Michael Reh

Asta


Скачать книгу

ist, lebt in La Salle, Illinois. Ich habe die letzten zwei Jahre in Berlin gearbeitet. Ich bin Künstler, Bildhauer, ich mache Skulpturen.«

      Ihr Blick war mehr als interessiert, fast schon durchdringend. »Und nun haben Sie die Nase voll von der Großstadt und den Menschen und suchen Inspiration in der Natur und der Einsamkeit, wie viele andere vor Ihnen. Sie haben sich den richtigen Ort ausgesucht. Ich bin sicher, Ihr Leben wird sich hier ändern. Viele Menschen kommen in diese abgeschiedene Gegend zwischen Stadt, Land und Fluss, um zu sich selber zu finden. Aber ich warne Sie, die Uhren ticken anders hier und Zeit gewinnt eine andere Bedeutung. Ich hoffe, Sie haben Geduld mitgebracht. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass das Schicksal Sie zu uns gebracht hat, ein wahres Geschenk. Ein neuer Nachbar! Das freut nicht nur Gloria.«

      Sie lächelte. »Verzeihen Sie einer alten Frau die Koketterie! Leider ist der Zeitpunkt etwas, wie soll ich sagen, ungünstig! Eine Leiche, die Polizei und eine Mörderin in der Nachbarschaft.« Sie lächelte ihn an.

      Wie alt mochte sie sein, dachte Tom. In diesem Moment hörte er den alten Dieselmotor von Clara Jolckes Renault aus der Ferne.

      »Ah, meine kleine Schwester.« Ihr entging sein erstaunter Blick nicht.

      »Ja, Clara ist ein Jahr jünger als ich. Seien Sie doch so lieb und gehen Sie jetzt. Clara ist etwas gereizt im Moment, verständlicherweise. Sie hatte gerade eine Vorladung zu einem Kommissar in Stade wegen dieser unglücklichen Situation mit der guten Petra und wird nicht in Besucherlaune sein, so wie ich sie kenne. Aber besuchen Sie mich doch recht bald wieder, es ist ja nicht so weit. Dann können wir weiterplaudern.« Sie öffnete ihre Handtasche. »Hier ist meine Karte, da haben Sie auch meine Handynummer, melden Sie sich einfach kurz vorher an, ich bin zwar fast immer hier, aber nicht immer auf Besuch vorbereitet. Auch ältere Damen sind eitel.« Sie legte den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. »Wie Sie sehen, habe ich meinen Humor nicht verloren.«

      Sie schaute an ihm vorbei und hob die Hand: »Ist das Ihr Hund?«

      Tom drehte sich um. Schoko saß in sicherer Entfernung vor der Scheune und beobachtete die beiden ohne eine Bewegung. »Ja, das ist Schoko. Komm her, Dicker, wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?« Tom schnalzte mit der Zunge, aber der Hund bewegte sich keinen Zentimeter und schaute zur Seite in den Garten. Seltsam, sonst begrüßte er Fremde doch und hatte keine Scheu. Tom stand auf, reichte Luisa von Bassen die Hand und verabschiedete sich. Noch einmal nahm er das Parfum wahr, das sie umgab.

      »Gehen Sie am besten durch den Garten, sonst treffen Sie noch auf Clara. Und vergessen Sie Ihr Fahrrad nicht.« Sie schaute ihm nach, als er mit Schoko zwischen den tiefhängenden Ästen der alten Tannen verschwand.

      Sina schaute ihn erstaunt an. »Du hast eben keine Kinder und weißt nicht, was das für eine Verantwortung ist. Zu deiner Information, falls du davon noch nie gehört haben solltest.« Sie zog ein wenig verächtlich die Augenbraue hoch. »Mir stehen zehn Tage Sonderurlaub pro Jahr zu, wenn meine Kinder krank sind. Und die werde ich jetzt in Anspruch nehmen müssen. Wenn dir das nicht passt, musst du dir jemand anderen zuweisen lassen, der mit dir an diesem Fall arbeitet, es tut mir leid, Heiko.« Ein trotziger Unterton lag in ihrer Stimme.

      Was sollte er dazu noch sagen? Sina nahm ihr Handy und verließ den Raum. Und er hatte gedacht, die Woche bisher sei schlecht gelaufen. Es gab immer eine Steigerungsmöglichkeit. Jetzt war auch noch Sina Missen weg, weil ihre Kinder die Masern hatten. Zwei Wochen Sonder­urlaub. Zumindest konnte er sich nicht anstecken.

      Babette lag immer noch auf der Intensivstation im Elbe Klinikum, ihr Zustand hatte sich nicht verbessert. Heiko war in den Ermittlungen zu der Leiche im Moor keinen Schritt weitergekommen, zu der Baumstumpfleiche, wie die Tageszeitungen in Stade die tote Petra Harlor inzwischen getauft hatten, ganz zu schweigen. Die Presse schlachtete beide Fälle aus. Kein Wunder, der Fund war eine Sensation und viele kannten den Namen Christian Cordes noch, erinnerten sich an sein spurloses Verschwinden. Eine Kleinstadt vergisst nichts.

      Keine Spuren am Tatort, keine Fingerabdrücke, kein Haar, absolut nichts hatte die Spurensicherung gefunden. Nur Kreidespuren in den Mündern der Leichen. Gott sei Dank hatte die Presse davon noch keinen Wind bekommen.

      Von Clara Jolcke hatte er heute Morgen auch nichts erfahren. Während der Befragung war sie eher feindselig gewesen, von Kooperation keine Spur. Irgendwie konnte er das auch verstehen, aber es brachte ihn in seinen Ermittlungen nicht weiter. Ohne einen Anwalt war in Zukunft nichts von ihr zu erwarten, da war er sich sicher.

      Heiko hatte die alten Prozessakten aus Hamburg angefordert. Clara Jolcke hatte sie auf dem Schreibtisch liegen sehen und keinen Ton gesagt. Obwohl sie mit der Waffe am Tatort verhaftet worden war, hatte sie bis zur Verurteilung darauf bestanden, unschuldig zu sein. Wer hatte dann ihren Mann und seinen Liebhaber erschossen? Hatte sie sich an Cordes gerächt und ihn umgebracht? Und wenn sie die Mörderin ihres Mannes und dessen Freundes war, hieß das nur, dass sie zu einer solchen Tat fähig war, unter bestimmten und vielleicht sogar nachvollziehbaren Gründen. Gab es solche Gründe auch für den Mord an ihrer Putzfrau? So wie die Jolcke heute vor ihm gesessen hatte, konnte er sich kaum vorstellen, dass diese kleine, ältere Frau in der Lage war, die dicke Petra Harlor in den leeren Baumstumpf zu stecken. Hatte ihr jemand geholfen? Er hatte nichts gegen sie in der Hand und hatte sie gehen lassen müssen.

      Heiko trommelte mit den Fingern auf den alten Prozess­akten herum. Was hatte er übersehen? Es fehlten ihm natürlich viele Informationen. Er sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte er einen Termin mit Tom Morten. Wenigstens etwas Nettes heute, dachte er.

      Er schlug einen der Ordner auf, in denen die Unterlagen zu dem alten Fall enthalten waren: Stellungnahmen, Skizzen, Verordnungen und Zeugenaussagen. Damals hatte man noch nichts digitalisiert. Er blätterte ihn durch. Im letzten Drittel fand er einen Umschlag, nahm ihn heraus. Bilder vom Tatort, der Mordwaffe, den Opfern. Der Mörder hatte aus kurzer Entfernung geschossen, zwei Schüsse ins Herz, nicht viel Blut. Heiko schaute sich die Bilder genauer an. Johann Jolcke war ein attraktiver Mann Ende dreißig, groß, mit blondem, welligem Haar. Er lehnte an der Wand, sackte leicht nach vorne ab. Reiner Fauck, halbnackt, behaart, lag seitlich auf dem Bauch. Heiko konnte den Blick nicht von dem Foto lösen und wusste, dass er etwas übersah. Seine Stirn juckte, ein Zeichen, dass etwas nicht stimmte. Er hatte früh gelernt, seinem Instinkt zu vertrauen. Er schob die Bilder unter den Scanner seines Computers. Einen Moment später erschienen sie auf dem Bildschirm. In Photoshop vergrößerte er die Aufnahmen und schärfte sie.

      Mit der Maus tastete Heiko sich über Jolckes Gesicht. Es war immer noch leicht unscharf. Heiko erkannte einige Blutspritzer, Falten um den Mund und den Augen, keine Bartstoppeln, Jolcke musste sich vor seinem Date mit seinem Liebhaber rasiert haben, auch der Oberkörper war unbehaart. Da er sitzend an der Wand lehnte, war das Gesicht seitlich etwas nach links unten gesackt und es sah aus, als hätte er ein Doppelkinn. Heiko zoomte näher an das Gesicht heran und wusste in diesem Moment, wonach er gesucht hatte. Auf der rechten Gesichtshälfte waren zwei Einkerbungen zu sehen. Es konnten keine Falten sein, dafür waren sie zu kurz. Heiko betrachtete den Bildschirm, dann nahm er den Umschlag mit den anderen Fotos. Da musste doch noch eine Nahaufnahme des Gesichts dabei sein. Einen Moment später fand er, was er suchte. Volltreffer. Was war mit Fauck? Heiko fand keine Einschnitte auf seiner Wange. Seltsam. Er nahm die Fotos von den Gesichtern der beiden Opfer und scannte sie. Heiko schärfte sie im Photoshop und erhöhte die ­Kontraste. Es bestand kein Zweifel mehr. Aufgeregt nahm er den Telefonhörer. Es klingelte zweimal.

      »Römer.«

      »Haben Sie einen Moment Zeit? Ich muss Sie sofort sprechen. Ich komme zu Ihnen, bin in ein paar Minuten da. Checken Sie in der Zwischenzeit bitte Ihre Mails.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf und schickte die Bilder per E-Mail an Gabriele Römer, bevor er aus der Inspektion stürmte.

      Gabriele Römer saß am Computer. Anerkennend nickte sie ihm zu. »Wie sind Sie darauf gekommen? Das kann kein Zufall sein. Unglaublich! Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass sie etwas damit zu tun haben muss. Wenn das kein Beweis ist!«

      »Noch ist nichts bewiesen, es ist ein Indiz. Vielleicht haben wir es bei den neuen Fällen auch mit einem Nachahmer zu tun! Wir werden das untersuchen,