sicher, wer kennt sie nicht, ist ja schon fast so was wie eine Heimatlegende. Selbst meine Mutter hat mich schon vor ihr gewarnt. Wenn ich gewusst hätte, dass sie so schlimm ist, hätte ich den Hof nicht gekauft.«
»Sie kommen hier aus der Gegend?«
»Ja, meine Familie ist schon seit fast drei Jahrhunderten hier ansässig. Alles Landwirte. Aber ich bin der erste Apfelbauer, die anderen hatten immer Viehzucht. Ich bin Vegetarier.« Er lachte Heiko freundlich an. »Das passt nicht zusammen! Und ich passe auch nicht so richtig mit meiner Familie zusammen! Aber das ist ein anderes Thema.« Er wurde ruhiger und schaute sich um: »Das Land hier im Ostebogen ist fantastisch, allerdings habe ich einige Jahre gebraucht, um diesen Hof auf Demeter umzustellen. Der alte Besitzer hatte das Land mit Chemie verschandelt, Sie machen sich keinen Begriff. Andere Zeiten.«
Er wies mit dem Kopf auf die große neue Lagerhalle am Ende des Weges. Das rote Dach glänzte in der Sonne. »Dort kann ich jetzt die gesamte Ernte lagern und die Äpfel bleiben frisch bis zum nächsten Jahr, dank des Stickstoffs in der Atmosphäre der Druckkammern. Wenn Sie wollen, zeig ich Ihnen das mal. Aber erst nächste Woche, ich fahre heute Abend für ein paar Tage weg.«
Heiko nickte beiläufig, er hatte ganz andere Probleme, als sich Stickstoffhallen und knackige Äpfel anzuschauen.
Malte Jensen betrachtete stolz sein Land. »Das war extrem viel Arbeit und nicht immer einfach, gute Laune bei dieser Hexe zu behalten!«
»Kennen Sie zufällig die Schwester?«
»Luisa? Ja, klar. Unterschiedlicher können Schwestern nicht sein. Luisa ist immer freundlich und ihr Tee ist echt klasse, falls Sie mal in den Genuss kommen sollten. Aber in den letzten Wochen habe ich sie selten gesehen bei dem Schietwetter. Da verlässt sie ihr Haus kaum, außer wenn Gloria sie abholt. Einsames Leben, aber das leben wir eigentlich alle hier. Wie sie das mit dieser alten Giftziege aushält, ist mir schleierhaft. Aber sie hat wohl keine andere Wahl. Glauben Sie mir, wenn sie nicht im Rollstuhl sitzen würde, wäre die schon längst über alle Berge.«
19 Tagebuch der Spinne
Ich habe eine Mission. Eine Mission von Gott. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich bin sein Werkzeug.
In jenem Moment, damals, im Regen an ihrem Grab wurde es mir vollkommen klar: Es war nicht ihre Schuld! Sie war ein Opfer, zu schwach, um sich zu wehren. Ich werde kein Opfer sein. Ich durchbreche den Lauf des Schicksals, befreie die anderen von ihrer Erbsünde.
Ich werde sie rächen und die, die vor ihr kam.
Deren Existenz auf Sünde und Untätigkeit aufgebaut ist und die immer noch ungestraft ihr Leben genießen: Sie widern mich an. Sie fühlen sich im Recht, weil sie sich an einer falschen Moral, am falschen Glauben orientieren. Weil sie wie die vor ihnen immer nur an sich gedacht haben, ohne Rücksicht, ohne Verständnis, ohne Nächstenliebe. Und tief in ihrem Innern wissen sie, dass es nicht richtig war, dass sie falsch gehandelt haben, als sie ihr verseuchtes Blut weitergaben. Sie wiegen sich in einer falschen Sicherheit, ungestraft davonzukommen. Obwohl eingelullt von den fadenscheinigen Versprechen ihrer Kirche, sind sie längst gottlos geworden und geben sich ihren Verfehlungen hin. Sie sind gierig, enthemmt, sie stopfen sich voll und nehmen, was sie kriegen können, ohne es zu brauchen. Sie sind missgünstig und wütend und glauben dennoch, richtig zu handeln. Und das Schlimmste ist, dass sie sich nicht ändern werden, gefangen in der falschen Annahme, dass sie im Recht sind. Sie sind alle miteinander verbunden und wissen es nicht.
Sie hängen alle in meinem Netz, schon lange. Ich spinne sie ein und warte auf den richtigen Zeitpunkt, bevor ich zuschlage und sie beseitige.
Ich hinterlasse Zeichen. Von Asche zu Asche, von Staub zu Staub.
Aber sie sind blind, sie erkennen noch nicht einmal die Schrift. Nun, beim ersten Mal wurde sie verbrannt, und das Zeichen auf Johanns Wange wurde übersehen. Das war ein großer Fehler. Beim letzten Mal waren die Zeichen eindeutig. Ich bin gespannt, ob sie diesmal jemand richtig interpretieren wird. Vielleicht der neue Kommissar? Vielleicht ist er schlauer als die anderen?
Und was ist mit Tom? Auch er weiß von gar nichts! Ein dummer Junge, der sich in Sicherheit wiegt, völlig unwissend, was ihn erwartet. Ein eitler Charmeur, der seine wahre Kunst noch gar nicht gefunden hat, da er sich nur an Dingen orientiert, die von außen kommen. Kunst kann nur entstehen, wenn man tief in sich hineinschaut, ehrlich ist mit sich selbst, keine Angst vor der eigenen Schwäche hat. Und seine Schmerzen in das hineingibt, was man kreieren möchte. Kunst ist nur, was untrennbar mit ihrem Schöpfer verbunden ist, nicht kopiert, sondern aus dem Ich geboren wird. Er ist weit entfernt von diesem Zustand.
Ich merke, dass die Zeit knapper wird. Meine Zeit ist endlich. Die Hölle ist real, es gibt sie wirklich. Die Kraft in meinem Körper schwindet ganz langsam. Aber nicht die Kraft in meiner Seele. Mein Hass lodert so stark wie immer, das Feuer brennt heiß und hoch.
Es wird nicht mehr lange dauern.
20 Astas Bank
Heiko schaute auf sein Handy. Es war erst halb sechs, später Nachmittag, aber die Tage waren noch kurz und um sieben würde es dunkel sein. Gott sei Dank hatte er einen Pullover mitgenommen, es wurde bereits kühler.
Er stand in Malte Jensens Apfelplantage und konnte das ehemalige Gesindehaus schon sehen, es war nur einen kurzen Fußweg vom alten Hof der Jolcke entfernt. Heiko sog die Schönheit der Landschaft, die ihn umgab, in sich auf. Die Sonne stand tief am Himmel, aber auf ein paar Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Kurzentschlossen ging er nach links und sprang über den niedrigen Zaun, der den Deich von der Plantage trennte. Einen Moment später war er oben angelangt. Zwanzig Meter entfernt stand eine alte, vom Regen verwitterte, seltsam geschwungene Holzbank. Unter ihm floss die Oste. Der Fluss war hier fast dreißig Meter breit, und die Flut drückte das Wasser hoch ans Ufer, das von Schilf umgeben war. Von hier oben hatte er auch einen guten Blick über die Apfelplantage mit fast dreißigtausend Bäumen, wie ihm Malte Jensen stolz erzählt hatte. Er sah das alte Gehöft von Clara Jolcke mit dem Nebenhaus, in dem ihre Schwester Luisa lebte, und das Gesindehaus, das Tom gemietet hatte.
Fast zwei Stunden hatte er jetzt auf dem Anwesen verbracht. Malte hatte ihm seinen Hof gezeigt, die Scheune, seine beiden Pferde und die neue Lagerhalle, die riesig wirkte neben dem Haus, das der ehemalige Besitzer des Gutshofs in den frühen Achtzigerjahren für seine Frau gebaut hatte. Die war es leid gewesen, in dem alten Gutshaus ihrer Ahnen zu leben, und war besser mit Fußbodenheizung, Rollläden und einer Einbauküche zurechtgekommen. Malte baute das gesamte Haus allerdings nochmals um, als er den Hof übernahm. Die Lagerhalle war 1200 Quadratmeter groß und zehn Meter hoch, bot genug Platz für die Ernte und war außerdem mit einer besonders großen Stickstoffkammer ausgestattet, die die Äpfel bis ins nächste Jahr frisch hielt. Malte lebte allein, seine Frau hatte ihn verlassen. Er fühlte sich zu Männern hingezogen und wollte nicht weiter eine Lüge leben. Lieber allein als gemeinsam einsam, hatte er gesagt und Heiko angesehen. Beide hatten gewusst, was er meinte.
Heiko hatte sich verabschiedet und war zum Nebenhaus des alten Hofs gegangen, um Luisa von Bassen aufzusuchen. Sie saß noch im Garten, ein Buch im Schoß, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen. Sie war eingeschlafen. Heiko betrachtete sie kurz und entschloss sich, sie nicht zu wecken. Er würde sie in den nächsten Tagen befragen. Und konnte so noch ein wenig Zeit am Deich verbringen.
Die Apfelplantage am Fluss war etwas Besonderes, eine magische beruhigende Stimmung ging von ihr aus. Die Zeit war hier stehen geblieben, nichts außer Erde, Bäumen, Äpfeln und Ruhe! Ein Hase sprang durch die Baumreihen. Heiko ging zu der alten verwitterten Bank, setzte sich und schloss die Augen, atmete die Stille ein und vergaß für einen Moment, dass er hier war, um zwei Mordfälle aufzuklären.
»Sie können wohl nicht genug von mir oder meinem Anwesen bekommen! Gibt es keine Deiche in Stade? Was schnüffeln Sie denn hier herum?«
Heiko schreckte zusammen, er hatte Clara Jolcke nicht kommen hören. Sie stand mit verschränkten Armen vor ihm und schaute ihn kalt an. Sie trug alte Holzpantinen, eine dicke Strickjacke, ausgebeulte Leggings, ihre Haare standen wirr ab. Eine verrückte alte Schachtel mit sehr wachen Augen, dachte er. Er ließ sich