Rennens sprach einer der holländischen Läufer über etwas, das der berühmte Ultra-Läufer und Autor Dean Karnazes einmal gesagt hatte, nämlich, dass die Menschen Komfort oft mit glücklich sein verwechselten. „Glücklich sein muss man sich verdienen“, sagte der Holländer mit Nachdruck. Ich saß da und hörte zu, während mein Blick durch das Lager schweifte und ich dachte an all die Anstrengungen, die nötig waren, dieses Rennen zu organisieren: das Camp jede Nacht an einem anderen Ort wieder aufzubauen, das kleine Vermögen, das jeder Läufer bereit war auszugeben, um hier mitzulaufen, bis hierher ans Ende der Welt zu fliegen, jeden Tag stundenlang durch die glühende Hitze über Sand zu laufen. Alles nur, damit wir das Gefühl haben, dass wir uns unser Glücklichsein verdient hätten?
Einmal kamen Gudrun mitten während des Rennens Zweifel an dem, was sie hier tat, und sie stellte eine rhetorische Frage: „Warum machen wir das hier eigentlich? Wir haben doch so ein schönes Zuhause.“
Hansmartin, ihr Ehemann, stand neben ihr und meinte nur: „Genau deswegen, weil wir eben ein schönes Zuhause haben.“
Wenn Glücklichsein nicht in den Annehmlichkeiten lag, war es dann im Unangenehmen zu finden? War es uns, denen es gut geht im Leben, ein Bedürfnis, Leid zu erfahren? Weil wir dadurch erst lernen, unser Heim und unseren Komfort zu schätzen? Oder machte uns dieses Leiden irgendwie zu stärkeren, erfüllteren Menschen?
All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, als ich an den Moment zurückdachte, an dem wir das erste Mal in Muscat angekommen waren und uns gesagt wurde, dass wir für acht Stunden am Flughafen warten müssten. Nachdem das Rennen beendet war, erkannte ich, dass ich, wäre ich noch einmal in dieser Situation, nun eher meinen Schlafsack auspacken würde und versuchen würde, ein Nickerchen zu machen. Denn plötzlich fühlten sich ein paar extra Stunden am Flughafen gar nicht mehr so anstrengend an. Nach dem Rennen über eine Woche durch die Wüste hatte sich etwas verändert.
2
Und so bin ich auf einmal angefixt. Naja, nicht ganz. Aber ich bin fasziniert. Ein paar Wochen nachdem ich aus dem Oman zurückgekehrt war, treffe ich Elisabet wieder. Ich hatte den Auftrag bekommen, sie für einen Artikel im Guardian zu interviewen, und so verabreden wir uns in der Redaktion der Zeitung im Zentrum Londons, wo wir auf Ledersofas sitzen, Espresso trinken und den Leuten dabei zusehen, wie sie sich für ihre Mittagssandwiches anstellen. Ich frage sie, wie sie zum Ultra-Sport kam.
Sie erzählt mir, dass sie früher eine begeisterte Marathonläuferin war, die ihr Training rund um ihren gut bezahlten Job im Londoner Finanzdistrikt plante. „Ich wurde immer besser“, sagt sie. „Doch dann kam der Punkt, an dem ich überlegte, was ich als nächstes tun sollte. Ich könnte versuchen, die Marathonstrecke schneller zurückzulegen – das ist nicht einfach und sicher eine interessante Herausforderung – oder ich könnte einfach längere Distanzen laufen. Ich beschloss, dass es interessanter wäre, mir die längeren Distanzen genauer anzusehen.“
Ihre Entscheidung, sich dem Ultra-Lauf zu verschreiben, wurde aufgrund einiger unerwarteter Schicksalsschläge beschleunigt. Innerhalb kürzester Zeit starb ihr Vater, wurden bei ihrer Mutter Alzheimer und bei ihrem Ehemann Krebs diagnostiziert. „Alle diese Dinge“, meint sie, „lassen dich erkennen, dass das Leben sehr kurz ist und du aktiv werden musst und nicht einfach rumsitzen kannst und warten.“
Also gab sie ihren Job in der City auf und machte sich auf ins Abenteuer. Um ihr neues Leben finanzieren zu können, eröffnete sie ein Geschäft für Laufzubehör, doch nach ihren Siegen beim MdS und dem Oman-Rennen erschienen immer wieder Zeitungsartikel über sie und so begannen sich auch langsam Sponsoren zu finden, die sie unterstützen. Das macht es natürlich einfacher, zu den Rennen zu reisen und mehr Herausforderungen anzunehmen. Was also als riskante Entscheidung begann, scheint sich nun auszuzahlen.
Ihre Worte beginnen etwas in mir zu bewegen. Ich erinnere mich, wie es sich anfühlte, als ich mich das erste Mal dazu entschieden hatte, einen Marathon zu laufen. Die Idee hing damals schon seit einigen Jahren wie eine Wolke am Horizont, sah mir bei jedem Rennen über kurze Distanzen über die Schulter und wunderte sich, wann ich denn nun endlich einen Marathon laufen würde. Und irgendwann war dann die Zeit gekommen. Das Leben geht weiter. Und so lief ich meinen ersten Marathon.
Seit damals sehe ich immer wieder diesen Weg, der einen Berg hinaufführt, am Horizont auftauchen. Ein langer, sich windender Weg. Ich bin jetzt 42. Ich habe bereits einige solide Marathons hinter mir. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, den nächsten Schritt zu wagen. Herauszufinden, was die Leute da draußen auf diesem Weg finden, das sie dazu treibt, diese unbezwingbar erscheinenden Distanzen zu laufen.
Der Gedanke ist so faszinierend, dass ich kurz darauf meinen Redakteur anrufe. „Ich glaube, ich habe mein nächstes Thema gefunden“, sage ich zu ihm. Ich habe bereits Bücher über meine Reisen nach Kenia und Japan geschrieben, in denen ich versuche, diesen beiden einzigartigen Laufkulturen auf die Spur zu kommen. Diesmal will ich jedoch etwas über ein interkulturelles, globales Phänomen herausfinden, von dem ich erst jetzt begreife, wie groß es eigentlich ist. Was ist diese Welt des Ultra-Sports? Wer sind die Menschen, die diesen Sport ausüben? Worum geht es dabei überhaupt? Der beste Weg, das alles herauszufinden, so beschließe ich, ist mich einfach für ein weiteres Rennen anzumelden und zu laufen.
Über die letzten zehn Jahre ist der Ultra-Marathonlauf rapide gewachsen und gilt als eine der am schnellsten wachsenden Sportarten weltweit.
Die Webseite runultra.co.uk führt eine Liste der größten Ultra-Marathons der Welt. Der Betreiber der Seite, Steve Diederich, erzählt mir, dass er, als er diese Internetseite vor zwölf Jahren einrichtete, 160 Rennen weltweit fand. Heute führt er über 1.800 Rennen auf seiner Seite an, ein Anstieg von mehr als 1.000 %. Die deutsche Ultra-Marathon-Webseite DUV listet die Ergebnisse vieler kleinerer Rennen in ihrer akribischen Datenbank auf, unter anderem auch bis zurück zum 89-km-Rennen von London nach Brighton im Jahre 1837. Über die letzten zehn Jahre hinweg erzählt diese Webseite eine ähnliche Geschichte mit einem 1.000%igem Anstieg an Ultra-Läufen weltweit.
Andy Nuttall, Redakteur des Magazins ULTRA, beschäftigte sich eingehender mit den DUV-Statistiken und fand heraus, dass der Aufstieg des Sports in Großbritannien sogar noch viel stärker ausfiel: waren es im Jahr 2000 nur 595 Personen, die einen Ultra-Marathon im UK beendeten, so stieg diese Zahl bis zum Jahr 2017 auf 18.611.
Wo auch immer ich hinsehe, die Geschichte ist fast immer die gleiche. Das in den USA erscheinende Magazin Ultra Running führt eine Statistik für Nordamerika, die zeigt, dass die Anzahl der Rennen und Personen, die diese beenden, seit 1981 jedes Jahr ansteigt. Auch in Asien ist die Zahl an Ultra-Läufen explodiert. Nic Tinworth, Renndirektor in Hong Kong, erzählt mir, dass, während es vor zehn Jahren erst sechs Ultra-Läufe in Hong Kong gab, die Zahl inzwischen auf 60 angewachsen ist. „In der Vergangenheit“, so sagt er, „konnte man einfach am Renntag nach Hong Kong kommen und sich für das Rennen anmelden. Doch heutzutage sind die Startplätze für die populärsten Rennen innerhalb von Minuten ausverkauft.“
Viele der am meisten überbelegten Rennen der Welt, wie etwa der Ultra-Trail du Mont-Blanc in Frankreich und der Western States 100 in den USA, mussten Lotterien einführen, damit sie die Anzahl potenzieller Teilnehmer in den Griff bekamen. Diederich verwaltet die Anmeldungen aus dem UK für den Marathon des Sables. Trotz der heftigen Anmeldegebühr von £ 4.250 [ca. 4.750 Euro], so erzählt er, sind die Startplätze für das Rennen jedes Jahr in wenigen Minuten ausverkauft.
Wonach streben alle diese Läufer? Im Oman erlebte ich eine Art Wandlung, etwas, das lange nach dem Rennen noch ein Teil von mir blieb. Aber ich habe das Gefühl, dass es da noch mehr zu entdecken gibt. Über die letzten beiden Etappen im Oman ging nichts mehr und ich hätte beinahe aufgegeben. Was wäre aber, wenn ich stark bliebe, auch im Angesicht einer solchen Herausforderung.
Ich erinnere mich an ein Foto der spanischen Ultra-Läuferin Azara García, die eine Tätowierung auf ihrem Bein trägt, die sich folgendermaßen liest (auf Spanisch):
„Der Teufel flüsterte mir ins Ohr: ‚Du