Michael Reh

Asta


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arbeitete. Zusammen mit seinem Sohn Edmund, der später die Firma übernahm, war es ihm aber gelungen, ein Imperium zur Gewinnung von Kohle und Zink aufzubauen.

      Mit Anfang zwanzig floh Tom aus der amerikanischen Provinz nach Williamsburg in Brooklyn, dem neuen Mekka der Kunst. New York, das selbst ernannte Zentrum des Universums. Es war die einzige Stadt, die ihm jemals vermittelt hatte, dass sein Leben allein durch seine Anwesenheit dort einen Sinn machte. Für lange Jahre galt allein: Du bist New Yorker und nur deswegen schon etwas Besonderes. Allerdings war das Gefühl schnell verpufft, nachdem er hinter die Kulissen geschaut hatte. Doch zunächst kamen Erfolg, Geld, Frauen! Der Absturz war vorprogrammiert, die Welle brach. Der Markt verlangte nach neuen Ideen und Inputs, die Tom allerdings nach einer durchzechten Dekade nicht mehr liefern konnte. Er hatte New York durchschaut und die Finger nicht mehr in der universellen Steckdose der Kreativität. Wie viele Künstler vor ihm machte auch er den fatalen Fehler, nicht die Kreativität in sich zu finden, sondern Inspiration in der Außenwelt zu suchen. Wohin also? In das Epizentrum der angeblichen Kreativität, in die falsche Hoffnung aller Instagrammer der Meme-Generation! Ab ins coole Berlin. Es reichte, da zu sein.

      Berlin. Wieder dieser Hunger, hier die Energie zu finden, die seine Batterie neu aufladen konnte. Aber Berlin war nicht New York und würde es nie sein. Berlin war nur noch Kommerz, denn die Künstler waren längst geflohen, wohin, wusste niemand so recht. Wo war es nun, das Berlin des neuen Millenniums, das sich in seinen Kopf geschlichen hatte, jene Vorstellung von einer Stadt, genährt von seiner Jugend, Träumerei und Dummheit?

      Tom saß auf der feuchten Holzbank im Kleistpark, im Westen, wo er sich immer so fühlte, als würde er etwas verpassen. Ab und zu fuhr er »rüber« in den Ostteil der Stadt. Er kam immer mit leeren Händen und kaltem Kopf zurück, was nicht daran lag, dass er das Fahrrad nahm. In Kreuzberg, Friedrichshain und Neukölln waren alle hip und cool, dort vermischten neue Liedermacher und Rapper ihre Erfahrungen um und durch Berlin zu einem massenkompatiblen Brei, egal ob auf Instagram, bei Snapchat, in Podcasts.

      Tom fielen die Augen auf der Parkbank zu. Der Novemberblues hatte ihn vor zwei Monaten erwischt und seither nicht wieder verlassen. Berlin im Winter, eine kalte, deprimierende Angelegenheit. Tom wusste, dass er an einem Punkt angelangt war, der drastische Maßnahmen forderte.

      Er horchte in sich hinein, während die kalte, feuchte Januarluft durch seine Jeansjacke drang, aber er hörte nichts. Gar nichts. Ausgelaugt. Verbrannte Erde.

      Es antwortete keiner mehr und er war auch nicht Michael Douglas, der in so einem Moment in dem Film ­»Falling down« die Knarre nahm und Amok lief. Der deutsche Titel des Films fiel ihm ein: »Ein ganz normaler Tag«. Ja, das war es: Ein ganz normaler Tag im Januar in Berlin, an dem er herausfand, dass sein Leben so nicht mehr weiterzuleben war. Er konnte sich nicht mehr belügen. Er musste raus.

      Zigaretten holen gehen. Ein Satz seiner Kindheit, zu einer Zeit, in der Männer auf diese Art und Weise durchaus noch verschwinden konnten. In einer Zeit, bevor das Internet, Handys und Kreditkarten, das digitale Zeitalter, das menschliche Verhalten dauerhaft verändert hatten. Man konnte nicht verschwinden, da man immer digitale Spuren zurückließ.

      Er schaute auf sein Handy. Es war 17:30 Uhr. Der Regen war stärker geworden. Er hatte es kaum bemerkt. Tom stand auf und nahm sich vor, nie wieder im Januarregen auf der Bank im Kleistpark zu sitzen.

      Sie hatte gestrichen die Schnauze voll. Von allem. Seit Langem!

      Seit fünfzehn Minuten starrte sie an die alte wurmstichige Holzdecke des Hauses, das seit 1782 hier in der Flussbiegung stand, und zählte, wie jeden Morgen, die Furchen des mittleren tragenden Balkens. Erst wenn sie bei 93 angekommen war, erhob sie sich seufzend aus dem Bett. Heute stoppte sie bei 54. Jeder Knochen tat weh. Warum aufwachen, warum das Leben weiterleben, so tun als ob, für wen, wie lange noch? Verdammt, heute war der Himmel grauer als sonst, genau wie ihre Seele. Am besten gleich in die Oste springen und ertrinken, das Leben war keine Alternative mehr zu ihren Albträumen. Seit den 3500 Tagen und Nächten in einer Gefängnis­zelle war es eh mit ihrer Nachtruhe dahin, auch noch nach zwei Jahrzehnten. Der Regen trommelte an das Fenster. Es war erst 7 Uhr an diesem nassen Aprilmorgen. Viel stand heute nicht auf dem Zettel, das Übliche: Kaffee kochen, die erste Zigarette, die Katzen füttern, die Küche wischen, die zweite Zigarette. Gott sei Dank liefen die neuen Folgen von »Rote Rosen« wieder, ihre einzige Ablenkung bis zum Abend.

      Es war Donnerstag, der erste im Monat, da mussten die Pillen geordnet werden. Einen Schlaganfall hatte sie vor fünf Jahren gut überstanden, aber Diabetes war kein Zucker­schlecken. Sie lachte bitter auf, kein Zuckerschlecken! Zucker war neben den dreißig Zigaretten und zwei Litern Kaffee pro Tag das Einzige, das sie wachhielt. Scheiß auf die Gesundheit. Vierundzwanzig Pillen am Tag hielten sie fit genug. Heute Nachmittag galt es alle 720 Pillen für den Monat in 30 kleine Behälter zu sortieren.

      Sie kotzte sich selbst an.

      Verdammter erster April!

      Das Haus lag am Deich, aber den hatte sie vor Jahren das letzte Mal betreten. Dahinter floss die Oste. Das Land um Claras Gehöft gehörte zur Apfelplantage des neuen Bauern, der alles auf Demeter machte. Sie hasste den Typen, denn er hielt sie mit seinen stundenlangenTraktor­fahrten in der Nacht wach. Schwefelbestäubung nannte er es. Für sie war es reine Schikane! Das machte er nur, um sie zu ärgern! Man sollte ihn einfach in seine Kühlhalle einschließen und verenden lassen.

      Ihr Blick glitt von der Decke an die Zimmerwand. Es nutzte nichts, das Kopfkino war an und drehte sich so lustig wie das Rad einer Windmühle bei Windstärke acht. Zeit, sich abzulenken, irgendwie weiterzumachen. Sie würde nicht in den Fluss springen.

      Damals, im Gefängnis, hatte sie oft davon geträumt. Aber die Wirklichkeit war anders als ihre Träume, die immer unerfüllt geblieben waren. Sie stand auf, nahm die Zähne aus dem Wasserglas auf dem Nachttisch und schob sie sich in den Mund. Dann ging sie in die Küche, um Kaffee zu kochen.

      Der Hund wedelte nicht mit dem Schwanz oder mit dem, was von ihm übrig geblieben war. Tat er selten. Besonders nicht am Morgen. Als ob es ihm peinlich wäre. Er schaute auf, schien Tom kurz zuzunicken, drehte sich einmal auf dem alten Sessel im Kreis und rollte sich wieder zusammen. Schoko.

      Vor drei Wochen hatte Tom den Labrador-Vizsla-Mischling aus dem Tierheim und in die alte Bauernkate am Ende des Deichs geholt. Es schien dem Hund völlig selbstverständlich, mit stolzen sechs Jahren noch adoptiert zu werden und nun ein Landleben zu führen. Er ließ sich zwar streicheln, war aber unabhängig, nicht dauernd nach Liebe und Aufmerksamkeit hechelnd wie so manche anderen gebrannten Hunde, die aus Heimen kamen. Er schaute gerne Fernsehen und verfolgte aufmerksam die ersten Schafe auf dem Deich, ohne zu bellen. Er beobachtete alles mit intensivem Interesse: nicht nur die Schafe, die Fasane, die Möwen auf dem Deich. Auch die Serien auf Netflix, die Tom abends schaute. Am liebsten beobachtete er Tom. Anfangs hatte es ihn gestört, inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, dass ihm zwei dunkelbraune Augen folgten. Es gab ihm irgendwie ein Gefühl von Sicherheit hier in der Einöde der norddeutschen Tiefebene. Das war auch Voraussetzung für sein neues Leben in einem Haus, zu dem ein Feldweg führte und wo das Internet nicht immer reibungslos funktionierte.

      Seit sechs Wochen lebte Tom dieses Leben fern von Berlin. Jeden Morgen prasselte der Regen auf das reetgedeckte Dach des ehemaligen Gesindehauses. Er machte den beiden nichts aus. Das kleine Haus hatte vor vielen Jahren zu dem Gutshof gehört, der in der alten Apfelplantage im Ostebogen lag. Der Vormieter war ein besessener Hobbyrestaurator und hatte im Einverständnis mit dem Eigentümer große Glastüren einbauen lassen, wohl wissend, wie dunkel die Winter im Norden waren und wie lange sie dauern konnten. Tom hatte das Häuschen per Zufall im Internet gefunden, seine Vorfahren kamen aus dieser Gegend und sein Ururgroßvater Wilhelm Morten, durch dessen Firma in Illinois die Familie Morton zu Reichtum gekommen war, hatte hier für kurze Zeit auch mit einer norddeutschen Zementfabrik aus der Nähe zusammengearbeitet. Toms Vater war schon lange tot, wie so viele Männer in seiner Familie war er nicht alt geworden. Stockard, Toms versteinerte Mutter, hatte den Nieder­gang der Firma in den späten Neunzigerjahren dann nur noch aus ihrem Alkoholnebel verfolgt und war vor zehn Jahren mit einer