Stück weit zu wahren. Solche Vielleseverfahren gehen über Animationen hinaus, indem sie die eigenständige Lektüre von Büchern tatsächlich einfordern (vgl. detailliert Lange 2012). Im Unterschied zum eigentlichen Literaturunterricht inszenieren sie viel Lektüre und wenig oder keine weitere gemeinsame Verarbeitung des Gelesenen, die Menge steht klar im Vordergrund. Gute spätere Leser/innen, so kann man nämlich beobachten, blicken regelmäßig auf Viellesephasen in ihrer Kindheit und Jugend zurück – viel Lesen steigere gewissermaßen von selbst die Motivation und darüber auch die Lesekompetenz, so die optimistische Annahme, die diesen Verfahren zugrunde liegt.
Es liegt nah, in diese mehr oder weniger offenen Konzepte von Leseförderung – in den gezielten Literaturunterricht, in Leseanimationen oder in Vielleseverfahren – literarische Texte in den Herkunftssprachen der mehrsprachigen Schüler/innen einzubeziehen: Kinder- oder Jugendbücher, die außer in Deutsch auch in den Herkunftssprachen vorliegen, können als Klassenlektüre im Literaturunterricht, in leseanimierenden Settings oder auch im Rahmen von Vielleseprogrammen angeboten werden. Dadurch wird das eigenständige Lesen angeregt, die Familiensprache der Kinder wird ebenfalls gefördert, der „monolinguale Habitus“ (Gogolin 1994) in der schulischen Begegnung mit Texten wird relativiert und die Erstsprachen werden wertgeschätzt – das sind alles lesedidaktisch erstrebenswerte Ziele. In Anschlusskommunikationen nach der Lektüre und in weiteren Textverarbeitungsschritten kann Mehrsprachigkeit dann als Ressource für das individuelle Textverstehen und für das interkulturelle Miteinander im Schulunterricht wirksam werden (vgl. Schiedermair 2017; Naphegyi 2015; Jeuk 2017).
Das übergeordnete Ziel des Deutschunterrichts, nämlich die Vermittlung deutscher (Schrift-)Sprache und Kultur, muss in solchen Settings nicht notwendig vernachlässigt werden. Denn nach der Lektüre kann die weitere literaturunterrichtliche Verhandlung des Textes ihren Schwerpunkt im Deutschen haben. Die Zugänglichkeit zur deutschen Textfassung ist für die Migrantenkinder durch die Erstlektüre in der Herkunftssprache erleichtert, sofern die Sprachkenntnisse ausreichend gut sind. Dann unterstützt der Einbezug der anderen Sprachen direkt die sprachlichen und literarischen Lernprozesse, die Mehrsprachigkeit wird als Kompetenz erfahrbar. Wenn man annimmt, dass Migrantenkinder ein gesteigertes Interesse an Themen aus dem Kulturkreis ihres Herkunftslands haben, lässt sich der Erfolg eines solchen Vorgehens theoretisch schlüssig begründen: Das Interesse wirkt sich positiv auf die Wertkognition aus, es erhöht die Anstrengungsbereitschaft und macht den Leseaufwand lohnenswert (vgl. Möller/Schiefele 2004: 117f.), sodass intrinsische Lesemotivation und Erfolgserlebnisse entstehen. Wenn das häufig geschieht, werden solche Leseerfahrungen relevant für das lesebezogene Selbstkonzept und können Buchlesen zur Gewohnheit werden lassen.
Allerdings setzen Vielleseverfahren einige Kompetenzen auf Seiten der Schüler/innen voraus: Bei DaZ-Schüler/innen müssen die sprachlichen Kompetenzen in der Herkunftssprache ausreichend entwickelt sein. Zudem muss sich der Leseprozess selbst in der Herkunftssprache bereits so flüssig vollziehen, dass eigenständiges Textverstehen möglich ist. Schließlich werden lesekulturelle Erfahrungen vorausgesetzt wie beispielsweise Wissen über Textsorten, Erfahrungen mit den eigenen Lesebedürfnissen, Imaginationsfähigkeit und die Bereitschaft, sich emotional an den Geschehnissen zu beteiligen, Zielorientierung und nicht zuletzt ein „langer Leseatem“, der seinerseits Engagement für den Leseprozess selbst verlangt.
Das alles ist bei schwachen Leser/innen, auch bei denen ohne Mehrsprachigkeitspotenziale, regelmäßig nicht der Fall (Jörgens/Rosebrock 2011). Entsprechend wurde in der Folge von PISA die Leseförderung im Rahmen des Deutschunterrichts von den Autor/innen der Studie scharf kritisiert: Diese Konzepte ignorieren die Probleme schwacher Leser/innen. Denn die notwendigen mentalen Strategien des Textverstehens werden nicht explizit gelehrt, sondern vorausgesetzt. Zudem sei die Orientierung der Leseförderung ausschließlich auf literarische Texte nicht zielführend: Schwache Leser/innen müssen die bildungssprachlich verfassten Sachtexte aus den verschiedenen Wissensdomänen, denen sie in den Fächern und später im Alltag und Beruf begegnen, verstehend lesen können (vgl. z.B. Artelt/Schlagmüller 2004: 183). Im Zuge des PISA-Schocks haben sich entsprechend nicht nur die Konzepte der Leseförderung im schulischen Kontext reformiert, sondern der Begriff des Lesens selbst hat sich im gesellschaftlich-kulturellen Maßstab verändert: Bis zur Jahrtausendwende war er deutlich stärker bildungsbürgerlich und literarisch grundiert als es heute der Fall ist. Die Dominanz literarischer Texte in der Lesesozialisation hat sich in den Verläufen der literalen Sozialisation allerdings trotzdem gehalten: Auch gegenwärtig bestimmen die inhaltlich und sprachlich einfacheren Texte der Kinder- und Jugendliteratur faktisch den Übergang vom learning to read in den ersten etwa sechs Schuljahren hin zum reading to learn, das in der Sekundarstufe eingefordert wird. Mit ihnen wird im Verlauf der Lesesozialisation das Lesen soweit eingeübt, dass es selbst mühelos wird – allerdings eben nicht bei allen, wie bereits gesagt.
2. Textverstehen lehren – Strategievermittlung
Auch in den Schulen ist die Kritik der PISA-Autor/innen angekommen: Lesestrategien als eigener Unterrichtsgegenstand spielen vor allem in der ersten Hälfte der Sekundarstufe eine starke Rolle in einem lesedidaktisch reflektierten Deutschunterricht.
Die Förderung von Lesestrategien bezieht sich, anders als die zuerst genannte Gruppe von Förderverfahren, in der Praxis dominant auf Sachtexte (Philipp 2015). Strategien sind prinzipiell bewusstseinsfähige, aber bei guten Leser/innen oft automatisierte mentale Handlungsfolgen, die gezielt und adaptiv eingesetzt werden, um Textverstehen zu erreichen. Der Leser, die Leserin muss einzelne mentale Schritte – wie z.B. einen Zusammenhang herstellen, noch mal bereits Gelesenes überprüfen, sich einen Begriff klarmachen – auswählen und diese Schritte zielbewusst kombinieren und koordinieren. Für diese strategische Arbeit am Text braucht es auch Metakognition: Der Prozess muss geplant werden – Was soll mir der Text ermöglichen? –, er muss überwacht werden – Habe ich verstanden? –, er muss gesteuert und schließlich evaluiert werden. Wenn Schüler/innen „nicht lernen können“, also gar keine Vorstellung davon haben, wie sie sich einen Wissensbereich eigenständig lesend aneignen, dann fehlt es ihnen an Wissen über effektive Lern- bzw. Lesestrategien.
Lesestrategien erfolgreich zu lehren ist nicht einfach. Schließlich handelt es sich beim strategischen Lesen nicht allein um Wissen, sondern um ein Können, um eine Kompetenz im eigentlichen Sinn. „Wichtiges Unterstreichen“ beispielsweise hilft nur, wenn man sich verdeutlichen kann, was wofür wichtig ist innerhalb einer Textpassage. Insofern kann das Unterstreichen Ausdruck der Anwendung einer Strategie sein, nicht sie selbst. Entsprechend wurde vorgeschlagen, zwischen einzelnen Techniken wie Unterstreichen, Vorhersagen, Zusammenfassen, Klären usw. nicht den Strategiebegriff in Anwendung zu bringen: Zur Strategie wird solches Tun erst, wenn es zielorientiert und adaptiv auf den Inhalt bezogen eingesetzt wird. Abgesehen von der Praxis der Lesestrategie-Vermittlung an den Schulen, deren Erfolge sich m.W. noch nicht überzeugend gezeigt haben (vgl. Souvignier/Philipp 2016, Philipp 2015: 107f.), stellt sich die Frage, ob Strategieprogramme nun das Mittel der Wahl zur Leseförderung bei mehrsprachigen und/oder schwachen Leser/innen sind?
Auch Lesestrategievermittlung setzt gewissermaßen hoch an: Sie bezieht sich vor allem auf die Textebene, indem textseitige Darstellungsmittel systematisch auf den thematischen Zusammenhang bezogen werden. Entsprechend sind Lesestrategien Kompetenzen, die sich gut von der Erst- in die Zweitsprachenlektüre tansferieren lassen (Grabe 2009: 127, 151) – sofern sie in der Erstsprache ausgebildet wurden, was bei Zweitsprachlektüre auf akademischem Niveau der Fall wäre. Aber selbst für solche Leser/innen mit höchsten Kompetenzen in der Erstsprache fordert Grabe für den Fremdsprachenerwerb ein lesedidaktisches Primat für die Wort- und Satzebene, für die Leseflüssigkeit (ebd.: 329f.), für diejenige Ebene also, auf der auch leseschwache Schüler/innen deutlich Probleme zeigen. Trotzdem drängt sich im Zusammenhang mit der Förderung von Lesestrategien folgende Frage auf: Brauchen Leser/innen mit Deutsch als Zweitsprache teilweise andere Lesestrategien für das Lernen aus deutschsprachigen Texten als Muttersprachler/innen? Sie ist m.W. noch nicht erforscht; aber plausibel wäre das schon: Eine solche Strategie für Mehrsprachige wäre es u.U., Lernende dazu anzuhalten, auf der Wortebene gesteigerte Aufmerksamkeit auf Phonologie, Orthografie und Morphologie zu legen und so nach sprachlichen und/oder thematischen Verwandtschaften zu ihrer Muttersprache Ausschau zu halten. Einzelne unbekannte Wörter könnten beispielsweise