Sabine Adatepe

Lichtblau


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an Raumkonzepte.

      Stehen heißt: Raum nehmen. Sich das Recht auf Raum erstehen. Wo ich stehe, gehöre ich hin. Der Platz, auf dem ich stehe, gehört mir, und sei es für die Dauer des Stehaktes. Ich erhebe Anspruch auf diesen Raum. Ich besetze den Raum. Besetzter Raum lässt Atmosphäre entstehen. Und hier: Es entsteht etwas, wo einer steht und andere sich zu ihm stellen. Zu ihm stehen. Einer steht für alle da, alle stehen für einen ein.

      In der Türkei blieben plötzlich überall Menschen einfach stehen, vor allem vor Amtsgebäuden, Denkmälern, Polizeiwachen, Parteibüros. Was für eine Idee! Ausgelöst von einer spontanen Reaktion eines einzelnen Performancekünstlers, der behauptete, es sei gar keine Performance gewesen, nicht einmal eine Aktion. Er habe einfach nicht anders gekonnt, als auf dem Taksim-Platz stehenzubleiben. Stundenlang. Bis er verhaftet wurde. Wegen unbefugten Stehens auf einem Platz und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Stehen erregt Aufsehen. Ist ein Ärgernis. Wie wahr, dachte Marie und lachte. Manfred nahm den Blick vom Fernsehapparat und drehte ihr fragend den Kopf zu.

      »Hier ist ein toller Text. ›Gedanken im Fluss‹, steht darunter, scheint eine Reihe zu sein. In der heißen Phase geschrieben war.«

      »Bist du schon wieder bei den Istanbuler Protesten?«

      Marie nickte und klickte auf den Autorennamen. Mavi, Studentin, 24, Deutsch-Kurdin, derzeit Istanbul. »Ich schreib mal drauflos«, stand noch in der kurzen Autorennotiz.

      Als Studentin hatte auch Marie drauflosgeschrieben. Einige wenige Texte hatte sie unterbringen können. Dann führte sie die Mitarbeit im El-Salvador-Komitee gewissermaßen in die Welt, dort hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, anerkannt und gebraucht zu werden. Zu Beginn traute sie sich kaum, den Mund aufzumachen, übernahm aber gern Aufgaben, die andere in dem kleinen Kreis lästig fanden: Protokoll schreiben, dies tippen, das übersetzen. Hier sagte niemand: Ganz nett, üb schön weiter. Ihre Texte gingen an die Presse. Den Spanischkurs konnte sie sich bald schenken, die Praxis lehrte sie viel mehr als ein Kurs es je gekonnt hätte. Sie schrieb kleine Texte, über Cardenals Liebeslyrik, über Camilo Torres und Bischof Romero, über Lyrik und Befreiungstheologie. Wie fühlte sie sich damals aufgerufen und ohnmächtig zugleich. »Nicht gescheitert, nur die Ziele zu hoch gesteckt!« Sie lachte bitter auf, als ihr diese Zeile aus einem ihrer frühen Gedichte in den Sinn kam. Diesmal zog Manfred die Augenbrauen hoch, als sein Kopf sich erneut zu ihr drehte.

      »Immer noch nicht fertig? Die Tagesthemen fangen gleich an.«

      »Bin sofort da.«

      Aufgewühlt lief sie in die Küche. Sie war doch schon so lange unterwegs, vor jeder Ecke hatte sie gehofft, hinter dieser endlich angekommen zu sein, nur um nach kurzer unbehaglicher Rast weiterziehen zu müssen. Jedes Mal tröstete sie sich: Es ist noch nicht soweit, geh weiter, nimm auch diese Erfahrung mit, für irgendetwas wird sie schon gut sein. Seit Jahrzehnten war sie unterwegs und trug eine Art Werkzeugkasten mit sich. Klein und handlich, dünnwandig, unförmig, unscheinbar, doch unverwüstlich, gierend nach allen Werkzeugen dieser Welt. Und Marie begann zu sammeln, was ihr unterkam, was ihr verwertbar schien, sie anlachte oder ihr vor die Füße fiel, oft auch musste sie mit Händen danach greifen, reißen, zerren und sich lange mühen, bis es in den Kasten passte. Nichts ging verloren. Doch statt dass der Kasten sich füllte, eng und prall wurde, schaffte jedes Werkzeug Raum für neues, Raum für Dinge, an die nie zuvor gedacht war, denn jedes kam mit seiner eigenen Geschichte, öffnete Türen, wo zuvor nicht einmal Mauern gewesen waren. Der Werkzeugkasten wuchs zu einem Kosmos, der nie durchmessen, nie umfänglich erforscht, vor allem aber nie ganz gefüllt sein würde. Das hatte sie mit Staunen zur Kenntnis genommen. Und irgendwann akzeptiert.

      Marie war unterwegs. Sie war auch mit gut Mitte vierzig noch lange nicht angekommen. Manchmal blieb sie stehen, blickte zurück, staunte über die zurückgelegte Strecke, über die Kurven, die ihr beim Gehen gar nicht wie solche vorgekommen waren. Ihr Weg war noch lang. Sie würde ihn gehen. Auf einem Platz in Istanbul hatte sich einer hingestellt.

      »Aufstehen!«, sagte sie laut und räumte den Lamabecher in die Spülmaschine.

      »Was?«, fragte Manfred aus dem Wohnzimmer.

      Ins Auge fassen, wogegen es sich zu wehren gilt, Widerstand leisten. Stehen. Und dann gehen.

      »Ich mach noch einen Tee, willst du auch?«, rief sie zurück. Sie hörte ihn förmlich den Kopf schütteln. Als das Wasser kochte, langte sie nach dem lichtblauen Keramikbecher mit den silbernen Sternen. Genau der richtige für den Klarer-Geist-Tee und den Blick in die Kristallkugel. Wo nur, wo sollte sie hin? Mit sich und ihren brachliegenden Talenten …

      7

      LEA

      #direngezi

      Am zweiten Abend ging sie mit Tayfun, als er sich auf Spraytour machte. Er führte sie nach Karaköy, erst den Yüksek Kaldırım hinunter bis zum Galataturm, dann mitten hinein in das kultige Hafenviertel. Die ganze Stadt schien im Umbruch zu sein, Baustellen an allen Ecken und Enden.

      »Hier haben sie wahnsinnig viel abgerissen und durch moderne Neubauten ersetzt«, erklärte Tayfun. »Aber wir retten, was zu retten ist.«

      »Wir?«, fragte Lea konsterniert. »Wer ist wir? Ich wusste nicht, dass du für eine Organisation arbeitest.«

      »Quatsch! Für Vereine bin ich nicht geschaffen.« Tayfun grinste. »Wir sind alle. Also alle, die etwas verändern wollen, die nicht hinnehmen, was uns aufgezwungen wird.«

      »Die leben wollen, statt dahinzuvegetieren«, stieg Lea auf seinen Diskurs ein.

      »Genau!«

      Diese Lebensart hatte Lea im Park so intensiv gespürt wie nie.

      »Aber Gezi ist nicht der Auslöser«, gab Tayfun zu bedenken, »Gezi ist nur der Schmelztiegel, der uns alle an einem Punkt zusammengebracht hat.«

      »Und was wird nach Gezi sein?«

      »Taksim ist überall!« Tayfun wischte ihre Sorge mit dem gängigen Slogan beiseite. Sie wunderte sich selbst, dass die Frage nach dem Danach sie immer dann überfiel, wenn sie den Park verließ. »Weiter so! Wir bleiben hier! Der Widerstand geht weiter!«, lautete die feste Überzeugung aller im Park. Nichts war mehr wie zuvor und nichts würde den mächtigen Sprung, den die Gesellschaft in den vergangenen zwei Wochen nach vorn gemacht hatte, je wieder ungeschehen machen können.

      An einer Mauer übermalte eine Frau einen Spruch. Lea blieb stehen, versuchte die verbliebenen Buchstaben zu entziffern.

      »Sind leider auch dumme sexistische Sprüche dabei«, erklärte ein Mädchen mit wippendem Pferdeschwanz, als sie Leas fragenden Blick sah. »Viele Männer finden so was lustig. Aber wir wollen keinen Sexismus!« Sie deutete auf mehrere Flecken an der Mauer. Ein vermummtes Mädchen, die große Blumen auf die grau übertünchten Stellen sprayte, drehte sich um und rief: »Sollen sie Tayyip verfluchen, aber doch nicht auf dieser Ebene! Unser Kampf fängt gerade erst an. In den Köpfen muss noch so viel passieren …«

      Da kam Tayfun angesprungen, griff nach Leas Arm. »Komm! Schnell!«

      »Aber ich rede gerade …«

      »Später. Komm jetzt! Es geht los!«

      Erst da wurde Lea gewahr, dass die fröhliche Aufregung ringsum angespannter Unruhe wich. Die Feministinnen malten weiter, aber vor den Bars und Cafés wurden hektisch Hocker und Tische gestapelt, Leute hasteten bald zielstrebig, bald kopflos umher. Und jetzt hörte sie auch die Polizeisirenen.

      »Die räumen!«

      Sie liefen durch Rauch und Tränengasnebel, doch Taksim-Platz und Gezi-Park waren weiträumig abgesperrt. Tayfun wurde panisch, er wollte unbedingt hin. Die Freunde, die Zelte! Sie schafften es bis zur Istiklâl-Straße. Leute rannten, Wasserwerfer rollten, Reizgasgranaten flogen in die eine, Steine und Flaschen in die andere Richtung.

      Bald konnte Lea nicht mehr. Sie keuchte, hustete, das Atmen fiel ihr immer schwerer. Ich bin ihm ohnehin nur ein Klotz am Bein, dachte sie traurig. Doch wo sollte sie hin?

      »Zieh