Sabine Adatepe

Lichtblau


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wirken zu lassen. Dann fesselte die Diskussion sie doch. Für sie war alles neu. Aber die Proteste dauerten nun schon zwei Wochen an und es drängte die Frage, wie es weitergehen sollte. Sich organisieren, eine Partei gründen, wollten die einen, die anderen hielten dagegen: Unsere Stärke ist unsere Vielfalt, gerade ohne Organisation. Und wie mit einer Räumung umgehen, die manchen undenkbar, anderen aber unmittelbar bevorzustehen schien? Endlos war es hin und her gegangen. Lea wollte bleiben, als es Tayfun weiterzog. Rasch notierte er seine Handynummer auf ihrem Arm. »Für alle Fälle!« Er zwinkerte ihr zu und weg war er. Als das Fazit am Ende lautete: »Wir bleiben, wir kämpfen weiter!«, war Lea fast enttäuscht. Natürlich würden sie bleiben! Der Park gehörte den Menschen, das war doch wohl klar. Aber eine Zukunftsansage war das nicht.

      In ihrem Kopf herrschte ein ähnlicher Trubel wie im Park. Sie wühlte sich durch die wogende Menge, die plötzlich stockte. Ein gespenstisch stiller Zug von zehn, vielleicht fünfzehn Gestalten schlängelte sich durch die Menschen. Einige in Schwarz, nur die Gesichter weiß bemalt, andere als Clowns geschminkt. Ein Mädchen mit roter Pappnase und schneeweißer Riesenblüte im Haar kam Lea bekannt vor. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Das war doch Özlem, das Mädchen aus dem Bus! Sie wollte ihren Namen rufen, doch etwas hielt sie zurück. Wie sie da stumm gleichsam durch die Menge schwamm, ging von der Gruppe ein majestätisches Schweigen aus, das nicht nur Lea in ihren Bann zog. Pantomime!

      Voran stolzierte ein Mann im schwarzen T-Shirt, das weiße Gesicht maskenhaft. Oder war es eine Frau? Wie ein Zirkusdirektor schritt er, oder sie, breit die Beine, die Brust geschwellt, führte er seine Truppe durch den Park. Unvermutet schlenderte er, spähte nach links und rechts, lächelte selig, bückte sich, hob etwas auf, die Leute reckten die Köpfe, wollten sehen, was er vom Boden klaubte, doch seine schlanken Hände waren leer, das heißt, nur er sah, was er hielt, er beäugte es, strich sanft darüber, steckte es in die­ ebenso wenig vorhandene ­Tasche, stapfte weiter, verfiel in Laufschritt, bahnte sich mit hektischen Gesten einen Weg durch die Menge, wie auf der Flucht. Plötzlich erstarrte er, wie getroffen, von einem Schlag, einer Kugel, einer Tränengasgranate, riss den Arm hoch, den Kopf zurück, den Mund auf, Schmerz auf der weißen Maske, stürzte rücklings. Hände reckten sich ihm entgegen, Arme griffen vor, ihn aufzufangen, ohne ihn zu berühren. Sekundenlang froren die Darsteller ein, nur die Clowns gingen weiter, tänzelten um die Szene herum, klatschten lautlos, riefen, weinten, lachten, ohne den geringsten Laut. Da drängelte sich Özlem durch die Menge, das Mädchen mit der roten Pappnase, lautlos ächzend fuhr sie eine fiktive Schubkarre auf den Platz. Die Pantomimen luden vorsichtig etwas Langes, Schweres und doch zerbrechlich Zartes ab, einer kauerte und grub, Özlem setzte sorgsam in das unsichtbar gegrabene Loch, was sie zuvor gemeinsam von der Karre hoben. Ringsum herrschte atemlose Stille. Die Clowns schlugen begeistert die Hände zusammen, lautlos, bestaunten das Werk, den Blick verzückt in den Himmel gerichtet. Als Özlem begoss, was sie imaginär in den Park gepflanzt hat, hatten es alle verstanden. Enthusiastisch applaudierte die Menge.

      Lea schmunzelte. Der Mensch sucht stets nach Sinn, dachte sie, immer will er sofort verstehen, will Muster zuschreiben, sortieren, urteilen, bewerten, statt sich einfach nur zu öffnen, zu schauen, zu staunen und zu warten, bis das Geschaute von selbst Gestalt in ihm annimmt, ihn in sich hineinzieht. Wie jetzt das stumme Theater sie. Lea war nur noch Auge, war den Pantomimen dankbar, einen Moment der Stille in den Tumult gebracht zu haben. Der Park nahm pausenlos sämtliche Sinne in Beschlag, alles stürmte auf sie ein, und sie war begierig, alles aufzunehmen. Nun merkte sie, wie viel intensiver Erleben sein kann, wenn nur ein Sinn angesprochen ist und die anderen die Chance bekommen, sich von Innen her zu beteiligen.

      Zwei Hände legten sich auf ihre Augen. »Pst!«, zischte es hinter ihr. Lea zögerte.

      »Tayfun?« Ein Mädchen neben ihr lachte. Lea spürte ihren Hörsinn explodieren, kaum war sie für eine Sekunde ganz blind, drängte sich ein anderer Sinn in den Vordergrund. Ungeduldig ließ Tayfun seine Hände auf ihre Schultern gleiten.

      »Es wird schon dunkel, kommst du heute Abend mit?« Kurz war Lea hin und her gerissen. Natürlich wollte sie mit auf Spraytour gehen, aber die Pantomime hatte etwas Neues in ihr ausgelöst. »Na, wenn du nicht willst, geh ich eben allein.« Lea griff nach Tayfuns Hand.

      »Warte! Ich komme mit!« Sie kramte ein Post-it aus der Tasche, kritzelte ihre Telefonnummer darauf, setzte ihren Namen darunter.

      »Bist du noch länger hier?«, fragte sie das zierliche Mädchen neben sich.

      »Keine Ahnung, man kommt und geht halt«, lachte die. Hilfesuchend blickte Lea Tayfun an. Er grinste und hob fragend die Augenbrauen.

      »Wo brennt’s denn?«

      »Das Mädchen mit der roten Pappnase und der Blume im Haar, das ist Özlem, mit ihr bin ich hergekommen, im Bus, wir hatten uns verloren, aber jetzt …«

      Da schnappte sich die Zierliche an ihrer Seite die Notiz mit der Telefonnummer und wieselte erst durch die Zuschauermenge, dann durch die Pantomimegruppe, war im Nu bei Özlem, flüsterte ihr etwas ins Ohr, steckte ihr den Zettel in die lichtblaue Tüllhülle, warf Lea eine kurze Kusshand zu und verschwand auf der anderen Seite in der Menge.

      »Das sind die Mädels von Gezi!«, lachte Tayfun. »Kommst du jetzt mit?«

      6

      MARIE

      #standtall

       heute, 21:00h, 5 min stehenbleiben, egal wo ihr seid, unterstützt den protest in der türkei! #duran­adam #diren­geziparkı

      Es war schon fast zehn. Um neun hatte sie in der Bahn gesessen. Hätte sie den Tweet früher gelesen, wäre sie aufgestanden. Bei dem Gedanken musste sie grinsen. Schweigemärsche waren geläufig. Aber aus Protest einfach irgendwo stehenbleiben?

      »Du brauchst ein Smartphone.« Manfred stellte ihr den Lama-Becher mit dampfendem Tee neben den Laptop. »Mach doch Schluss für heute.«

      Ein Tag mit zwei Vorstellungsgesprächen lag hinter ihr, viel Hoffnung machte sie sich nicht. Kaum aus Bremen zurück, hatte sie den Laptop aufgeklappt, um auf Twitter nach der Situation in der Türkei zu schauen. WLAN gab es im Regionalexpress leider nicht.

      »Oder ein Tablet, ja.« Sie nippte dankbar am Tee – und hörte die Stimme ihres Vaters im Hinterkopf: Reichen dir PC und Laptop denn nicht? Digitale Aufrüstung ist doch nur Ersatzbefriedigung! Erweitere lieber deinen Bewerbungshorizont! Ihr eher praktisch als empathisch veranlagter Vater schickte ihr Anzeigen für Sekretariatsstellen. Sie hatte es aufgegeben, sich darüber aufzuregen, dennoch versetzte es ihr nach wie vor jedes Mal einen Stich. Manfred verteidigte ihre Eltern, sie würden es doch nur gut mit ihr meinen. Er mit seiner Lebensstellung beim Rundfunk hatte gut Reden. Und für ihre Eltern, die, mit dem sicheren Nachkriegsmodell »Sie Hausfrau, Er solide-Ausbildung-feste-Stelle-Rente« im Rücken zwei Kinder in die Babyboomerjahre gesetzt hatten und Veranlassung weder für emotionale noch materielle Unterstützung sahen, war jeder seines Glückes Schmied. Nur wer hart durchmusste, hatte Wohlstand verdient. Sie vertrauten weniger der eigenen Tochter als vielmehr dem System, das sie schließlich eigenhändig nach der Gnade der Stunde Null mit aufgebaut hatten.

      Mit Tablet hätte Marie schon im Zug auf den Vogel getippt. Twitter, komprimierter als Facebook, war Informationsquelle Nummer eins, nicht nur für die Millionen der Gezi-Bewegung in der Türkei, mittlerweile auch für sie. Mit Hashtags hatte sie sich schnell angefreundet. Wie praktisch, man setzte ein Gitter # und damit war der entsprechende Begriff verschlagwortet. Anhand der Beliebtheit der Hashtags ließ sich ablesen, was gerade vielen auf den Nägeln brannte. Dazu gehörte dieser Tage alles, was #gezi enthielt.

      #duranadam gab sie in die Suche ein. Endlos ploppten Posts vor ihr auf und sekündlich kamen neue Tweets hinzu. Ankündigungen von Aktionen, Berichte und Fotos, erste Analysen, wer dieser Mann war, der sich gestern Abend auf den Taksim-Platz gestellt hatte und mit dieser so einfachen wie effektvollen Geste quasi eine Revolution zivilen Ungehorsams ausgelöst hatte. Marie klickte einen Link an. Ein Blogartikel. Titel: Stand tall. Sie schmunzelte. Stand tall, don’t you fall … Das musste jemand in ihrem Alter geschrieben haben, wer kannte heute noch den alten Song, der ihr in der Jugend über so manche Krise hinweggeholfen hatte.