Michael Reh

Asta


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in altdeutscher Schrift, Äpfel und Säfte. Er fuhr links in den alten, ungeteerten Feldweg rein, das Auto schaukelte bei jedem Schlagloch.

      Himmel, also asphaltieren hätten sie den langen Weg wirklich können, typisch Ökobauer, dachte Babette, die auf der ganzen Fahrt keinen Ton von sich gegeben hatte. Nach einer endlos langen Schaukelei machte der Feldweg eine Kurve und sie standen vor einem verschlossenen Gatter. Heiko stieg aus dem Auto und versuchte, einiger­maßen trockene Schuhe zu behalten. Seine Gummi­stiefel hatte er im Kofferraum seines Wagens vergessen, das noch an der ersten Fundstelle im Wilden Moor stand. Definitiv ein Fehler! Er öffnete das quietschende Gatter, stieg wieder ins Auto und zuckte mit den Schultern, als er Babettes vorwurfsvollen Blick sah.

      »Was soll ich machen? Ich kann nicht übers Wasser laufen, wie du weißt. Keine Angst, der Fußboden trocknet schon wieder.«

      Ihr Handy klingelte. Sie verdrehte die Augen, als sie sich meldete: »Petersen!« Sie zog die Vokale in ihrem quengeligen Tonfall in die Länge. Genervt hörte sie der Stimme am anderen Ende zu. »Ja, natürlich brauchen wir Verstärkung. Ich habe bereits vier Beamte an der Fundstelle im Wilden Moor, und einen Notarzt, da eine Zivilistin in Ohnmacht gefallen ist. Also schicken Sie gefälligst einen Streifenwagen und einen Leichentransport zur neuen Fundstelle. Heiko, wie heißt die Straße noch mal? Was sag ich da, Straße!« Sie rümpfte die Nase. »Es ist nur ein Feldweg. In der Borke heißt er. Und wenn Sie Frau Römer erreichen sollten, sie soll mitkommen. Es wird sich ja wohl keiner freiwillig zum Sterben in einen Baumstumpf legen. Eine Rechtsmedizinerin am Fundort scheint mir also sinnvoll. Wir sind gleich da.«

      Ungeduldig hörte sie auf die Fragen am anderen Ende der Leitung. »Nein, Frau Sievers, ich denke, ein Streifenwagen genügt. Der Mörder wird wohl nicht am helllichten Tag auf dem Grundstück rumlaufen oder neben der Leiche im Baumstumpf hocken.«

      Gisela Sievers war die gute Seele der ­Polizeiinspektion Stade und arbeitete dort als Sekretärin beim FK 1. Sie war schon über sechzig, eine Quasselstrippe, und hatte immer ein offenes Ohr für jeden. Ihre Vorliebe für selbst ­gestrickte Handschuhe und Mützen war bekannt. Babette mochte sie nicht, aber Frau Sievers gehörte zum Inventar und hatte bereits für Babettes Vater gearbeitet.

      Heiko fuhr weiter und sie konnten jetzt den Hof und das alte Gebäude links daneben sehen.

      »Ich stelle mal auf Lautsprecher. Heiko wird mithören. Erzählen Sie bitte kurz, was uns erwartet und wem das Grundstück gehört.«

      Gisela Sievers räusperte sich und sprach wie immer mit ruhiger und freundlicher Stimme: »Hallo, Heiko, also, der Anruf kam vor dreißig Minuten von einem gewissen Thomas Morten. Er hat die Leiche gefunden, als er mit seinem Hund spazieren war. Er wohnt ebenfalls in der Borke am Ende des Deiches in einem alten Gesindehaus, der Besitzer ist ein Hamburger Anwalt. Herr Morten hat es vor einigen Wochen gemietet. Die ­Apfelplantage ­gehört Malte Jensen, aber die Leiche wurde in einem Baumstumpf gefunden, der zu einem Einlieger­grundstück auf der Plantage gehört. Es ist das alte Fachwerkhaus, die Besitzerin ist eine gewisse Clara Jolcke, soviel ich in Erfahrung bringen konnte. Sie hat einen alten R4, der auf ihren Namen zugelassen ist. Frau Jolcke ist Jahrgang 1950 und lebt seit Ende des Jahres 1995 in dem Altbau.« Sie stockte. »Oh Mann, das gibt’s doch nicht!«

      Heiko fuhr jetzt nach links und sah den großen Baumstumpf. Daneben einen Mann in Regenmantel und Mütze und einen durchnässten Hund. Das musste Thomas Morten sein.

      Babette ballte die linke Faust. »Und? Was gibt es sonst noch Wichtiges? Um Himmels willen, was hat Ihnen denn jetzt die Sprache verschlagen?«, schnauzte sie Gisela an.

      »Ich glaube, Sie sollten doch mehr Verstärkung anfordern. Clara Jolcke hat zehn Jahre in Haft gesessen, wegen eines Doppelmordes.«

      Sie schrie, so laut sie konnte. Die Schmerzen waren fast nicht auszuhalten. Seit Stunden lag sie nun auf dem Heu und wartete auf Erlösung. Aber immer wieder schüttelten neue Wellen ihren kleinen, schmalen Körper. Sie wünschte, sie wäre tot. Wut stieg in ihr hoch, denn es war ihre eigene Schuld, dass sie an diesem Abend des 11. Mai 1925 machtlos im Stall lag und sich die Seele aus dem Leib schrie.

      Das Drama hatte vor einem Jahr begonnen. Sie, die mittel­lose Waise ohne Familie, war stolz, die Stelle als Magd bekommen zu haben. Der Pfarrer hatte ihr die Arbeit auf dem großen Anwesen verschafft. In den ersten Tagen hatte sie Angst, dass alles nur ein Traum war, denn der Hof lag in der Nähe der neuen Villa, die sich der Direktor der riesigen Fabrik bauen lassen hatte. Fast zweitausend Menschen arbeiteten dort. Aus der großen Baugrube legte sich eine hauchdünne graue Schicht über alles.

      Der Hof versorgte die Anwesen des Direktors und der höheren Angestellten, deren Häuser in unmittelbarer Umgebung lagen. Sie melkte Kühe, mistete die Ställe aus, holte Eier, wusch die Wäsche, machte das Frühstück und war mehr Hausangestellte als Magd. Der Frühling war warm, und sie arbeitete oft im Garten, der gleich neben der Auffahrt zur Villa lag.

      Im Juni sah sie ihn zum ersten Mal. Sie wusste nicht, was Liebe war, aber ihr Herz zog sich jedes Mal zusammen, wenn er im Automobil vorbeifuhr oder morgens ausritt. Natürlich sprachen sie nicht miteinander. Wenn er sie sah, lächelte er manchmal.

      An einem Augusttag hatte sie frei und ging mit Inga, der anderen Magd, zur Filmvorführung. Durch die Fabrik gab es so viele neue Familien und Arbeiter in der Gegend, dass man einmal in der Woche im Gemeindesaal einen Film zeigte. Dort sah sie zum ersten Mal Asta Nielsen in einem Film mit dem Titel »Rausch«. Die Bilder verankerten sich tief in ihrem noch kindlichen Geist. Sie war achtzehn Jahre alt.

      Nach der Ernte im September gab es ein großes Fest. Auch die Arbeiter vom Hof waren in den Garten der Villa eingeladen. Sie trank zum ersten Mal Wein, sah ihn aus der Nähe. Gegen Mitternacht torkelte sie zurück auf den anliegenden Hof, die Kühe mussten um fünf gemolken werden. Er war ihr gefolgt und alles ging schnell, es war wie im Traum und tat ihr, die Sinne vom Wein benebelt, nicht weh. Als der Wecker klingelte, konnte sie ihn noch schmecken und wusste, dass es passiert war. Sie sah ihn zwei Mal in den nächsten Tagen, doch er schaute zur Seite.

      Mitte Oktober reiste er ab und im Januar wusste sie, dass sie sich umbringen musste. Was sollte sie tun? Keine Familie, keinen Halt, keinen Mann und bald von allen verachtet, die sie umgaben. Die Bäuerin hatte jedoch Erbarmen mit ihr und setzte sie nicht auf die Straße, aber sie blieb die letzten Monate nur im Haus und verließ den Hof nicht mehr. Sie war klein und zart, trug riesige Blusen und eine große Schürze, sodass es den meisten kaum aufgefallen war.

      Erneut verkrampfte sich alles in ihr, und die Schmerzen waren so groß, dass sie glaubte, zerrissen zu werden. Irgendwann war es dann vorbei. Keiner hatte sie darauf vorbereitet, wie es sich anfühlen würde, ein Kind zu gebären. Mit einem letzten Schrei und dem Rest ihrer Kraft presste sie das Baby aus sich heraus und wünschte, es wäre tot. Die Bäuerin klopfte dem blutverschmierten Bündel kräftig auf den Hintern, das Baby schrie aus voller Lunge. Sie legte es Minna auf den Bauch und das kleine Wesen schaute sie erwartungsvoll an. Ein Hauch von Hoffnung durchzog ihr dunkles Gemüt.

      »Und, wie soll sie denn nun denn nun heißen?«, murmelte die Bäuerin und wusch sich die ­blutverschmierten Hände. Irgendwo blökte ein Schaf. Minna sah ihre Tochter an, der sie nichts geben konnte als einen Namen. »Asta, wir nennen sie Asta.«

      Toms Mütze war vollkommen durchnässt, das Wasser tropfte an ihm herunter. Schoko saß vor ihm und sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich kann auch nichts für das Wetter, Dicker! Immer noch besser als das Tierheim oder die Wurstfabrik!«

      Sein Magen knurrte. Mittagszeit verpasst! Schoko drehte sich um und wandte ihm den nassen Rücken zu. Tom zuckte mit den Achseln und wünschte, er hätte einen Schirm mitgenommen, aber wer erwartete schon eine Leiche zum Dessert nach einem Mittagessen, das er noch nicht hatte? Der Tag gestaltete sich anders als erwartet. Das hatte doch nur ein kleiner Spaziergang werden sollen. Plötzlich vermisste er Berlin, sein Atelier, den Ton in seiner Hand, der etwas Neues formen konnte.

      »Geh aufs Land, hol Zigaretten, mach Pause, finde dich selbst, dann wird die Kreativität schon wiederkommen.« So ein Quatsch. Jetzt stand er hier