Michael Reh

Asta


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als Tom Morten sie beim Spaziergang entdeckte. Heiko lehnte die Stirn an die kalte Scheibe.

      Tom. Cooler Typ, Amerikaner, neu in der Gegend, attraktiv und unerreichbar. Heiko wusste sofort, dass er da schieflag. Auch gut. Er musste ihn heute anrufen, könnte aber auch vorbeifahren, es waren nur zwanzig ­Minuten mit dem Auto. Er ging ins Bad, um sich zu duschen, machte vorher noch die Stereoanlage an, und während er sich den Kopf einseifte, sang Agnetha von ABBA seinen Lieblingssong, »The Day Before You Came«. Ein trauriges Lied über eine Frau, die Selbstmord begehen wird. Warum ihn das so faszinierte, konnte er nicht sagen. Vielleicht war es der Rhythmus, vielleicht die Stimme der blonden Schwedin, mit der sie so wunderbar weinen konnte. Oder es lag an der unerträglichen Schwere des Seins? Was wusste er denn schon? Heiko sang das Lied laut mit. ABBA funktionierte immer, besonders an diesem grauen Montagmorgen im April.

      Kurze Zeit später stand er frisch geduscht und angezogen wieder am Fenster und trank seinen zweiten Espresso, ein Ritual, das sich jeden Morgen wiederholte. Jeans, T-Shirt, grauer Kaschmirpullover, alte Lederjacke. Es waren nur zehn Minuten zu Fuß bis in die Inspektion, und er überlegte kurz, ob er bei dem Regen nicht doch besser fahren sollte, verwarf den Gedanken aber sofort. Es gab nur falsche Kleidung und kein falsches Wetter, und wer hier im Norden lebte, an dem perlte das Wasser irgendwann nur noch ab! Er nahm den großen Regenschirm aus dem Schrank.

      Petra Harlor. Wer hatte sie ermordet und warum? Sie hatten die Leiche mit einigen Mühen aus dem Baumstumpf herausgeholt. Petra Harlor war zwar nicht groß, brachte aber mindestens achtzig Kilo auf die Waage. Die Laborergebnisse würden heute Morgen kommen. Keine Schusswunde. Einige Ritzer auf der Gesichtshaut, sonst nichts. Die Autopsie war abgeschlossen. Gift? Höchstwahrscheinlich!

      Clara Jolcke hatte den Mord an ihrer Putzfrau sehr gefasst aufgenommen. Hatte sie etwas mit ihrem Tod zu tun? Nur weil sie ihren Mann und seinen Lover vor Jahrzehnten erschossen hatte, musste sie ja jetzt nicht die Putzfrau umbringen.

      Dennoch, irgendjemand hatte die arme Frau in den Baumstumpf gestopft. Wenn sich Mortens Frisbee­scheibe nicht dorthin verirrt hätte, wer weiß, wann die Leiche entdeckt worden wäre. Oder sollte sie gefunden werden? Der Mörder hätte sie auch irgendwo in dieser Einöde vergraben können. Das Haus lag weit vom Schuss. Heiko hatte bisher nicht gewusst, dass es dort ein Anwesen gab. Wie konnte Clara Jolcke dort leben? Allein, mit den beiden Katzen, ohne Sozialkontakte! Internet hatte sie und einen riesigen Flachbildschirm gab es in ihrem kleinen verqualmten Fernsehzimmer auch. Die Frau rauchte Kette und trank Kaffee. Angeboten hatte sie ihm allerdings keinen.

      Dieses Haus. Heiko war auf Anordnung von Babette am Freitag noch einmal hingefahren und hatte sich mit einem Durchsuchungsbeschluss umgeschaut. Die Jolcke hatte keine Probleme gemacht, sie hatte wohl damit gerechnet, dass sie unter Verdacht stehen würde. Gefunden hatten sie vorerst nichts. Keine Waffen, keinen geheimen Giftschrank. Aber das Haus war groß und vollgestopft mit Dingen, die Clara Jolcke in den letzten Jahrzehnten angesammelt hatte. Besonders überrascht hatte ihn der Raum im ersten Stock, zu dem nur die schmale Stiege neben dem Kamin führte. Er war knapp zwei Meter hoch, aber mindestens fünfzig Quadratmeter groß und wurde nur mühsam von drei kleinen Fenstern erhellt. Es mussten fast zehntausend Bücher in den Regalen stehen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Es waren vor allem Krimis, englische Autoren, aber auch Biografien, Zeitschriften, Journale, mehrere Brockhaus-Editionen und Unmengen von Bildbänden. Kunst, alles von Raffael über Goya bis zu Otto Dix, von der Renaissance bis zur Moderne. Die Tenne glich dafür eher einem riesigen Secondhandladen, in dem neben drei Sonnenbänken, einem alten Cabriolet und kaputten Fahrrädern viele andere unbrauchbare Dingen standen.

      Heiko konnte Unordnung nicht ertragen. Er sammelte nichts, alte Kleidung wanderte in den Container, Zeitungen wurden am Abend entsorgt. Krimskrams und Nippes waren ihm ein Gräuel. Seine Mutter hatte ihn zur Weißglut getrieben mit ihrer Sammelleidenschaft. Kriegsgeneration. »Wer weiß, wann es wieder was gibt.« Da wurde nichts weggeschmissen!

      Zwar war Clara Jolcke nicht besonders ordentlich, aber sie putzte anscheinend gerne, denn das Haus und besonders die Küche waren sauber, spiegelblank. Petra Harlor hatte ihr dabei geholfen, würde sie es nun allein schaffen? Eine gute Hilfe zu finden, war nicht einfach. Sprach das nicht schon gegen Clara Jolcke als Täterin? Vielleicht war es jemand aus Petra Harlors Familie und man wollte ihr den Mord in die Schuhe schieben? Es war ja bekannt, dass sie eine verurteilte Mörderin war. Auf dem Dorf blieb nichts ein Geheimnis, das wusste Heiko nur allzu gut.

      Oder hatte Malte Jensen, der Apfelbauer, etwas damit zu tun? Tom Morten konnte man wohl als Mörder ausschließen. Er war neu hier und hatte die Leiche gefunden, obwohl das auch ein Ablenkungsmanöver sein konnte. Heiko strich sich die blonden Locken aus der Stirn. Viele Fragen und bisher keine Antworten.

      Und dann die andere Leiche. Gut erhalten, vom Moor konserviert. Die arme Frauke Schlichtung, die erst in Ohnmacht gefallen war und ihm danach noch auf seine Sneakers gekotzt hatte. Es handelte sich um die Leiche eines etwa vierzig Jahre alten Mannes. Heute kam hoffent­lich eine Rückmeldung von den Zahnärzten, an die man den Zahnstatus weitergegeben hatte, um den Mann damit identifizieren zu können. Eines natürlichen Todes war er jedenfalls nicht gestorben, das stand fest, seine Hände waren mit einem grünen Plastikband gefesselt. Wie lange die Leiche dort gelegen hatte, würde er heute erfahren. Das konnte ja eine nette Woche werden. Heiko stellte die Kaffeetasse in die Spülmaschine, nahm nicht die Lederjacke, sondern seinen Regenmantel und verließ das Haus. Es war zehn vor acht.

      Dr. Gabriele Römer beugte sich über ihr Mikroskop. Sehr interessant, dachte sie, das habe ich auch lange nicht mehr gesehen. Sie griff zum Telefon und rief das Labor in Hamburg an.

      »Guten Morgen, Römer hier, Rechtsmedizin. Ich habe vorhin die Untersuchungsergebnisse zum Fall Harlor bekommen. Wann kann ich denn mit den Ergebnissen von der anderen Leiche rechnen?« Ungeduldig hörte sie zu. »Ja, es ist mir klar, dass die Leiche bereits seit Jahren plastikverpackt im Moor lag, ich habe sie ja selbst am Freitag obduziert. Aber ich benötige weitere toxikologische Ergebnisse. Details standen in den Unterlagen, die Ihnen zusammen mit den entnommenen Proben und der Genehmigung des Staatsanwalts zugeschickt worden sind. Und es muss schnell gehen.«

      Sie runzelte die Stirn. »Der Fall hat höchste Priorität. Sie wissen doch inzwischen auch, um wen es sich bei dem Toten handelt, schließlich haben wir einen bestätigten Zahnstatus. So viel sind wir dem Opfer ja wohl schuldig, auch wenn Sie anscheinend zu jung sind, um wirklich zu verstehen, wer er war!«

      Ohne sich zu verabschieden, legte sie auf. Gabriele hasste dieses kleinbürgerliche Spießerdenken, diesen Erbsenzählern ging es nur um Regeln und Vorgänge. Und von denen unter dreißig hatte Gabriele die Nase voll! Immer mussten sie sich absichern und waren nicht bereit, selbst Prioritäten zu setzen.

      Ihr Herz pochte laut und schnell und ein kleiner Hitzeschwall durchfuhr sie. Immer ruhig bleiben, dachte sie. Gleich würde die Petersen kommen und vor der wollte sie sich nichts anmerken lassen. Sie schaute auf die Uhr, es war kurz vor neun. Madame war immer zu spät, sie hatte also noch ein paar Minuten Zeit.

      Erst passierte jahrelang nichts Außergewöhnliches in der Stadt und dann gleich zwei Leichen in der letzten Woche. Gabriele setzte sich an ihren Computer, legte die Hände vors Gesicht und ein Seufzer kam tief aus ihrer Brust. Die Erinnerung kehrte zurück. Es tat immer noch weh, auch jetzt nach all den Jahren.

      Irgendwie hatte sie immer gehofft, dass er zurückkommen würde, obwohl das natürlich ein absurdes Wunschdenken war. Eigentlich hatte sie damals schon gewusst, dass sie ihn niemals wiedersehen würde. Die Tränen schossen ihr in die Augen, verärgert wischte sie sie weg.

      Draußen klingelte es, die Rechtsmedizin betrat niemand einfach so, Christine Breuer, die Team-Assistentin würde öffnen. Das musste Heiko sein, wie immer fünf Minuten zu früh. Aber das war ihr immer noch lieber, als jedes Mal eine Stunde auf Babette Petersen zu warten. Gott sei Dank hatte sie mit dieser arroganten Kuh nicht viel zu tun. Heiko war ihr da eindeutig lieber. Sie prüfte noch einmal, ob sie alle verräterischen Tränen weggewischt hatte, und wartete auf das Klopfen an ihrer Tür.

      »Guten Morgen, Frau Römer, wie war das Wochenende? Ich hoffe besser als meins.« Heiko stellte einen dampfenden Becher mit heißer