die sich für die Erforschung stiller Lesezeiten hierzulande und für die Diagnose im Klassenzimmer übernehmen lässt: Anhand des äußerlich sichtbaren Verhaltens wurde das Lesen kategorisiert und konnte relativ trennscharf typisiert werden (vgl. auch Hiebert/Wilson/Trainin 2010).
Die Hoffnung, dass die Vielleseverfahren die Motivation steigern könnten, hat sich in unserer Hauptschulstudie nicht verwirklicht: Sowohl die Lautlese- als auch die Viellesegruppen konnten hier keine signifikanten Steigerungen erzielen, und auch zwischen den Geschlechtern konnten wir keine bedeutsam werdende Differenz finden. In einer weiteren Studie haben wir versucht, dem freien Lesen in einer Hauptschulklasse die systematische Unterstützung und relativ kleinschrittige Kontrolle zukommen zu lassen, von der wir vermuten, dass sie ursächlich am Erfolg der Lautleseverfahren beteiligt sind. Auch diese Studie zum eigenständigen Lesen ist publiziert und soll hier nur erwähnt werden (vgl. Rieckmann 2015; Jörgens/Rosebrock 2011; Rieckmann/Jörgens/Rosebrock 2013). Abgesehen davon, dass eine intensive Unterstützung des freien Lesens nur kleine Fallzahlen zulässt und insofern nur heuristische Ergebnisse liefern kann, ist das gravierendste Problem der Begleit- und Unterstützungsroutinen, dass sie von einer Lehrkraft für etwa 15 leseschwache Kinder nicht geleistet werden kann. Die Implementierbarkeit in das gegenwärtige Schulsystem ist also nicht gegeben.
5. Mehrsprachige Kinder innerhalb der Gruppe schwacher Leser/innen
In der Stichprobe der leseschwachen 12- bis13-jährigen Hauptschüler/innen, die oben knapp beschrieben wurde, berichteten, wie gesagt, 63 % der Kinder, dass sie zu Hause ausschließlich oder zusätzlich eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Diese mehrsprachigen Kinder zeigen in unserem Motivations-Fragebogen, für den wir den Motivation for Reading Questionnaire (Wigfield/Guthrie 1997) leicht modifiziert hatten, eine etwas stärkere Lesemotivation als ihre einsprachigen Klassenkamerad/innen; zugleich ist ihr lesebezogenes Selbstkonzept etwas deutlicher ausgeprägt. Diese beiden Komponenten von Lesekompetenz schlagen sich allerdings nicht in ihren getesteten Leseleistungen nieder. Sie verstehen Texte trotz dieser beiden positiven Faktoren etwas schlechter als die monolingual deutschsprachigen Kinder – wobei, wie gesagt, alle Kinder der Stichprobe in ihrer Leseleistung etwa eine Standardabweichung unter Normal lagen. Die deutschsprachigen zeigen dagegen etwas bessere Ergebnisse im Wortschatztest und in den nonverbal erhobenen kognitiven Grundfähigkeiten, und sie berichten von besseren Voraussetzungen in ihrer Lesesozialisation. Die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit war bei beiden Gruppen gleich (schwach) ausgeprägt (Gold/Nix/Rieckmann/Rosebrock 2010).
Die beiden prozessnahen Variablen Leseflüssigkeit und (mit Abstand) Wortschatz haben sowohl bei den mehrsprachigen als auch bei den einsprachigen Kindern den größten Einfluss auf das Textverstehen. In beiden Gruppen ist die Leseflüssigkeit der bei weitem wichtigste Prädiktor zur Vorhersage des Textverstehens. Eine kleine Differenz ergab sich beim Einflussgewicht dieses Prädiktors: Bei den mehrsprachigen Kindern hat die Leseflüssigkeit (mit einem standardisierten Reggressionskoeffizienten von β = .54.) ein noch größeres Gewicht für das Textverstehen als bei den einsprachigen (β = .48, beide p <.01). Für beide Teilstichproben gilt: Die soziokulturellen und motivationalen Bedingungsfaktoren, durch die sich schlechte Leser/innen der Stichprobe von besseren unter anderem unterscheiden, fallen bei gleicher Flüssigkeit nicht mehr ins Gewicht; auch gibt es keine Wechselwirkung mit Geschlechtszugehörigkeit und Intelligenz und mit dem Erfolg der Lautleseverfahren (a.a.O.).
Damit lässt sich für die Leseförderung mehrsprachiger Kinder im Deutschunterricht sagen: Bei mangelnder Leseflüssigkeit sind Lautleseverfahren für sie genauso wie für ihre einsprachigen Klassenkameraden das erste Mittel der Wahl. Vermutet werden kann zudem, dass diese Verfahren auch spracherwerbsfördernde Wirkung haben. Davon soll abschließend die Rede sein.
6. Fazit und Vermutungen
Die wesentlichen Fragen zur Aneignung von Lesekompetenz durch Zweitsprachenlernende wurden empirisch noch nicht in Angriff genommen (so auch Lesaux/Geva 2008): Abgesehen davon, dass Textverstehen generell eine Schwäche von language-minority students ist, wissen wir viel zu wenig über die Natur ihrer Textverstehensprobleme. Es fehlen Informationen bezüglich demografischer und kontextueller Faktoren, z.B. zur Bedeutung der Jahre gezielten Unterrichts in der Zweitsprache im Verhältnis zu den Leistungen in diesem Bereich oder zum Verhältnis von mündlichen zu schriftlichen Sprachleistungen usw. (ebd.: 49). Für Schüler/innen der „Risikogruppe“ mit und ohne fremdsprachlichen Hintergrund kann in Übereinstimmung mit vorhandenen Studien lediglich empfohlen werden, den Förderschwerpunkt auf die grundlegenden Fertigkeiten der Wort- und Satzerkennung und auf eine Erweiterung des Wortschatzes zu richten – was allerdings kein Argument gegen die ganzheitlichen literaturbezogenen Verfahren sein kann! In diesem Sinne argumentiert auch Grabe (2009).
Auch in den höheren Klassenstufen darf die schulische Leseförderung die basalen Lesefertigkeiten nicht aus den Augen verlieren. Denn: Wenn auf der Wort- und Satzebene nur langsam und fehlerhaft dekodiert wird, wie es bei DaZ-Schüler/innen meist auch in der Sekundarstufe oder der Berufsschule der Fall ist, stellen sich Folgeprobleme beim Verstehen des Textinhaltes ein – die disfluente Lektüre erschwert den Aufbau einer kohärenten mentalen Textrepräsentation und behindert unmittelbar das weitere Lernen. Die Maßnahmen zur Förderung der Leseflüssigkeit sollten darauf abzielen, die Qualität und den Automatisierungsgrad des Dekodierens zu verbessern, die Lesegeschwindigkeit zu steigern und die Fähigkeit zur expressiven prosodischen Gliederung auszudifferenzieren. Wer flüssig und angemessen sequenziert liest, stellt bereits Leseverstehen auf der Satzebene unter Beweis. Allerdings sollte im Blick bleiben, dass eigenständiges Lesen mehr Kompetenzen verlangt als das Lautlesen mit seinen portionierten kurzen Texten in geregelten kooperativen Routinen – und dass eigenständiges Lesen das Ziel aller Leseförderung ist und bleibt.
Soweit das Fazit – allerdings resultieren aus den skizzierten Studien mehr offene Frage als gesichertes Wissen. Forschungsdesiderate zur Leseförderung mehrsprachiger leseschwacher Schüler/innen sollen abschließend angeführt werden:
Möglicherweise verbessert sich durch die Lautleseverfahren auch der Wortschatz. Leider haben wir diese Komponente nicht getestet, der Wortschatz wurde nur als Bedingungsfaktor herangezogen. Das könnte für einsprachige Schüler/innen ebenso gelten wie für mehrsprachige. Damit ein geschriebenes Wort aus dem Kontext heraus verstanden und in den Sichtwortschatz aufgenommen wird, braucht es die ggf. mehrfache aufmerksame Lektüre des Wortes, die Lautleseverfahren gewähren. Gesichert scheint, dass die sprachliche Oberfläche der Lesestoffe für die Förderung möglichst einfach sein sollte; erzählende Kinderliteratur ist insofern ideal geeignet. Jeuk (2015: 143f.) schlägt zur Kompensation des kleineren Wortschatzes und der größeren Schwierigkeiten mit der Morphosyntax Textvereinfachungen für die Deutsch-Lernenden vor.
Ein weiterer Bereich des Profits durch Lautlesetandems könnte die Einübung in schriftsprachliche Satzkonstruktionen sein. Wenn genuin literale Satzformen mehrfach gelesen werden, könnte das Verstehen und der Gebrauch von deutschen schriftsprachlichen Satzmustern gewissermaßen über das "Einschleifen" syntaktischer Regeln erworben werden. Auch hier gilt: Das ist überaus sinnvoll für Schüler/innen mit nicht ausreichend entwickelten sprachlichen Fähigkeiten – die es unter den mehrsprachigen wie unter den einsprachigen "Risikokindern" gibt.
Zu Vielleseverfahren kann vermutet werden, dass ihre Voraussetzungsfülle an den fehlenden Effekten auf der Prozessseite des Lesens beteiligt ist. Die Vorstellung, dass durch die Involviertheit in die spannende, interessante oder lustige Geschichte die Lesemotivation so angeregt wird, dass Lesehürden im hierarchieniedrigen Bereich überwunden werden, ist nicht ganz unberechtigt – denn viele Kinder werden ja auf diesem Weg zu Leser/innen. Aber es fallen eben auch zu viele aus diesem Königsweg zum habituellen Lesen heraus und werden schnell von den Lesefortschritten der anderen abgehängt, wenn ihre Kompetenzen nicht zum Lesematerial passen. Auch das betrifft die mehrsprachigen nicht anders als die einsprachigen schwachen Leser/innen.
Eigenständiges engagiertes Lesen ist und bleibt das übergeordnete Ziel aller Leseförderung! Das Setting eines Lautleseverfahrens, bei dem portionierte adaptive Texte vorgelegt werden, bei dem die Lesezeit seitens der Lehrkraft eingeteilt und überwacht wird und bei dem ein/e Partner/in die gemeinsame Aufmerksamkeit aufrecht erhält, entfaltet eine stark unterstützende