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Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?


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dieser Umstand kann nicht der alleinige Grund für die Erfolgsgeschichte sein, denn das Argument ließe sich ja beispielsweise auch für die anglistische Linguistik anführen, wo in den vergangenen zwanzig Jahren ebenfalls viele Arbeiten zum Sprachgebrauch in den neuen Medien publiziert wurden (vgl. z.B. Crystal 2006), in der Regel aber ohne Bezug auf das Modell von Koch/Oesterreicher.6 Helmut Feilke nennt in seinem „Versuch einer erklärenden Rezeptionsgeschichte“ (so der Untertitel seines Beitrags) noch einen weiteren Grund: Er legt dar, dass der Aufsatz von 1985, in dem Koch/Oesterreicher ihr Modell entwickelten, zu einer Zeit erschien, in der – inspiriert durch die Sprechakttheorie – „jedwedes kommunikative Signal“ als Text angesehen wurde (Feilke 2016, 126).7 Vor diesem Hintergrund sei, so Feilke (2016, 126), die breite Wirkung des Modells in der Germanistik (und in der germanistischen Sprachdidaktik) zu sehen: „Gegenüber diesem Zugang […] rehabilitierten Koch/Oesterreicher mit ihrem Aufsatz den durch Merkmale der Distanzkommunikation gekennzeichneten Text, der eben typischerweise ein Schrifttext ist“ (Kursivierung im Original). Denn dadurch richtete sich der Fokus wieder auf solche Texte, die distanzsprachlich-situationsentbunden für sich stehen können (d.h. auf konzeptionell schriftliche Texte). Und das wiederum macht das Modell, folgt man den Überlegungen von Feilke, so attraktiv für den muttersprachlichen Deutschunterricht, in dem bis heute die Erziehung zur (konzeptionellen) Schriftlichkeit eine zentrale Rolle spielt. Tatsächlich werden in den aktuellen bildungspolitischen Debatten rund um die sogenannte Bildungssprache8 die damit erfassten sprachlichen Kompetenzen „vornehmlich in Verbindung zu konzeptioneller Schriftlichkeit“ gebracht (vgl. Fornol 2017, 178).

      Doch auch an diesem Ansatz wird, wiederum mit Bezug auf Koch/Oesterreicher, Kritik geübt: Schneider et al. (2018, 260) stellen in ihrer Studie zum gesprochenen Standard fest, dass man auch in formelleren Kontexten syntaktisch nicht genau so spricht, wie man schreibt. Als Beispiele nennen sie Verbzweitstrukturen nach der Subjunktion weil (vgl. weil ich habe keine Zeit) oder Apokoinukonstruktionen (vgl. Das ist was Schönes ist das), die im gesprochenen Standard völlig unauffällig, im geschriebenen Standard dagegen stark markiert sind.9 Ihr Fazit lautet, dass die Beschreibungskategorie ‘konzeptionell schriftlich’ in Bezug auf gesprochene Sprache „tendenziell irreführend“ sei und dass „die Diskussion über die sogenannte Bildungssprache den Blick auf mediale Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache“ häufig verstelle (Schneider et al. 2018, 260; Kursivierung im Original).

      Das Modell von Koch/Oesterreicher hat in der Germanistik also eine breite Wirkung entfaltet, und auch in aktuellen Publikationen wird immer wieder darauf Bezug genommen. Allerdings gibt es einen Aspekt, der in allen diesen Arbeiten keine Berücksichtigung findet: Koch/Oesterreicher verwenden in ihren Erläuterungen zum Nähe/Distanz-Kontinuum den Terminus ‘Diskurstraditionen’ und betonen, dass ihnen dieser geeigneter scheine als die Termini ‘Gattung’ oder ‘Textsorte’. Sie begründen dies damit, dass der Begriff der Gattung „zu literarisch besetzt“ sei (Oesterreicher/Koch 2016, 14) und sie den Begriff der Textsorte als „zu ‘mechanistisch’-klassifikatorisch“ (Oesterreicher/Koch 2016, 29) ansehen würden. Weiter führen sie aus, dass beispielsweise ein Privatbrief, ein Vorstellungsgespräch oder eine Predigt historisch gewachsene Diskurstraditionen seien, denen prototypisch konzeptionelle Profile zugeordnet werden können, die „variabel-flexible Realisierungen erlauben und damit ein wirkliches Verständnis für die Fortbildung von Diskurs- und Texttraditionen im Gebrauch eröffnen“ (Oesterreicher/Koch 2016, 29; Kursivierung im Original). Sie tragen damit der Tatsache Rechnung, dass sich die Parameterwerte für bestimmte Profile verändern können (wie z.B. für den Privatbrief), diese aber dennoch, synchron wie diachron, in bestimmten Diskurstraditionen stehen.

      Der in germanistischen Arbeiten vielfach verwendete Begriff der Textsorte hat demgegenüber einen eher statischen, klassifikatorischen Charakter, zudem legt dieser Ausdruck eine Fokussierung auf die geschriebene Sprache nahe (weshalb man im Pendant dazu mit Bezug auf die gesprochene Sprache gelegentlich auch von ‘Diskursarten’ spricht; vgl. Dürscheid 2003). Dennoch hat sich der Terminus ‘Diskurstradition’ in der Germanistik nicht durchgesetzt.10 Das sieht man unter anderem daran, dass es in dem (in der Germanistik vielfach benutzten) Metzler Lexikon Sprache keinen Eintrag zu ‘Diskurstradition’ gibt, dagegen aber einen längeren Eintrag zu ‘Textsorte’ (und viele Querverweise auf diesen Artikel). Und auch in den einschlägigen Publikationen zur Textlinguistik ist nicht von ‘Diskurstraditionen’ die Rede – und dies selbst dann nicht, wenn ein modalitätsübergreifender Ausdruck benötigt wird. Meist spricht man dann von ‘Äußerungen’ (z.B. Schneider 2016, 336) oder von ‘Äußerungsformen’ (z.B. Dürscheid 2016, 365), die in das Kontinuum eingeordnet werden können, nicht aber von ‘Diskurstraditionen’.11 Auch Kirsten Adamzik nimmt in ihrer Einführung in die Textlinguistik, in der sie die einschlägige Terminologie aus dem Modell von Koch/Oesterreicher kommentiert, nicht auf den Terminus ‘Diskurstradition’ Bezug; sie verwendet ihrerseits den Ausdruck ‘Äußerungsprodukt’ (vgl. Adamzik 2016, 53).

      Damit komme ich zum letzten Punkt dieses Abschnitts, zur Rezeption des Modells in aktuellen textlinguistischen Arbeiten. Die Einführung von Adamzik, die in zweiter, vollständig überarbeiteter Fassung im Jahr 2016 erschien, wurde soeben erwähnt; sie steht im nächsten Abschnitt im Fokus, wenn der Koch/Oesterreicher’sche Medienbegriff diskutiert wird. An dieser Stelle sei noch auf ein anderes Buch eingegangen, das den Titel Textkommunikation. Ein textlinguistischer Neuansatz zur Theorie und Empirie der Kommunikation mit und durch Schrift trägt (Hausendorf et al. 2017) und das, wie bereits aufgrund des Titels zu vermuten, einen schriftbezogenen Ansatz verfolgt. Im zweiten Kapitel ihrer Arbeit sagen es die Autoren deutlich: „Texte sind für uns […] die Erscheinungsform einer durch Schriftlichkeit vermittelten Kommunikation. Ein Gespräch ist für uns also kein Text“ (Hausendorf et al. 2017, 40). Ins Zentrum ihrer Ausführungen stellen sie die „Lesbarkeit“ von Texten, sie fokussieren also stark auf die Rezeptionsseite und sehen in dem Herausarbeiten sogenannter „Lesbarkeitshinweise“ die Kernaufgabe der Textlinguistik. Von der „Lesbarkeit“ unterscheiden sie die „Anwesenheit“, die aus ihrer Sicht die zentrale Kommunikationsbedingung für eine Face-to-Face-Interaktion darstellt. In der Schriftlichkeit (z.B. im Chat) sei eine solche Anwesenheit nicht gegeben, hier zähle einzig der Moment der Lektüre, wobei mit jeder neuerlichen Lektüre die Lesbarkeit des Textes neu realisiert wird (vgl. Hausendorf et al. 2017, 35).12 Von einer Interaktion könne man deshalb nicht sprechen; es handle sich um eine „Kommunikation mit und durch Schrift“, deren konstitutives Merkmal gerade nicht die Anwesenheit der Kommunikationspartner ist. Hausendorf et al. (2017, 36s.) halten fest: „Anwesenheit beim Lesen und Schreiben mag zwar in der Evolution der Textkommunikation von Fall zu Fall eine Rolle spielen, ist aber in der Gegenwart ein klar beschreibbarer Spezialfall.“ Ein solcher Spezialfall liegt z.B. vor, wenn ein Schüler im Beisein eines anderen eine Nachricht aufschreibt und den Zettel dann an diesen weiterreicht (z.B. im Klassenzimmer).

      Im Kontext dieser Überlegungen zu Anwesenheit und Lesbarkeit (und damit zu Interaktion und Nicht-Interaktion) diskutieren Hausendorf et al. (2017) auch die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Sie heben nachdrücklich hervor, dass es sich dabei keineswegs um Entsprechungen handle: „Die Unterscheidung von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit fällt […] nicht mit der von uns postulierten Unterscheidung von Anwesenheit (als Bedingung von Face-to-face-Interaktion) und Lesbarkeit (als Bedingung textbasierter Kommunikation) zusammen“ (Hausendorf et al. 2017, 40). Nun mag man einwenden, dass dies auch niemand vermutet habe, da die Unterscheidung von Anwesenheit und Lesbarkeit nicht auf den Duktus von Äußerungen abzielt, sondern auf die Phonie bzw. Graphie (und damit im Sinne von Koch/Oesterreicher auf die mediale Ebene von Mündlichkeit und Schriftlichkeit). Liegt hier möglicherweise eine Verwechslung vor, sollte im Zitat statt von konzeptioneller von medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Rede sein? Die Vermutung wird dadurch bestärkt, dass an späterer Stelle im Text (vgl. S. 43) festgehalten wird, die Unterscheidung in Lesbarkeit und Anwesenheit sei dichotomisch zu verstehen. Denn dies gilt für die mediale Ebene im Modell von Koch/Oesterreicher ebenfalls: Phonie und die Graphie sind zwei getrennte Einheiten, dem „dichotomischen Verhältnis von ‘graphisch’ und ‘phonisch’ beim Medium“ werden die „kontinualen Verhältnisse bei der Konzeption“ (Oesterreicher/Koch 2016, 20) gegenübergestellt.

      Doch auch von einer solchen Zuordnung