war gespalten und bog sich gefährlich auf das Dach. Da musste vor einiger Zeit ein Blitz eingeschlagen haben. Daneben hohe Goldregen- und Ginstersträucher, die bereits anfingen zu blühen. Auch Bärlauch entdeckte er, ein kleines Feld wucherte neben dem Bauerngarten, umgeben von alten Tannen.

      Tom ging weiter über den rutschigen Deich und vergaß Schoko und das Frisbee. Das Haus faszinierte ihn. Es wirkte fast wie das verwunschene alte Gemäuer aus einem alten Hollywood-Gruselklassiker. Es war schon seltsam, dass er an die Wurzeln seiner Familie zurückkehrte und dabei ganz in der Nähe des Ortes ankam, aus dem Wilhelm Morten vor über einem Jahrhundert geflohen war. Vielleicht fühlte er sich deswegen so verbunden mit dem hohen Norden, mit dieser kargen rauen Landschaft, die nichts Anbiederndes hatte, nichts Liebliches. An die man sich anpassen musste, genau wie an ihre Bewohner.

      Beinahe wäre er über Schoko gestolpert, der aufmerksam vor ihm stand und das Frisbee in der Schnauze hatte. Himmel, dieser Hund machte ihn wahnsinnig, konnte er nicht einmal bellen oder irgendeinen Ton von sich geben? Tom sah Schoko an, der Hund starrte zurück. Das konnte ja eine lustige Beziehung werden. Tom nahm das Frisbee und schleuderte es mit aller Kraft von sich, ohne darauf zu achten, wohin die Scheibe flog, und der Hund zischte hinterher.

      Auf der Ostseite des Hauses sah er jetzt das hölzerne, grün gestrichene Scheunentor in Bogenform, das zur ehemaligen Tenne führte, oben die alten Schriftzeichen, die Tom aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Das Anwesen musste aus dem späten 18. Jahrhundert sein, aber die Elemente und die Zeit hatten volle Arbeit geleistet. Vor dem Tor stand ein Auto. Das war doch ein Renault, ein R4 als Kastenwagen! Tom liebte alte französische Autos. In La Salle gab es nur Fords und Chevrolets. Der R4 war für ihn immer ein Relikt aus Claude-Sautet-Filmen, aus dem Romy Schneider oder Catherine Deneuve ausstiegen, um sich Michel Piccoli an den Hals zu werfen. Er erinnerte sich, wie mühsam es gewesen war, vor der Digitalisierung in den Neunzigerjahren französische Filme zu finden.

      In dem alten Gebäude schien also doch noch jemand zu leben. Jemand, der Toms Vorliebe für französische Oldtimer teilte. Zwischen Haupthaus und Scheune befand sich ein kleines Gebäude, ebenfalls efeuumrankt. Früher wahrscheinlich ein Stall für Schweine oder Ziegen. Er ging etwas weiter und sah einhundert Meter rechts vom alten Hof entfernt ein anderes Haus. Es war ein Klinkerbau aus den Achtzigerjahren. Dort wohnte Malte Jensen, der Apfelbauer, der die Plantage seit Jahren bewirt­schaftete. Tom hatte ihn neulich auf seinem Spaziergang getroffen und kurz mit ihm gesprochen. Eine riesige neue Halle stand gleich neben dem Wohnhaus, offensichtlich für die Kühlung der Äpfel und die Saftproduktion. Alles ordentlich, gepflegt!

      In diesem Moment peitschte ihm eine steife Brise um die Ohren und es fing wieder an zu regnen. Er schaute auf sein Handy. Es war kurz nach 13 Uhr und zu spät für den Besuch beim Fahrrad-Opa, der ungern auf seine Mittagsruhe verzichtete, wie er am Telefon gesagt hatte. Tom schaute auf und pfiff auf den Fingern nach Schoko. Warum saß der Hund im nassen Gras vor dem Stumpf eines abgesägten Baums, der etwa eineinhalb Meter aus dem Erdboden ragte? Schoko war nur fünfzig Meter von ihm entfernt und gewiss nicht taub, aber er bewegte sich keinen Zentimeter und saß wie gebannt vor dem Baumstumpf. Was war denn los? Endlich drehte sich der Hund um, legte den Kopf leicht schief in den Nacken und bellte laut und kehlig. Scheiße, dachte Tom, da stimmt was nicht. Er rutschte auf seinen Gummistiefeln den Deich runter und sprang über den halbhohen Zaun. Als er näher kam, sah Tom, dass der abgesägte Baum hohl in der Mitte war. Anscheinend war das Frisbee da reingeflogen, aber warum machte Schoko so ein Theater? Er hatte in den ganzen Wochen, seitdem sie zusammenlebten, nicht gebellt.

      »Ist ja gut, Dicker, ich hol dir dein Frisbee schon wieder raus, keine Angst.« Schoko blickte wieder auf den großen, abgesägten alten Baumstumpf.

      Tom stellte sich auf die Zehenspitzen und stemmte sich hoch, auf den Rand des alten Baumstumpfs. Das Loch in der Mitte maß circa einen Meter im Durchmesser und war fast zwei Meter tief. Wahrscheinlich hatte der Blitz eingeschlagen und man hatte den Baum daraufhin absägen müssen. Im ersten Moment konnte Tom nicht genau erkennen, was auf dem dunklen Boden lag. Er nahm sein Handy und machte die Taschenlampe an. Die orangene Frisbee-Scheibe strahlte ihm entgegen. Sie lag flach auf dem zusammengekrümmten Körper einer Frau, die ihn aus leblosen Augen anstarrte, den Mund weit geöffnet. Zwischen ihren schiefen, vergilbten Zähnen konnte Tom die blaue Zunge erkennen, die weißlich belegt war.

      Babette starrte vor sich hin, ihr Handy seit Minuten verkrampft in der linken Hand haltend. Sie wippte ungeduldig mit dem rechten Fuß. Heiko kannte sie nur zu gut, seit sechs Jahren arbeiteten sie zusammen. Jetzt bloß nichts Falsches sagen, dachte er, sonst musste er ihre miese Laune noch tagelang ertragen und darauf hatte er überhaupt keine Lust.

      Babette war nicht schlecht in ihrem Job, hatte einige Erfolge vorzuweisen, aber eine Kommissarin mit Spürsinn war sie nicht. Sie hatte den Job durch die Beziehungen ihres Vaters bekommen, des ehemaligen Leiters der Polizeiinspektion Stade. Kaschmirmantel und Pumps bei einem Einsatz? In dieser Gegend? Bei diesem Wetter? Heiko zog beide Augenbrauen nach oben. Zugegeben, wer hätte heute Morgen bei der Dienstbesprechung mit dem Fund von zwei Leichen gerechnet? Heiko bestimmt nicht und Babette wohl am allerwenigsten. Sie hatte am Nachmittag einen Termin mit dem Staatsanwalt wegen eines ungeklärten Mordfalls, der lange zurücklag, und hatte sich deswegen besonders sorgfältig herausgeputzt. Aber nicht, dass sie jemals in Jeans und Boots zum Dienst erschienen wäre.

      Nach dem Anruf von der Baustelle im Wilden Moor heute Vormittag waren die beiden in Babettes altem Mercedes zum Fundort gefahren, um dort nicht nur eine halb verweste Leiche in einem Müllsack zu finden, sondern auch noch Babettes alte Schulfreundin Frauke Schlichting ohnmächtig aus dem Schlamm zu ziehen. Besser gesagt, Heiko hatte das getan, Babette machte sich selten die ­manikürten Hände schmutzig. Die Drecksarbeit überließ sie ihm. Assistent, Lakai, zweite Riege. Er wusste, was sie von ihm hielt.

      Dann kam der nächste unerwartete Anruf an diesem verregneten ersten April. Die Zentrale meldete, dass jemand die Leiche einer Frau in einem Nachbarort gefunden hatte. In einem Baumstumpf. Wie um alles in der Welt sollte das gehen, wer hatte sie dort hineingestopft und wie fand man eine Leiche an einem solchen Ort?, fragte sich Heiko.

      Er strich sich durch seine blonden Locken und klemmte eine lange Strähne hinter sein linkes Ohr, eine nervöse Angewohnheit seit seiner Kindheit, wenn es spannend wurde. Er war 38 Jahre alt, kam selbst aus Agathenburg, einem Vorort von Stade, wo seine Eltern bis heute einen alten Apfelhof bewirtschafteten.

      Sein Vater war nicht erfreut gewesen, als Heiko ihm mitgeteilt hatte, den Hof nicht übernehmen zu wollen. Er wollte zur Polizei, er wollte zur Kripo. Das faszinierte ihn damals und tat es immer noch. Er liebte seinen Job, und Gott sei Dank liebte sein Vater ihn, denn es hatte keine ernsthaften Auseinandersetzungen gegeben. Auch nicht, als er seinen Eltern gesagt hatte, dass er schwul sei. Sein Vater hatte mit den Achseln gezuckt, seine Mutter hatte ihn besorgt angeschaut und damit war das Thema gegessen. Die Menschen hier in der Gegend machten nicht viele Worte und seine Eltern erst recht nicht. Sie liebten ihn, sagen mussten sie es nicht.

      Heiko und Babette fuhren jetzt durch die Ortschaft Neuland. Bei zwei Leichen an einem Tag konnte Babette sich nicht herausreden, da musste sie mit! Der Fundort der Leiche lag abgelegen von der Hauptstraße in einer Apfelplantage. Schweigend fuhren sie durch das kleine Dorf. Es hatte eine Tankstelle, eine Kirche und einen ­Gasthof, der seit Jahren geschlossen war. Das wars. Mittagsstunde. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen.

      Am Ortsausgang führte die Straße in einem scharfen Rechtsbogen zur B 495. Heiko fuhr weiter geradeaus. Vor ihnen lag eine alte Allee, links und rechts Gräben, Wiesen, Bäume. Im Sommer bestimmt wunderschön!

      Idyllische Szenerie für eine Leiche, dachte Heiko, während er in die Allee