in Notkers Psalter auch eine Darstellung unter pragmatischen Gesichtspunkten enthält, wo sie die KompositaKompositum unter dem Aspekt der argumentativen Strategien der mittelalterlichen Verfasser (NotkerNotker III. von St. Gallen und Notkerglossator) darstellt. Diesen Ansatz verfolgt Pasques (2003a) auch in einem Aufsatz, wo sie ausgehend von Karl Bühlers Organon-Modell die Substantivkomposita in Notkers Psalter in Bezug auf ihre kommunikative Funktion hin untersucht.
Bei Pasques (2003b, 2003a) findet sich also schon ein interessanter Ansatz für eine Betrachtung der Substantivkomposita aus kulturanalytischer Perspektive, wenn sie nämlich nach der kommunikativen Funktion und nicht nach morphologischen Eigenschaften fragt. An dieser Stelle soll auch mein hier vorgestelltes Dissertationsprojekt ansetzen, wenn der Frage nachgegangen wird, wie NotkerNotker III. von St. Gallen1Notker III. von St. Gallen bei seiner didaktischen Bearbeitung und Übersetzung2 von Schultexten bestimmte WortbildungsmusterWortbildungsmuster operationalisiert, um bestimmte Inhalte zu vermitteln. Es soll also gezeigt werden, wie der Lehrer und Übersetzer Notker das diesen Wortbildungsmustern innewohnende Sinngebungspotential kreativ nutzt, wo er Begriffe aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, für die es bisher noch keine Bezeichnungen in dieser Sprache gab. Die SubstantivkompositionSubstantivkomposition soll hier also als eine mögliche sprachliche Strategie betrachtet werden, die dem frühmittelalterlichen Übersetzer zur Verfügung steht, wenn er sich vor die oben beschriebene Herausforderung gestellt sieht.3KompositionWortbildungMetapher
2 Materialgrundlage und Untersuchungsgegenstand
2.1 Das Korpus: Notkers althochdeutsches Übersetzungswerk
Als Materialgrundlage der vorgestellten Untersuchung dient wie erwähnt das althochdeutsche ‚Übersetzungswerk‘ Notkers, wobei das Korpus sämtliche seiner überlieferten Schriften umfasst, die deutsches Sprachmaterial enthalten. Als Textgrundlage dient die Edition von King/Tax (NotkerNotker III. von St. Gallen der Deutsche 1972–2009).
NotkerNotker III. von St. Gallen dürfte um 950 im Thurgau geboren sein und er starb am 28. Juni 1022 im Kloster St. Gallen. Dort war er Mönch und Schulvorsteher (caput scholae) und in späteren Jahren auch Leiter der Bibliothek. Als Lehrer übersetzte Notker eine Reihe von Schultexten aus dem Lateinischen ins Deutsche, um seinen Schülern das Verständnis dieser Texte zu erleichtern, denn wie er selbst in seinem Brief an Bischof Hugo II. von Sitten sagt, sei es viel leichter etwas in der eigenen Muttersprache, der „patria lingua“, zu verstehen als in einer Fremdsprache, einer „lingua non propria“:
Ad quos dum accessvm habere nostros uellem scolasticos aus<us s>vm facere rem pene inusitatam . ut latine scripta in nostram linguam conatus sim uertere […] (Nep 348,9f.)1Notker III. von St. Gallen
(Da ich wünschte, dass unsere Schüler zu diesen [den Sieben Freien Künsten] Zugang haben, wagte ich es, eine beinahe unerhörte Sache zu tun, dass ich es nämlich unternahm lateinische Schriften in unsere Sprache zu übersetzen […]. [Üs. NJR])
[…] quam [s]cito capiuntur per patriam linguam . quę aut uix aut non integre capienda forent in lingua non propria (Nep 349,24f.)
([…], weil man in der Muttersprache schneller versteht, was man in einer fremden Sprache entweder kaum oder nicht vollständig verstehen würde. [Üs. NJR])
Seit der Spätantike und Cassiodor bestand der schulische Lehrinhalt aus den Sieben Freien Künsten und im frühmittelalterlichen Europa waren Klöster und Klosterschulen die Zentren von Bildung und Gelehrsamkeit. Spätestens seit dem 9. Jahrhundert bildet sich ein Kanon von Schultexten heraus, die im Unterricht an den Klosterschulen verwendet wurden (cf. Glauche 1970). Die meisten von Notkers Übersetzungen sind solche kanonischen mittelalterlichen Schultexte aus allen Bereichen der Sieben Freien Künste und sie entstanden in engem Zusammenhang mit der Tätigkeit Notkers als Lehrer und also mit der WissensvermittlungWissensvermittlung in der frühmittelalterlichen Klosterschule in St. Gallen.
Über die Schultexte hinaus bearbeitete NotkerNotker III. von St. Gallen aber auch theologische Texte wie etwa den Psalter, die nicht zum Schulkanon gehören sondern eher in den Bereich frühmittelalterlicher Wissenschaft (also der Theologie). Aber auch bei diesem Text, den Henkel (1988: 75–76) als Erbauungsliteratur einordnet, lässt sich ein didaktischer Anspruch des Verfassers erkennen, der auch hier Erklärungen und Kommentare in seine Bearbeitung einarbeitet.
Notkers Übersetzungen sind nämlich keine bloßen Übersetzungen sondern vielmehr didaktische Bearbeitungen für den Schulunterricht, die auf das Verständnis des Originaltextes ausgerichtet sind. In seinen Texten kombiniert er den Text des lateinischen Originals (in syntaktisch vereinfachter Form) mit seiner Übersetzung und Kommentaren, die er aus antiken und frühmittelalterlichen Autoritäten schöpft, wobei die für NotkerNotker III. von St. Gallen typische sogenannte deutsch-lateinische Mischsprache entsteht (cf. Sonderegger 1970: 87–90; Henkel 1988: 77–86).
2.2 Untersuchungsgegenstand: Substantivkomposita
Diese im Schulkontext entstandenen Texte dienen also als Korpusgrundlage für die vorgestellte Untersuchung, in der die SubstantivkompositionSubstantivkomposition als eine sprachliche Strategie betrachtet werden soll, die nutzbar gemacht werden kann, wo neue Wissensinhalte und somit neue Begriffe vermittelt werden sollen. Der konkrete sprachliche Untersuchungsgegenstand sind also die Substantivkomposita.
Der Normaltyp der Substantivkomposita im DeutschenDeutsch sind die Determinativkomposita (Ortner/Ortner 1984: 11) und im NotkerNotker III. von St. Gallen-Korpus sind diese auch der einzige Typ, der begegnet.1 Determinative Substantivkomposita werden durch die Kombination zweier existierender, frei vorkommender Lexeme gebildet, von denen das zweite ein Substantiv sein muss, so dass auch das WortbildungsproduktWortbildungsprodukt ein Substantiv ist. Das Zweitglied (B-Konstituente) ist der Kopf der Bildung und wird durch das Erstglied (A-Konstituente) näher bestimmt.
Zur Abgrenzung von anderen komplexen Wörtern referieren Ortner/Ortner (1984: 11–39) insgesamt 16 Eigenschaften von KompositaKompositum, die in der Literatur genannt werden. Neun dieser Eigenschaften betreffen das KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum) als Ganzes (Ortner/Ortner 1984: 12–28), fünf sind Eigenschaften einzelner Konstituenten (Ortner/Ortner 1984: 28–38) und zwei Eigenschaften kommen dem Kompositum als Textelement zu (Ortner/Ortner 1984: 38–39). Meineke (1991) bespricht die Kriterien von Ortner/Ortner (1984) und hierarchisiert sie. Zuoberst ordnet er die Eigenschaften an, die dem Kompositum als Ganzem zukommen. Lediglich vier der dort genannten neun Kriterien sieht er als uneingeschränkt gültig an (primäre Kriterien), alle anderen Kriterien sieht er als sekundäre oder tertiäre Kriterien oder verwirft sie ganz (Meineke 1991: 73–76, passim). Diese vier zentralen Eigenschaften von Komposita sind die Binarität, die Subordination der Konstituenten, die allgemeine Strukturbedeutung (in Verbindung mit der nichtexpliziten Konstruktionsbedeutung) und die Kompatibilität der Konstituenten in sachlogischer Hinsicht. Auf diese vier Kriterien soll im Folgenden kurz eingegangen werden, wobei zunächst die beiden für die vorgestellte Untersuchung wichtigsten Eigenschaften vorgestellt werden sollen (s.u. Abschnitt 3.1).
Das Kriterium der Binarität besagt, dass jedes Substantivkompositum sowohl morphologisch als auch semantisch binär strukturiert ist (Ortner/Ortner 1984: 16–17; Meineke 1991: 38–45). Die Zweigliedrigkeit von KompositaKompositum ist laut Meineke (1991: 39) die Folge einer Determinans-Determinatum-Struktur, die wiederum die Widerspiegelung einer menschlichen Denkstruktur ist, die Meineke (1991: 39) mit „[e]twas wird durch ein anderes näher bestimmt“ angibt. Der Ausgangspunkt eines jeden KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum) sei demnach seine Funktion, ein binäres Konzept zu bezeichnen. Eine Funktion, für die einzelsprachlich verschiedene Mittel zur Verfügung stehen, neben der KompositionKomposition etwa Konstruktionen mit Genitiv- oder Adjektivattributen oder Präpositionalphrasen.
Die zweite für diese Untersuchung zentrale primäre Eigenschaft von KompositaKompositum nach Meineke (1991: 51–55) ist die nichtexplizite Konstruktionsbedeutung.2 Das heißt, dass die semantische Relation zwischen den Konstituenten eines KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum) auf morphologischer Ebene nicht ausgedrückt wird. Die Konstruktionsbedeutung eines Kompositums (also die jeweils