Erich Auerbach

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie


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den Gestaltbegriff: μορφήμορφή, εἶδοςεἶδος, σχῆμασχῆμα, τύποςτύπος, πλάσιςπλάσις, um nur die wichtigsten zu nennen; die philosophische und rhetorische Ausbildung des platonischPlaton-aristotelischen Sprachgebrauchs hatte jedem dieser Worte seinen Bezirk angewiesen und inbesondere zwischen μορφή und εἶδος einerseits, σχῆμα andererseits die Grenze klar bestimmt: μορφή und εἶδος ist die Form oder Idee, die die Materie informiert, σχῆμα die rein sinnliche Gestalt dieser Form; die klassische Belegstelle hierfür ist AristotelesAristoteles’ Metaphysik ζ, 3 p. 1029, wo im Rahmen der Darstellung der οὐσíα die μορφήμορφή als σχῆμα τῆς ἰδέας bezeichnet wird; und so findet sich bei ihm auch σχῆμα rein sinnlich als eine der Qualitätskategorien und die Zusammenstellung von σχῆμα mit μέγεϑοςμέγεϑος, ϰίνησιςϰίνησις und χρῶμαχρῶμα, die wir schon bei VarroVarro antrafen. Es ergab sich von selbst, daß im Lateinischen für μορφή und εἶδοςεἶδος formaforma eintrat, das ja von Haus aus die Modellvorstellung enthielt; gelegentlich findet sich auch exemplarexemplar; für σχῆμασχῆμα hingegen setzte man zumeist figurafigura. Da nun σχῆμασχῆμα als «äußere Gestalt» sich in der griechischen wissenschaftlichen Terminologie weit ausgedehnt hatte – grammatisch, rhetorisch, logisch, mathematisch, astronomisch –, so trat hier im Lateinischen überall figura ein; und so erschien neben und vor der ursprünglichen Bedeutung des Plastischen ein weit allgemeinerer Begriff der sinnlichen Erscheinung und der grammatischen, rhetorischen, logischen, mathematischen Form, ja später auch der musikalischen und choreographischen. Freilich ist die ursprüngliche Bedeutung des Plastischen nicht ganz verlorengegangen, denn auch τύπος «Gepräge» und πλάσιςπλάσις, πλάσμα «plastisches Gebilde» wurden, wie es sich aus dem Stamm fig ergab, oft durch figura wiedergegeben. Aus der Bedeutung τύποςτύπος entwickelte sich figura als «Abdruck des Siegels», was als Metapher eine ehrwürdige Geschichte hat, von AristotelesAristoteles de mem. et rem. p.450 a 31 ἡ κίνησις ἐνσημαίνεται οἷον τύπον τινὰ τοῦ αἱσϑήματος über AugustinAugustinus epist. 162, 4 und IsidorusIsidor v. Sevilla diff: 1, 528 bis zu DanteDante come figura in cera si suggella, Purg. 10, 45 oder Par. 27, 62.4 Über das Plastische hinaus ist τύπος wegen seiner Neigung zum Allgemeinen, Gesetzlichen und Exemplarischen (vgl. die Zusammenstellung mit νομικῶς, Arist. Pol. β 7 p. 1341 b 31) für figurafigura bedeutend geworden, und dies hat wiederum dazu beigetragen, die ohnehin subtile Grenze gegen formaforma zu verwischen. Die Verbindung mit Worten wie πλάσιςπλάσις verstärkte die wahrscheinlich schon von Anfang an bestehende, aber nur langsam sich vorarbeitende Expansionsneigung von figurafigura in der Richtung «Statue», «Bild», «Porträt»; es greift über in das Gebiet von statuastatua, ja von imagoimago, effigieseffigies, speciesspecies, simulacrumsimulacrum. Wenn man also im großen sagen kann, daß figura im lateinischen Sprachgebrauch für σχῆμασχῆμα eintritt, so ist doch damit die Kraft des Wortes, potestas verbi, nicht erschöpft: figura ist weiter, nicht nur zuweilen plastischer, sondern auch beweglicher, stärker ausstrahlend als σχῆμα. Freilich ist auch dieses noch dynamischer als unser Fremdwort «Schema»; heißen doch bei Aristoteles die mimischen Gesten der Menschen, insbesondere der Schauspieler σχῆματα; die Bedeutung der bewegten Form ist σχῆμα keineswegs fremd; aber figura hat dieses Element der Bewegung und Verwandlung sehr viel weiter entwickelt.5

      LucrezLukrez verwendet figurafigura im griechisch-philosophischen Sinne auf eine höchst eigentümliche, freie und bedeutende Art. Der Ausgangspunkt ist der allgemeine Begriff «Gestalt», und zwar findet er sich in allen Abstufungen vom energisch Plastischen (manibus tractata figura, 4, 230) bis zum rein geometrischen Umriß (2, 778; 4, 503); er überträgt den Begriff auch vom Plastischen und Optischen auf das Akustische, wenn er 4, 556 von der figura verborumfigurafigurae verborum, figurae senentiarum spricht.6 Der wichtige Übergang von der Gestalt zu ihrer Nachahmung, vom Urbild zum Abbild, läßt sich am besten an der Stelle fassen, die von der Ähnlichkeit der Kinder mit ihren Eltern, von der Mischung der Samen und von der Vererbung handelt; von den Kindern, die utriusque figurae, des Vaters und der Mutter sind, die oft proavorum figuras wiedergeben, und so fort: inde Venus varias producit sorte figuras (4, 1223). Hier zeigt sich, wie das Spiel zwischen Urbild und Abbild gerade nur mit figura gut durchzuführen war; formaforma und imagoimago liegen jeweils allzu fest im einen oder im anderen Sinne; figurafigura ist sinnlicher und beweglicher als forma und bewahrt das Selbst des Ursprünglichen reiner als imago. Freilich ist hier, wie auch späterhin, wenn von Dichtern die Rede ist, überall zu berücksichtigen, welch vorzüglichen dreisilbigen Hexameterschluß figura in allen Flexionsformen bietet.7 Eine besondere Abwandlung der Bedeutung «Abbild» findet sich in LucrezLukrez’ Lehre von den Gebilden, die sich wie Häutchen (membranae) von den Dingen abschälen und in der Luft umherstreifen, jener demokritischenDemokrit Lehre von den «Bildfilmen» (DielsDiels, H.), den materialistisch verstandenen Eidola, die er simulacrasimulacrum, imagines, effigiaseffigies und bisweilen auch figuras nennt; und so findet sich auch bei ihm zuerst figurafigura in der Bedeutung von «Traumbild», «Phantasiegestalt», «Schatten des Toten».

      Das sind schon sehr lebendige Varianten, und sie hatten bedeutende Zukunft; Urbild, Abbild, Scheinbild, Traumbild sind Bedeutungen, die immer mit figurafigura verknüpft bleiben. Die geistreichste Verwendung des Wortes findet LucrezLukrez aber noch auf einem anderen Wege. Man weiß, daß er die demokritisch-epikurEpikureische Kosmogonie vertritt, die die Welt aus Atomen baut. Die Atome nennt er primordiaprimordia, principiaprincipia, corpusculacorpuscula, elementaelementa, seminasemina, ganz allgemein auch corpora, quorum

      concursus motus ordo positura figura8 (1, 685 und 2, 1021)

      die Dinge hervorbringt. Nun sind die Atome zwar sehr klein, aber doch stofflich und geformt; sie haben unendlich verschiedene Gestalten; und so kommt es, daß er sie selbst sehr oft Gestalten, figurae, nennt; und daß man umgekehrt häufig, wie DielsDiels, H. es auch gelegentlich getan hat, figurae mit «Atome» übersetzen kann.9 Die zahllosen Atome sind in unablässiger Bewegung, sie schweifen im Leeren, vereinen sich und stoßen einander ab: es ist ein Reigen von Figuren. Diese Verwendung des Wortes scheint nicht über LucrezLukrez hinausgedrungen zu sein; der Thesaurus führt noch eine einzige Stelle an, bei ClaudianClaudian in Rufin. 1, 17, also aus dem Ende des 4. Jahrhunderts. So ist, auf diesem kleinen Gebiet, seine originellste Schöpfung wirkungslos geblieben; ohne jeden Zweifel aber hat von allen Autoren, die ich aus Anlaß von figurafigura durchgearbeitet habe, LucrezLukrez zwar nicht den geschichtlich wichtigsten, aber den persönlich genialsten Beitrag geliefert.

      In CicerosCicero häufiger und überaus geschmeidiger Verwendung des Wortes sind alle Abwandlungen des Gestaltbegriffs vertreten, die die politische, die publizistisch-rhetorische, die juristische und die philosophische Tätigkeit ihm nahebrachten; auch seine liebenswürdige, erregbare und unscharfe Menschlichkeit läßt sich aus ihr ablesen. Oft braucht er es vom Menschen, manchmal mit pathetischem Ton: portentum atque monstrum certissimum est, esse aliquem humana specie et figura, qui tantum immanitate bestias vicerit, ut …, heißt es pro S. Roscio 63, und tacita corporis figura ist pro Q. Roscio 20 die stumme Gestalt, deren Aussehen schon den Schurken verrät. Auch die Glieder und die inneren Organe, die Tiere, Geräte, Sterne, kurz alles Sinnliche hat figura, auch die Götter und das Universum im ganzen; das sinnlich Erscheinende, ja Scheinende des griechischen σχῆμασχῆμα kommt gut heraus, wenn er vom Tyrannen sagt, er habe nur die figura hominis, und von unsinnlichen Gottesvorstellungen, sie seien ohne figura und sensussensus. Selten sind klare Abgrenzungen gegen formaforma (z. B. de nat. Deor. 1, 90, vgl. oben Anm. 7), und