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Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?


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sie diesen Aspekt in den Text selbst ein. Sie wollen damit der Aussage Nachdruck verleihen, dass „selbstverständlich […] Transpositionen aller genannten Äußerungsformen in das jeweils andere Realisierungsmedium jederzeit möglich sind“ (Koch/Oesterreicher 1985, 21). Als Beispiel nennen sie einen Tagebucheintrag, den man laut vorlesen kann, oder den Vortrag, den man abdrucken kann.

      Ihre Aussagen zur „medium-transferability“ haben Koch/Oesterreicher den Vorwurf der Medienindifferenz bzw. Medienneutralität eingebracht (vgl. dazu ausführlich Feilke 2016, 143–148; Adamzik 2016, 70–72; Selig 2017, 119–123). Helmuth Feilke stellt z.B. fest, dass sich die „Autoren durch ihre apodiktische Trennung von Medialität und Konzeption […] in der Linguistik und Sprachdidaktik vielfacher Kritik ausgesetzt haben“ (2016, 145), und Maria Selig merkt an: „Vollständig zurückzuweisen ist schließlich der Gedanke an die mediale Äquivalenz beim Transkript eines spontanen Gesprächs“ (2017, 122). Ein transkribiertes Gespräch sei eben kein Gespräch, nur aus der Perspektive des Wissenschaftlers könne man von Äquivalenz und Austauschbarkeit sprechen. Doch eine solche Austauschbarkeit meinten Koch/Oesterreicher meines Erachtens nicht; sie schreiben ja selbst, dass ein Brief, wenn er vorgelesen werde, einen anderen Charakter bekomme und die dadurch entstehenden Veränderungen (z.B. durch die dialektale Aussprache) „eben auch für Modifikationen im konzeptionellen Profil der Äußerungen verantwortlich sind“ (Oesterreicher/Koch 2016, 22). Was sie aus meiner Sicht einzig betonen wollten, ist, dass Sprache prinzipiell von einer Modalität in die andere transponierbar ist (vgl. dazu auch Feilke 2016, 144). Wie sonst könnte man als literaler Mensch laut lesen, was man schreibt, und aufschreiben, was man spricht? Das bedeutet aber nicht, dass die Äußerungen im Nähe/Distanz-Kontinuum an derselben Stelle eingeordnet werden müssten. Wie wir weiter unten auch am Vergleich von Chat-Konversationen und Gesprächen sehen werden, gibt es hier wesentliche Unterschiede, die eine Eins-zu-Eins-Entsprechung in der Positionierung solcher Kommunikationspraktiken auf phonischer und graphischer Ebene verbieten (vgl. Abschnitt 4). WhatsApp-Chats beispielsweise unterliegen, stellt Jakob (2018) fest, spezifischen pragmatischen Bedingungen, und diese „Affordanzbündel“ sind nicht dieselben wie in einer Face-to-Face-Kommunikation. Insofern ist auch die Rede von „getippten Gesprächen“ (vgl. den Titel eines Beitrags von Angelika Storrer aus dem Jahr 2001) in Bezug auf die Chat-Kommunikation irreführend.

      Weiter oben wurde schon festgestellt, dass die Kritik an dem Modell von Koch/Oesterreicher an verschiedene Medienbegriffe anschließt. Wenn Jannis Androutsopoulos in seinem Aufsatz „Neue Medien – neue Schriftlichkeit?“ von einer „Medienvergessenheit“ des Ansatzes spricht, „der den Medienbegriff nur auf die grafische Realisierung des Zeichensystems Sprache bezieht und die Rolle technischer Medien kaum reflektiert“ (Androutsopoulos 2007, 80), dann legt er einen technischen Medienbegriff (= Medium2) zugrunde.4 Diese Kritik lässt sich aber schnell entkräften. Denn es war gar nicht der Anspruch Koch/Oesterreichers, die Rolle technischer Medien zu „reflektieren“; sie haben (nun einmal) einen anderen Medienbegriff (vgl. dazu Dürscheid 2016). Das Problem liegt hier eher in der Medienlinguistik, die den Koch/Oesterreicher’schen Ansatz an ihrem Medienbegriff misst, nicht am Modell selbst.

      Was den zweiten Vorwurf zur Medienvergessenheit betrifft, der oft fälschlich mit dem ersten gleichgesetzt wird, geht dieser von einem anderen Medienbegriff aus: Medien sind dieser Position zufolge Verfahren der Zeichenprozessierung (s.o.), sprachliche Zeichen seien von diesem Prozess (und damit den Kommunikationsbedingungen, unter denen sie produziert werden) nicht abtrennbar und nicht auf den phonischen und graphischen ‘Kode’ reduzierbar (vgl. Schneider 2016, 343). In diesem Sinne könne es keine „Medientheorie ohne Medien“ geben (so der Titel des Beitrags von Fehrmann/Linz 2009), jede Kommunikation sei medial; in der Face-to-Face-Kommunikation sei es z.B. die „Stimmlichkeit der Stimme etwa, die Mimik und Gestik, die Interaktion im gemeinsamen Wahrnehmungsraum, der Augenkontakt“ (Schneider 2016, 340), die „mehrdimensionale mediale Bezugnahmen“ (Fehrmann/Linz 2009, 138) darstellten.

      Jan Georg Schneider wendet sich damit gegen einen seiner Meinung nach verkürzten Medienbegriff, in dem die Kommunikationsbedingungen (z.B. die Entkoppelung von Produktion und Rezeption) von der Medialität abgetrennt werden und der Umstand nicht berücksichtigt wird, dass es „sowohl im Mündlichen wie auch im Schriftlichen unterschiedlichste mediale Verfahren“ (Schneider et al. 2018, 62) gebe. Dieser Ansatz erinnert in gewisser Weise an das Interaktionskonzept von Hausendorf et al. (2017), nur ist jenes soziologisch, dieses medientheoretisch ausgerichtet: Auch Hausendorf et al. (2017, 41) betonen, dass die Face-to-Face-Kommunikation „weit über Mund und Ohren“ hinausgehe und hierbei nicht notwendig gesprochen werden müsse. Sie schlagen deshalb vor, auf die Termini ‘Mündlichkeit’ und ‘Schriftlichkeit’ zu verzichten und sie durch das Begriffspaar ‘Anwesenheit’ und ‘Lesbarkeit’ zu ersetzen (s.o.). Schneider seinerseits fordert dazu auf, die konzeptionelle Dimension nicht von der Medialität zu trennen und den Medienbegriff anders zu definieren. Er kritisiert, dass „in der Linguistik bis heute ein dinglicher Medienbegriff“ vorherrsche (mit dem er vermutlich sowohl Medium1 als auch Medium2 meint) und an diese Stelle ein prozessorientierter Medienbegriff (= Medium3) treten solle (vgl. Schneider 2016, 553). Daran freilich übt wiederum Thomas Krefeld Kritik (s.o.). Er wendet sich dagegen, die Materialität des Zeichens (also seine Artikulation/Audition) mit der Medialität zu identifizieren (vgl. Krefeld 2018, 12), und vertritt seinerseits einen Medienbegriff, der ansatzweise in eine technische Richtung geht (= Medium2).

      Es gibt also zahlreiche Diskussionen rund um den Koch/Oesterreicher’schen Medienbegriff und verschiedene kritische Stimmen zu dem von ihnen beschriebenen Verhältnis von Medium und Konzeption. Auf einige wichtige Publikationen wurde Bezug genommen (Schneider, Feilke, Androutsopoulos, Selig, Krefeld), auf andere konnte hier nicht eingegangen werden. Deshalb sei an dieser Stelle nochmals auf den instruktiven Sammelband von Feilke/Hennig (2016) verwiesen. Darin findet man sowohl im zweiten Themenblock unter der Überschrift „Zur wissenschaftstheoretischen und -historischen Verortung“ (S. 73–186) als auch im vierten Themenblock „Zur medialen Dimension von Nähe und Distanz“ (S. 333–415) gute weiterführende Literaturhinweise zur Rezeption des Modells.

      4 Koch/Oesterreicher und das Internet

      Kommen wir nun abschließend zu der Frage, was Peter Koch und Wulf Oesterreicher in ihren neueren Publikationen selbst zum Thema ‘neue Medien’ (die ja so neu nicht mehr sind) schreiben und wo die aktuelle Internetforschung in Bezug auf das Verhältnis von Schriftlichkeit (Graphie) und Mündlichkeit (Phonie) steht. Zunächst zum ersten Punkt: In der überarbeiteten Auflage ihres Studienbuchs halten Koch/Oesterreicher fest:

      Die völlig neuen Kommunikationsformen, die sich vor unseren Augen im Bereich der computergestützten Medien inzwischen eingebürgert haben (E-Mail, SMS, chat etc.), sind längst auch auf das Interesse der Linguisten gestoßen. Man könnte nun auf den Gedanken kommen, dass das Schema in Abb. 5, das allein die Medien Phonie und Graphie berücksichtigt, nicht ausreicht, die Komplexität dieser neuesten medialen Entwicklungen zu erfassen. Einer solchen Einschätzung ist jedoch entschieden zu widersprechen. (Koch/Oesterreicher 2011, 12–14)

      Warum dieser Einschätzung zu widersprechen ist, führen sie im Anschluss daran kurz aus; die Begründung entspricht der, die sie – hier etwas ausführlicher – in ihrer letzten gemeinschaftlichen Publikation vortragen. In diesem Beitrag widmen sie dem Thema sogar ein eigenes Kapitel, das die Überschrift „Neue Medien und Korpuslinguistik“ trägt. Hier stellen sie fest, dass man der Meinung sein könne, dass die „Nähe-Distanz-Unterscheidung […] für die Behandlung dieser medialen Entwicklungen unbrauchbar sei“ (Oesterreicher/Koch 2016, 53), dass diese „irrige Meinung“ aber zurückzuweisen sei. Dann legen sie dar, dass auch die neuesten Kommunikationsformen „im sensorischen Bereich letztlich immer auf dem akustischen Prinzip der Phonie oder auf dem visuellen Prinzip der Graphie“ (Kursivierung im Original) aufbauen würden und deshalb selbstverständlich auch diese „mit den anthropologisch fundierten kommunikativen Kategorien erfasst“ (2016, 53) werden können.1

      In der Tat sind alle drei von ihnen genannten Kommunikationsformen (die E-Mail-, die SMS- und die Chatkommunikation) schriftbasiert; sie basieren auf dem „Prinzip der Graphie“ (s.o.). Daran ändert auch nichts der Umstand, dass in eine