Sabine Adatepe

Lichtblau


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Terroristen«, entzifferte Ti, »am zweiten Provokateure, am dritten …« Fragend schaute sie auf.

      »Demonstranten«, erklärte er, »aber wichtig ist der vierte: Am vierten Tag wurden wir zum Volk!« Er lachte. Lea stimmte ein und nahm den Tee, den das Hennamädchen ihr reichte.

      »Gibt’s hier irgendwo Simit oder Börek?«, fragte Lea. »Ich hab einen Bärenhunger, vor lauter Aufregung hab ich gestern glatt vergessen, etwas zu essen.«

      »Und wir dachten schon, du bist Gezi-besoffen wie wir alle hier, als du gestern hier angetaumelt kamst. Übrigens, ich bin Tayfun.«

      Lea grinste. Schwach erinnerte sie sich daran, dass sie am Vorabend mit dem Sprayer gehen wollte, aber einfach umgekippt war. Wie sie ins Zelt kam, wer die Mädchen waren, neben denen sie geschlafen hatte, war ihr schleierhaft. »Ich hol mal Simit«, sagte sie.

      »Geh nicht zu einem der fliegenden Händler!«, rief das Hennamädchen.

      »Aber …«

      Das Mädchen wurde richtig streng, als sie erklärte: »Die meisten sind Polizeispitzel, immer noch! In Gezi heißt die Devise: kein Geld, kein Eigentum, alles ist für alle da!«

      »Oder auch: nichts für niemanden!« Tayfun lachte. »Da vorn ist der Gezi-Supermarkt, schau mal, was du da findest.« Er wies mit dem Pinsel um drei Ecken, und Lea lief los, stolperte über Beine und Katzen, Heringe, Leinen und Decken. Alle drei Schritte blieb sie stehen, beäugte Graffiti, Aufkleber, Zettel mit Parolen oder Annoncen, lächelte Neuankömmlingen zu, beantwortete Fragen, stellte selber welche, lauschte einer Querflöte, sprang einer Gruppe junger Mütter bei, die von Kindern bemalte Laken zwischen Bäume spannten, während die Kleinen auf Steinen und Wegen weiterwerkelten, lehnte Zigaretten ab, reichte Wasserflaschen und Gasmasken von Hand zu Hand, wenn sie gerade durch eine Versorgungskette lief, staunte über ein Grüppchen, das mitten auf dem Pflaster sitzend meditierte, und fühlte sich als alte Gezi-Häsin. Endlich fand sie den Supermarkt.

      »Willkommen im Çapulcu-Markt« stand krakelig auf einem Pappschild. Auf einer Pyramide aus Steinen lag alles, was das Herz begehrte, Schokoriegel, Saft, Cracker, Wasserflaschen, sogar Käse, Honig, Konfitüre in Portionsdosen. Oben hinter dem Pappschild drängten sich Plastiktüten mit Einkäufen und Mitbringseln für den fliegenden Marktplatz. Sie griff nach Keksen, hielt nach Obst aber vergeblich Ausschau. Gleich nachher würde sie irgendwo eine Riesentüte Obst besorgen, einen Apfel abzweigen und den Rest in den Soli-Supermarkt tragen.

      Auf dem Rückweg fand sie den Weg von einer größeren Gruppe auf dem Boden sitzender Leute versperrt. »Ah, die Yogis sind auch schon da«, sagte jemand. Lea setzte sich dazu. Eine Vorturnerinnenstimme lud zum Sonnengruß ein.

      Als Lea nach dem letzten Ausatmen die Arme senkte, stieß ihr Ellbogen den Nachbarn an. »Pardon!«, sagte sie und traf auf Tayfuns Grinsen.

      »Ich hab dich gesucht. Simit-Holen kann ja keine Stunde dauern!«, sagte er theatralisch. »Es wimmelt hier nur so von Terroristen, Provokateuren, Demagogen. Und Tschapulierern natürlich.« Er zwinkerte ihr zu, zog sie aus dem Pulk der Yoga-Mädchen und nahm sich einen Keks aus ihrer Packung. »Noch einen Tee, dann aber an die Arbeit!« Lea ließ sich gern entführen.

      Vor einem Zelt teilte eine ältere Frau Tee aus, deren Goldzahn aufblitzte, wenn sie lachte, und sie lachte ununterbrochen. Gleich daneben hockten zwei Männer und spielten Tavla. Tayfun wies Lea auf die zusammengefalteten Zettel hin, die neben dem aufgeklappten Spielbrett lagen. »Sie spielen ›Verschlossener Umschlag‹«, erklärte er. »Vor dem Spiel notiert jeder Spieler etwas auf einem Zettel. Der Verlierer muss dann tun, was der Gewinner ihm zugedacht hat.«

      »So ungefähr wie Flaschendrehen zu zweit.« Lea lachte, dann stutzte sie. Verschwommen stieg eine Erinnerung in ihr auf.

      »Es hat etwas mit Vertrauen zu tun«, sagte Tayfun und in Leas Kopf riss ein Schleier.

      *

      »Das ist reine Vertrauenssache, Ti!«, hatte der Vater gesagt und Lea den Umschlag aus der Hand genommen. Wie viele Jahre war das her? Er hatte sie zum Wochenendbesuch abgeholt und abends zu Freunden mitgenommen. Sie spielten »Verschlossener Umschlag«. Lea wollte wissen, was der Freund für ihren Vater notiert hatte, was würde er tun müssen, wenn er das Spiel verlor? Doch der Vater legte den Umschlag auf den Tisch zurück. »Ich vertraue meinen Freunden«, sagte er. »Was sie für mich entscheiden, ist richtig.« Er war Tavla-süchtig, doch die Umschläge kamen nur selten ins Spiel. Vertrauenssache! Lea wusste, dass sie am Ende erfahren würde, was darin stand. Der Verlierer würde seinen Umschlag öffnen und ihn lesen, erst für sich, oder, wenn er Mut hatte, auch gleich laut für alle. Man würde lachen und diskutieren und der Verlierer würde tun, was der Gewinner für ihn vorgesehen hatte. Was aber im verschlossenen Umschlag für den Gewinner für den Fall seiner Niederlage bestimmt gewesen war, blieb Geheimnis des Verlierers.

      Seit der Trennung der Eltern waren die wenigen Tage mit dem Vater Sternstunden für Lea. Er lebte in einer anderen Welt als die Mutter, die den ganzen Tag arbeitete und kaum Zeit für die Tochter hatte. Vater Ziya schien unendlich viel Zeit zu haben, vor allem aber war er, im Gegensatz zur Mutter, die nach Feierabend meist nur noch ihre Ruhe wollte, nie allein. Er nahm sie in den Verein mit, auf Demos, zu Veranstaltungen, in Konzerte, zu Freunden sowieso. Gemeinsam wurde gelacht, viel schwarzer Tee heiß aus kleinen taillierten Gläsern getrunken, gegessen und diskutiert, oft lautstark.

      »Du bist mein Sonnenstrahl, Ti!«, lachte der Vater jedes Mal, wenn er sie abholte. Ti war sie nur bei ihm. Wie fast immer hatten die Eltern sich auch beim Namen für die Tochter nicht einigen können, deshalb trug sie einen Doppelnamen: Lea für die Mutter, Tirêj für den Vater. »Aber das ist doch ein Jungenname!«, hatten Vaters Freunde gelästert. »Es ist der schönste Name auf der Welt: Sonnenstrahl, ein ganzes Bündel voller Sonnenstrahlen und obendrein noch mit den Farben des Regenbogens«, hielt der Vater stets dagegen. »All das ist meine Tochter für mich. Als Sohn hätte sie diesen Namen bekommen, warum soll sie nicht auch als Tochter so heißen?« Und Lea trug den Namen mit Stolz, für ihren Vater und für seine Freunde.

      Der Vater hatte damals das Tavla-Spiel verloren. Er war blass geworden, als er las, was der Freund geschrieben hatte. Laut wollte er die paar Zeilen nicht vorlesen. Er hatte den Zettel gefaltet, in die Hemdtasche gesteckt, dem Freund die Hand gereicht und mit eiskalter Stimme gesagt: »Mein Wort darauf!« So sehr Lea auch bettelte, sie erfuhr nie, was auf dem Zettel für den Vater stand. Kurz darauf war er fort gewesen. Er rief nur noch an, zunächst häufig, dann immer seltener, und stets versprach er: »Ich bin bald wieder da.« Doch wo er war, verriet er nie. Lea war todtraurig, er vertraute ihr also nicht. »Du wirst es eines Tages verstehen«, flüsterte er durchs Telefon. Später meinte Lea, er hätte dabei jedes Mal einen Kloß im Hals gehabt.

      Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Und seinen Namen für sie nie wieder benutzt. Bis gestern.

      *

      »Ti? Warum weinst du?« Tayfun nahm ihren Ellbogen. »Was ist los? Hab ich was Falsches gesagt?«

      Ein Schauer durchzuckte sie, sie schüttelte den Kopf, wischte mit dem Handrücken energisch über die Augen. »Nur eine Erinnerung«, murmelte sie. »Ist schon vorbei!« Tayfun musterte sie besorgt, sie zog die Mundwinkel hoch. Zwing dich zum Lächeln, du wirst staunen, wie sich das Spiel der Muskeln auf deine Stimmung auswirkt! Eine Yogi-Regel. Oder so.

      »Hörst du das?« Sie lauschte. Der Pianist auf dem Taksim-Platz spielte immer noch oder schon wieder. Sie mussten nicht darüber reden, Hand in Hand liefen sie los, schlängelten sich durch die Menschen, die auch an diesem Morgen zahlreich in den Park strömten. »Imagine all the people«, summten sie mit, »Living for today …«

      Sie setzten sich ein wenig abseits, sangen laut mit all den Menschen, Hunderte, Tausende, Hunderttausende, die hier auf den Beinen und in Bewegung waren: »You may say I’m a dreamer … But I’m not the only one …«

      Als Lea aufstehen wollte, kribbelten ihr die Beine, zu lange hatte sie im Schneidersitz verharrt, stundenlang erst der Musik dann den Debatten über das weitere Vorgehen gelauscht. Tayfun hatte sich bald gelangweilt, nachdem zunächst er es gewesen war, der unbedingt teilnehmen wollte,