Ohne eine anregende, vielfältige und auch mehrsprachige schulische Lesekultur ist die Aneignung von Lesekompetenz als die Fähigkeit, Lesen für die eigenen Lebensvollzüge zu gebrauchen, für die Schwächeren wohl kaum erreichbar.
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wurden Verfahren zum weiterführenden Lesen im Rahmen des Deutschunterrichts fokussiert auf mehrsprachige Schüler/innen vorgestellt. Beschrieben bzw. diskutiert wurden Verfahren, 1. die auf literarisches Lesen bzw. auf extensive Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur zielen, 2. die den Erwerb von Textverstehens-Strategien anzielen und 3. die die Entwicklung der Leseflüssigkeit anstreben. Die Wirksamkeit der Verfahren wurde im Blick auf Flüssigkeit und Textverstehen dargestellt. Insgesamt wurde argumentiert, dass eigenständige Lektüre für die leseschwächsten etwa 20 Prozent der Schüler/innen in der Grundschule und Sekundarstufe mit altersangemessenen Texten tendenziell zu voraussetzungsreich ist, um deutliche Wirkungen für das Textverstehen zu entfalten. Das gilt auch für die üblichen Verfahren zur Strategievermittlung. Lautleseverfahren zeigen dagegen gute Erfolge; ob sie über die Flüssigkeitsförderung und das bessere Textverstehen hinaus auch weitere Profite bei Wortschatz und syntaktischen Fähigkeiten für Mehrsprachige bieten und ob spezifische Strategien für Mehrsprachige entwickelt und im Deutschunterricht vermittelt werden könnten, bleiben offene Fragen.
Studienfragen
1 Was ist mit dem Begriff „Sichtwortschatz“ gemeint? Warum soll bei Lautleseverfahren ein Text grundsätzlich mehrfach gelesen werden?
2 Warum vermutet man, dass die Lektüre von Kinderliteratur die Lesemotivation von Kindern steigert?
3 Welche Lesestrategien können spezifisch für Lernende mit nicht deutscher Familiensprache formuliert werden?
[bad img format]Lektüreempfehlungen
Rosebrock, Cornelia/Nix, Daniel (2017): Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. 8., überarbeitete und erweiterte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
Bertschi-Kaufmann, Andrea (2016): Offene Formen der Leseförderung. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea/Graber, Tanja (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. 6. Auflage. Seelze: Klett Kallmeyer, S. 170–182.
Kapitel 2 Mehrsprachige (Lese-)texte aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktik
Daniela Elsner
Fragen
1 Das Thema Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Welche Gründe könnte es hierfür geben?
2 Zunehmend werden mehrsprachige Texte im Fremdsprachenunterricht eingesetzt. Welche Formate mehrsprachiger Texte sind Ihnen bekannt? Gelingt Ihnen eine Systematisierung dieser Texttypen?
3 Benennen Sie die drei zentralen Kompetenzbereiche des Fremdsprachenunterrichts. Welchen Mehrwert können mehrsprachige Texte zu deren Förderung Ihrer Meinung nach beitragen?
Abstract
In diesem Kapitel werden die Chancen und Grenzen des Einsatzes mehrsprachiger Texte im Fremdsprachenunterricht diskutiert. Das Kapitel befasst sich zum einen mit der Bedeutung von „Mehrsprachigkeit“ als Bildungsziel und als Bildungsvoraussetzung im Kontext des Fremdsprachenunterrichts, zum anderen werden didaktische Überlegungen zu einem mehrsprachigkeitsorientierten Unterricht angestellt. Sie erfahren, wie und zu welchem Zweck Sie mehrsprachige Texte in einem Fremdsprachenunterricht einsetzen können, der Mehrsprachigkeit als wichtiges Unterrichtsziel anerkennt. Das Kapitel schließt mit einem Einblick in die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zum Potenzial mehrsprachiger Lesetexte im Kontext des gesteuerten Fremdsprachenerwerbs.
Einleitung
Das Thema Mehrsprachigkeit liegt derzeit nicht nur in Elternkreisen stark im Trend. Auch in (fremd-)sprachendidaktischen Wissenschaftsdiskursen hat das Thema Umgang mit und Erziehung zur Mehrsprachigkeit sichtbar an Bedeutung gewonnen. Ein Vergleich des Handbuchs Fremdsprachenunterrichts von 2003 (Bausch/Christ/Krumm) mit dem von 2016 (Burwitz-Melzer/Mehlhorn/Riemer/Bausch/Krumm) zeigt sowohl eine qualitative als auch quantitative Erweiterung des Themas. Während in der älteren Ausgabe das Thema Mehrsprachigkeit lediglich einmal im Rahmen des Kapitels „Erwerbstypen“ abgehandelt wurde (Bausch 2003), wird Mehrsprachigkeit in der jüngsten Ausgabe nicht mehr nur als eine Form des Spracherwerbs diskutiert (Bausch 2016), sondern daneben auch die Frage nach der Integration von Herkunftssprachen im Zweit- und Fremdsprachenunterricht (Hu 2016) gestellt sowie das Potenzial einer gezielten Vernetzung von Sprachen im Rahmen eines Mehrsprachigkeitsunterrichts skizziert (Krumm/Reich 2016).
Ein diachroner Blick in die Marburger Bibliographie „Moderner Fremdsprachenunterricht“ (IFS) der letzten 10 Jahre offenbart schließlich auch eine deutliche Zunahme an Forschungspublikationen, welche sich mit der Frage beschäftigen, wie und warum monolinguale Sprachlernkonzepte überwunden oder zumindest ergänzt werden sollten.
Schließlich kann auch auf internationaler Ebene ein steigendes Interesse am Thema „Umgang mit Mehrsprachigkeit im Kontext des Zweit- und Fremdsprachenunterrichts“ verzeichnet werden, was Stephen May (2013) sowie Jean Conteh und Gabriela Meier (2014) immerhin dazu veranlasste den Multilingual Turn für den Zweit- und Fremdsprachenunterricht zu prophezeien bzw. zu propagieren.
Welche Gründe gibt es für das so offensichtlich steigende Interesse am Thema Mehrsprachigkeit seitens der Fremdsprachendidaktik? Und welche Rolle spielen mehrsprachige Texte in diesem Zusammenhang? Diese Fragen sollen im Folgenden diskutiert und theoretisch und praktisch überlegt werden, wie und ob – aus empirischer Sicht – mehrsprachige Texte einen Beitrag zur Förderung von Mehrsprachigkeit leisten können.
1. Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenunterricht: Gründe für die wissenschaftliche Auseinandersetzung
Das Thema Mehrsprachigkeit wird von Sprachendidaktiker/innen bereits seit langem wiederkehrend diskutiert, nie jedoch war das Interesse an diesem Thema so groß wie heute. Folgende Gründe können hierfür Erklärungen liefern.
Steigende Flüchtlingszahlen
Knapp eine Million Asylanträge wurden im Jahr 2016 in Europa gestellt, etwa zwei Drittel davon entfielen auf Deutschland (https://www.welt.de). Laut Angaben des Bundesamtes für Statistik (https://www.destatis.de) sind ca. 120000 der im Jahr 2015 aufgenommenen Geflüchteten in Deutschland im schulpflichtigen Alter. Die Frage nach der bestmöglichen Förderung von Kindern mit nicht deutschem Sprachhintergrund stellt sich seit diesem Zeitpunkt verstärkt auch für den Fremdsprachenunterricht.
Anhaltende Bildungsbenachteiligung von mehrsprachigen Kindern mit Migrationshintergrund
Wenngleich das Thema Integration von Kindern mit vielsprachigem Hintergrund in Deutschland kein neues ist, wurde bislang offensichtlich noch keine ausreichende Strategie entwickelt, wie diese Lernenden, optimal gefördert werden können. So zeigt eine Statisitik des Statistischen Bundesamts von 2016, dass im Schuljahr 2014/15 30,6 % der Schüler/innen der Sekundarstufe mit nicht deutscher Herkunft eine Hauptschule besuchten (Statistisches Bundesamt 2016: 18). Wenngleich die Gesamtzahl innerhalb der letzten zehn Jahre gesunken ist (43,3 % im Schuljahr 2004/05), ist sie bedenklich vor dem Hintergrund, dass insgesamt in Deutschland nur 12 % der Schüler/innen eine Hauptschule besuchen.
Auch in der jüngsten PISA-Studie zeigt sich, dass der Abstand zwischen Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund unverändert hoch bleibt, und zwar zum Nachteil der Kinder mit Migrationshintergrund (OECD 2016).
Obschon andere Vergleichsstudien, wie z.B. DESI (DESI Konsortium 2008) oder EVENING (Groot-Wilken 2009) zeigen konnten, dass die Unterschiede in den Leistungen ein- und mehrsprachiger Schüler/innen in der Fremdsprache nicht ganz so stark ausfallen wie in anderen Fächern, und mehrsprachige Kinder unter bestimmten Bedingungen,