Wendung zu unterbrechen oder Unverstandenes gar zu ignorieren. Sinnvoll könnte auch sein, sprachliche Konnektoren grundsätzlich zu identifizieren und zu fokussieren. Ein solches strategisches Verfahren bei der Wort- und Satzidentifikation führt zu Effizienz bei der Lektüre in der Zweitsprache, so berichtet Grabe mit Blick auf akademisches Lesen (2009: 128). Aus theoretischer Perspektive scheinen also insgesamt diejenigen Strategien erfolgversprechend, die unterhalb der Textebene angesiedelt sind und insofern als Voraussetzung für das universale Textverstehen gelten müssen. Eine weitere, über die Wort- und Satzebene hinausgehende naheliegende Hypothese: Sollten bei Lernenden mit schwächeren Deutschkenntnissen gezielt die Top-Down-Strategien gestärkt werden, also die Fokussierung auf den Einbezug des Wissens zum Textthema explizit herausgefordert werden? (Vgl. in diesem Sinn Niebuhr-Siebert/Baake 2014: 178, 255ff.). Zum strategischen Lesen bei geringeren Sprachkenntnissen fehlen Forschungen. Wir wissen allerdings, dass das Textverstehen erheblich behindert wird, wenn sich mehr als ein bis zwei Prozent unbekannte Wörter im Text befinden, die nicht textintern geklärt werden. In welchem Ausmaß unbekannte Wörter in Lesetexten das Verstehen verunmöglichen, ist naturgemäß kaum zu quantifizieren: Denn unbekannte Wörter sind nicht der einzige Faktor von Textschwierigkeit (vgl. zu Textkomplexität systematisch Rosebrock 2017). Im Kontext der Lesedidaktik fordert Allington (2009) für unabhängiges Lesen einen Anteil von 99 % an Wörtern, deren Bedeutung bekannt ist – ein Wert, der für Lernende mit Mirgrationshintergrund wohl in der Regel nicht zu realisieren ist. Wenn die gängigen Strategietrainings durch ihre Fokussierung auf die Textebene die Wort- und Satzebenen, auf der mehrsprachige Schüler/innen ebenfalls Leseprobleme haben, verfehlen, dann dürfte das auch auf die schwachen Leser/innen mit Deutsch als Muttersprache zutreffen: Auch für sie sind die sprachlichen Anforderungen der Bildungssprache oft zu hoch, auch ihre Sprachkenntnisse sind nicht ausreichend.
Im schulischen Alltag lässt sich gut beobachten, dass das mangelnde Textverstehen der schwachen Leser/innen nicht allein ein Problem mangelnder Lexik in der Zweitsprache oder fehlender Textverarbeitungsstrategien ist. Schlechtes Textverstehen, wie es die Schulleistungsstudien gemessen haben, stellt eigentlich nur die Spitze eines Eisbergs dar, unter der sich die elementareren Leseschwierigkeiten verbergen: Die Gruppe der schwachen Leser/innen hat Probleme bereits auf der Wortebene, die sich im Grad der Automatisierung der Worterkennung, in der Genauigkeit beim Dekodieren und in der Langsamkeit des Prozesses ausdrücken. Auch auf Satzebene zeigen sich Schwierigkeiten: Leseschwache Schüler/innen erkennen und verstehen grammatische Strukturen weniger rasch und insgesamt schlechter. Diese Probleme auf Wort- und Satzebene können das Verstehen auf Textebene natürlich nicht unbeschädigt lassen. Für mehrsprachige Schüler/innen kommen, wenn sie das Deutsche noch lernen, zu den Schwierigkeiten beim Dekodieren und flüssigen Erfassen der Propositionen noch Probleme des geringeren Wortschatzes, also bei der Wortbedeutung, hinzu. Der Verstehensaufwand potenziert sich, wenn auf allen genannten Ebenen Defizite im Vergleich zu den durchschnittlich oder gut lesenden Altersgleichen auftreten. Sollte die Leseförderung dann nicht an der Basis des Eisbergs ansetzen – an den hierarchieniedrigen Teilfertigkeiten des Leseprozesses also?
3. Förderung der basalen Teilkomponenten – Leseflüssigkeit
Leseschwache Kinder und Jugendliche lesen in aller Regel weit langsamer, fehlerhafter und stockender vor als sie sprechen können, und zwar auch dann, wenn der Text keine in ihrer Bedeutung unbekannten Wörter enthält. Für das Lesen in der Muttersprache lässt sich daraus schließen, dass sie die Wortgestalten, vor denen sie stocken, noch nicht in ihren Sichtwortschatz, das mentale Lexikon, aufgenommen haben. Bei Mehrsprachigen ist ggf. nicht nur das der Fall, sie stolpern zudem auch deshalb über einzelne Wörter, weil sie ihnen in allen drei Dimensionen – Lautgestalt, grafische Erscheinung, Bedeutung – unbekannt sind. Dann müssen sie sie wie ein/e Erstklässler/in im Schriftspracherwerb lautierend erlesen und versuchen, dem so Entzifferten eine Bedeutung zuzuordnen. Bei Kindern und Jugendlichen, die in den Lesetests der Leistungsstudien Defizite beim Textverstehen zeigen, lassen sich nicht immer, aber eben sehr häufig Stockungen, Verlesungen, ein insgesamt zu langsames Lesetempo und eine wenig textgerechte Intonation auch bei einfachen Texten beobachten, kurz gesagt: Probleme bei den basalen Teilfertigkeiten von Lesekompetenz, bei der Leseflüssigkeit. Bei der Gruppe der 12- bis 13-Jährigen in der Hauptschule und in den entsprechenden Zweigen von Gesamtschulen ist das der Fall: In Lesetests zeigten sie nicht nur Probleme beim Textverstehen, sondern auch erheblich unterdurchschnittliche Leistungen bei der Lesegeschwindigkeit, die als Indikator für die Leseflüssigkeit gelten kann (vgl. Rosebrock/Rieckmann/Nix/Gold 2010).
Das ausschlaggebende Argument für ein Primat der Förderung der basalen Lesefähigkeiten liegt im Voraussetzungscharakter, den die hierarchieniedrige Fähigkeit Leseflüssigkeit gegenüber den hierarchiehohen Fähigkeiten des Textverstehens hat: Wenn die Wort- und Satzerkennung durch Automatisierung flüssig geworden ist, muss sich der Leser/die Leserin nicht mehr auf die Buchstaben-, Silben- oder Worterkennung konzentrieren. Die Silben, Wörter und Wendungen sind dann in seinem Sichtwortschatz gespeichert. Dieser Sichtwortschatz ist ein mentales Lexikon, in dem die Lautgestalt eines Wortes oder Wortteils, seine grafische Erscheinung und seine Bedeutung miteinander verbunden niedergelegt sind. Ab Schuleintritt wird er systematisch aufgebaut; am Ende der Grundschule sollte der Sichtwortschatz angemessen reichhaltig sein, sodass beispielsweise Texte der Kinderliteratur flüssig gelesen werden können. Flüssig heißt: Auf Wortebene werden annähernd alle Wörter automatisiert und fehlerfrei erkannt und verstanden. Auf Satzebene zeigt sich eine akzeptable Lesegeschwindigkeit von deutlich über 100 Wörtern pro Minute beim Vorlesen (die normale Sprechgeschwindigkeit liegt bei etwa 120–160 Wörtern pro Minute, eine normale Lesegeschwindigkeit erreicht beim stillen Lesen etwa 300 Wörter pro Minute) und eine der Syntax angemessene Prosodie; beides ist beim Vorlesen der natürlichen Sprechgeschwindigkeit bzw. Intonation angenähert (vgl. Rosebrock/Rieckmann/Nix/Gold 2011).
Die Automatisierung der Wort- und Satzerkennung eröffnet eine mentale Entlastung vom Entziffern, die ihrerseits die kognitiven Ressourcen für das Textverstehen freigibt. Man kann sich die Wirkung der Automatisierung am Beispiel anderer komplexer Leistungen vergegenwärtigen: Etwa das Autofahren oder ein Musikinstrument zu spielen sind solche Leistungen. Erst wenn das Schalten, Kuppeln, Blinkersetzen und Abbremsen „in Fleisch und Blut“ übergegangen sind, kann der/die Fahrer/in auch noch den Nachrichten im Radio verstehend zuhören; erst wenn die Finger beim Klavierspielen „von alleine“ wissen, welche Bewegung vollführt werden muss, kann sich der/die Musiker/in mental dem größeren Zusammenhang der Töne, nämlich Melodie und Rhythmus, zuwenden.
Automatisierung wird prinzipiell durch Üben erworben. Das Prinzip des Übens ist die variierende Wiederholung. Auf das Lesen bezogen ergeben sich aus diesen Überlegungen zwei Förderansätze: Mit sogenannten Lautleseverfahren kann der Leseprozess selbst überwacht und ggf. korrigiert werden, und er kann wiederholt werden, bis der Übungstext flüssig erlesen werden kann. Wenn die Übungstexte ausreichend lang sind, können die Wörter und Sätze bei der wiederholten Lektüre nicht mehr einfach memoriert und auswendig daher gesagt werden, sondern müssen erneut erlesen werden. Die Lesung des gleichen Textes kann so oft geschehen, bis er flüssig vorgelesen werden kann, was heißt, dass alle in diesem Text gegebenen Wörter und Wendungen tatsächlich im Sichtwortschatz abgelegt und veknüpft wurden.
Die zweite Option wurde oben schon unter dem Begriff Viellesen genannt: Sie besteht in einer Erhöhung der Dosis. Wenn viel gelesen wird, so die Argumente für eine Wirkung von viel Lektüre auf die Leseflüssigkeit, dann werden Wörter immer wieder auftauchen und auf diese Weise angeeignet, sodass sich Leseflüssigkeit sukzessive einstellt. Man hofft, dass das Interesse an der Story die Lesemotivation aufrechthält, sodass auch tatsächlich gelesen wird (dazu unten ausführlicher). Zudem steigert das viele Lesen das Weltwissen, ebenfalls eine wichtige Teilkomponente von Lesekompetenz.
4. Studienergebnisse zu Laut- und Vielleseverfahren
In mehreren Studien haben Prof. Gold, unsere Mitarbeiter/innen und ich Laut- und Vielleseverfahren in Schulen praktisch erprobt. Die beiden Förderverfahren sind dabei nicht gegeneinander angetreten – dafür sind sie zu unterschiedlich in ihrer Anlage und Zielsetzung. Aber wir wollten von Lautlesetrainings und Vielleseverfahren wissen, ob sie bezogen auf den Leseprozess jeweils zur Steigerung der Leseflüssigkeit wirksam sind. Darüber hinaus hat interessiert,