Michael Reh

Asta


Скачать книгу

eine Träne nach. Geerbt hatte er genug, eine vermögende Schwester seines Vaters hatte sich großzügig gezeigt und zusammen mit einem bei seiner Geburt angelegten Trust Fond hatte er sich erst sein Atelier in New York und dann später in Berlin einrichten können.

      Seitdem er sich an jenem nassen Novembertag im Kleistpark entschlossen hatte, Berlin zu verlassen, erfasste ihn immer wieder eine seltsame Lethargie, die er interessiert beobachtete. Er wusste, dass sich sein Leben geändert hatte. Er hatte nicht mehr vor, sich selbst zu belügen. Seine Kreativität war geblockt, er konnte nichts mehr erschaffen aus den Materialien, die ihn umgaben. Seine fünfzehn Minuten in der Berliner Kunstszene waren vorbei. Wohin die Reise gehen sollte? Die Frage konnte er sich nicht beantworten. Noch nicht! Kreativität und Druck war keine passende Kombination. Eine Auszeit würde ihm guttun. Er spürte es jeden Tag trotz Kälte, Matsch, Regen und Schokos Blick.

      Tom fiel das Franzbrötchen im Brotkorb ein und stand auf, ging die alte Stiege hinunter und setzte Wasser auf. Landleben pur, dachte er. Keine Jura-Kaffeemaschine, sondern ein alter Porzellanfilter von Melitta. Er hatte das Haus voll eingerichtet vom detailbesessenen Besitzer angemietet, hatte nichts mitnehmen wollen aus Berlin, aus seinem alten Leben. Kaffee schmeckte auch, ohne durch eine tausend Euro teure Maschine auf Knopfdruck zu fließen!

      Nach zwanzig Jahren Hetze durch die Welt, die ihn von New York über einige Zwischenstationen nach Berlin und schließlich hierhergebracht hatte, genoss es Tom, als er auf den nassen Deich schaute, während sein Franzbrötchen im Ofen warm wurde und einen Zimtgeruch im Haus verströmte, dass er nichts weiter hörte als das Tropfen des Kaffees, der durch den Filter drang, und das leise Schnarchen seines vierbeinigen Freundes über ihm.

      Es war genug in diesem Moment.

      Frauke Schlichting war stolz. Endlich hatte auch sie einen Instagram-Account. Sie wollte weder unter ihrem eigenen Namen dort auftauchen noch Bilder von ihren Kindern posten, aber dennoch teilhaben an der großen Welt, die sie glaubte in den sozialen Netzwerken zu finden.

      Mit achtzehn hatte sie ihr erstes Baby bekommen. Der Vater, Leo, Sohn eines Autohausbesitzers in Stade, machte sich schnell vom Hof und so saß sie allein mit dem Kind und einem Leben da, was bereits zu Ende schien, bevor es angefangen hatte. Keine gute Zeit. Lange Tage und noch längere Nächte, erfüllt von Babygeschrei und dem Geruch der Joints, die sie rauchte. Aber Frauke hatte es dann doch noch gepackt. Sie schmiss das grüne Zeug ins Klo und wurde Sportfachfrau, bekam einen Job in Wiepenkathen im Fitnesscenter. Sie fühlte sich wohl dort. Sie traf Martin. Schön war er nicht mit seiner großen Nase und den schiefen Zähnen, aber ausgezogen sah er aus wie ein griechischer Satyr und Frauke hatte endlich Spaß im Bett. Sie bekam zwei weitere Kinder. Söhne! Das hätte ihren Vater Christian gefreut, dachte sie oft, aber der war vor fast zwanzig Jahren spurlos verschwunden. Einfach so! Eine Untersuchung hatte nichts ergeben, obwohl der Fall Christian Cordes, leitender Kommissar bei der Kripo, damals großes Aufsehen erregt hatte. Nach zwei Monaten war der Fall ad acta gelegt worden.

      Stell_dich_mitten_in_die_Welt. Das war ihr Instagram-Name. Sie war auf dem Weg ins Wilde Moor, nahe der Stadt. Es regnete immer noch, typisches Schietwetter, mit dem der Monat April startete. Wer hier lebte, musste sich mit Regen und vom Wind gepeitschten Wolken am Himmel abfinden. In Hammah stand sie am Bahnübergang, der Interregio nach Hamburg würde gleich vorbeikommen. Es war kurz vor 13 Uhr. Sie nahm ihr Handy aus der Leinentasche, während sie wartete, und schaute auf ihren Account. Stell_dich_mitten_in_die_Welt hatte 2 Posts und 4 Follower!

      Sie hatten ein Grundstück im ehemaligen Moorgebiet gekauft. Heute würden die Bagger kommen und anfangen, den Keller auszuheben. Ihr eigenes Haus! Endlich! Das war doch mal ein Ereignis für einen Post, auf den das halbe Fitnesscenter wartete! Trotz der niedrigen Temperaturen wallte Hitze in Frauke auf, Freude erfüllte sie und sie lachte sich selbst im Rückspiegel an. Die Schranke ging hoch und nach zehn Minuten war sie schon fast im ehemaligen Wilden Moor. Der Regen hatte nachgelassen und sie konnte die Bagger bereits erkennen. Zu ihrer Verwunderung erkannte sie auch zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei, und, als sie näherkam, den alten Mercedes von Babette Petersen.

      Babette! Was hatte die denn hier zu suchen? In der Grundschule waren sie dicke Freundinnen gewesen. Ihre Väter arbeiteten beide in Stade bei der Mordkommission, aber auf dem Gymnasium waren sie in unterschiedliche Klassen gekommen und hatten sich zunehmend aus den Augen verloren. Auch hatte Babette nach dem Abi dieselbe Laufbahn wie ihr Vater eingeschlagen, da war in ihrem Leben kein Platz mehr für Normalos wie Frauke gewesen, die nach der zehnten Klasse die Schule verlassen hatte.

      Kiffelse hatte man sie genannt. Bahnhofs-Looser. Mit einem ärgerlichen Knurren wischte sich Frauke die Vergangenheit wie eine lästige Fliege von der Stirn und parkte ihren Twingo neben Babettes eierschalenfarbenen Mercedes, den jeder in der Gegend kannte. Sie stapfte durch den Baustellenmatsch auf ihre Grundschulfreundin an der Baugrube zu und konnte nicht ohne Genugtuung feststellen, dass die Hauptkommissarin immer noch einige Kilos zu viel auf den Hüften hatte. Das konnte sie auch in ihrem knielangen Kaschmirmantel nicht verbergen.

      »Moin.« Frauke nickte den Bauarbeitern zu und ging zielstrebig auf Babette zu. Neben ihr stand Heiko Degen, ewiger Zweiter in der Rangordnung. Blond, drahtig, ein schöner Mann. Leider verzaubert. Er musste Babette wahrscheinlich erst umbringen, bevor er Erster Hauptkommissar werden konnte. Auch ihn kannte Frauke vom Gymnasium, Stade war ein Dorf, jeder kannte jeden.

      »Hallo, Frauke.« Babette nickte ihr unter dem ­großen schwarzen Regenschirm distanziert zu. Die Augenbrauen perfekt gezupft, die blonden Haare akkurat im Pagenschnitt. Das war kein Zwanzig-Euro-Schnitt, dachte ­Frauke neidisch. Aber sie baute ein Haus und hatte drei Kinder. Wer hatte schon Zeit, sich die Augenbrauen zu zupfen, und wofür auch, das war hier schließlich nicht Hamburg! Heiko lächelte ihr freundlich zu, und sie fragte sich, ob er jemals aufwachen würde.

      Sie erwiderte sein Lächeln mit einem kurzen Nicken und starrte weiter in die Baugrube. Was war hier los? Auf dem durchnässten Boden stand ein kleiner Bagger, in dessen Schaufel ein langer dunkler Müllsack lag, der am oberen Ende aufgeplatzt war. Sie wollte Babette gerade fragen, was das ganze Theater auf ihrem Grundstück solle, als das Handy der Kommissarin klingelte. Der Bagger­führer bewegte die Baumaschine langsam, um den verwitterten Plastiksack mit Inhalt vorsichtig am Grubenrand abzulegen. Doch bevor er die Schaufel absenken konnte, fiel der Sack aus einem Meter Höhe direkt neben Frauke auf den Boden und platzte auf. Sie starrte fassungslos auf den Inhalt und fiel dann ohnmächtig vor Heiko Degen in den Matsch.

      Die Küche war gewischt, die Pillen sortiert und sie hatte die ersten acht Zigaretten geraucht. Es war halb zwei, es regnete immer noch. Clara saß auf dem Sofa. Die Katzen Bünting und Onken, beide mindestens ein gefühltes halbes Jahrhundert alt, schwänzelten um sie herum, obwohl ihre Essenszeit erst gegen 16 Uhr war.

      »Nichts gibts, macht euch vom Acker!«

      Unwirsch verscheuchte Clara die pelzigen Ungeheuer, die ihre Haare früher als in den Jahren zuvor verloren und diese, so schien es ihr, im ganzen Haus strategisch verteilten, sodass auch ihr tägliches Geputze wenig half.

      Noch eine halbe Stunde, bis »Rote Rosen« anfing. Sie wusste um die Banalität dieser Schmonzette, die, außer am Wochenende täglich lief, aber es machte sie zumindest einmal am Tag glücklich. Beim »Trödeltrupp«, »Frauentausch« und anderen Trash-Formaten der Privatsender fühlte sie sich wohl, denn sie merkte dann, dass es anderen noch schlechter ging als ihr und Einsamkeit überall herrschte. Sie sah gerne Menschen scheitern. Aber gegen »Rote Rosen« kam nichts an! Einmal am Tag raus aus ihrem Leben und eintauchen in das der anderen! Sie war schon fast auf Entzug, wenn die neuen Staffeln zu Ende waren und sie sich gezwungenermaßen die Wiederholungen anschauen musste.

      Clara drückte die Zigarette aus, Nummer neun an diesem ersten April, und schaute in den Garten. Geld für einen Gärtner gab es nicht mehr, und sie musste notgedrungen versuchen, auch da Ordnung zu halten. Kein leichtes Unterfangen bei sechstausend ­Quadratmetern, auch wenn das meiste davon Rasen war. Vor dem Wohnzimmer­fenster lag der alte Bauerngarten. Rechts daneben der Rosengarten, die beiden kleinen Teiche, die alten Birken. Die Buchsbaumhecke war inzwischen fast einen Meter hoch und