Sabine Adatepe

Lichtblau


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husten.

      »Geht’s noch?«, fragte Tayfun, bestimmt schon zum zehnten Mal. Benommen schüttelte sie den Kopf. Er verstand sofort, hakte sie unter, zog sie zur Seite. Gerade noch rechtzeitig. Zwanzig, vielleicht dreißig junge Leute, T-Shirts, Tücher, Arme vor dem Gesicht, stürmten den Boulevard zum Tünel hinunter. Ein Wasserwerfer verfolgte die Gruppe, spritzte sorgfältig die gesamte Straßenbreite ab, von rechts nach links und wieder zurück, immer wieder.

      »Kopf runter, dreh dich um!«

      Doch es war zu spät. Lea sackte zusammen. Ihre Augen brannten wie Feuer. Tayfun hockte neben ihr, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. Sie weinte.

      »Ich bin blind!«

      »Ach was, Tränen sind gut!«, sagte eine fremde Stimme. Eine Frau. Lea fühlte Hände auf dem Gesicht, jemand zog ihr die Maske herunter, wischte über ihre Wange und sprayte ihr etwas auf die Augen. »Talcid, sei froh, dass ich noch welches hab. Mach mal die Augen auf.«

      »Ich kann nicht!«, schluchzte Lea auf.

      »Kein Ding, wir helfen dir.« Tayfuns Stimme. Lea fühlte, wie zwei Personen sie unterhakten und auf die Beine stellten. Trotz aller Mühe bekam sie die Augen nur einen winzigen Spalt breit auf, sah aber nichts.

      »Ich bin blind, ich kann nichts sehen!«

      Ein Blitz fuhr ihr ins Gesicht.

      »Kein Foto!« Tayfun. »Nicht filmen!«

      »Deutsche Presse«, rief eine Männerstimme.

      »Wenn das öffentlich wird, sind wir dran.« Tayfun.

      »Die haben uns sowieso längst alle im Visier.« Die Frau zog an Leas Arm. »Komm, wir müssen von der Istiklâl runter!«

      Sie führten Lea, die sich noch immer nicht traute, die brennenden Augen zu öffnen, in eine Seitengasse. Lea konnte kaum atmen und musste immer wieder husten, aber der Schmerz in den Augen ließ nach.

      »Geht’s wieder?«, fragte die Frau. Lea nickte. »Okay, ich muss weiter«, rief die Frau und sprang durch den Nebel davon.

      Wenige Schritte weiter stieß Tayfun eine Tür auf. Lea konnte Licht und Schemen ausmachen. Offenbar herrschte drinnen großes Gedränge.

      »Abi!«, rief Tayfun und drängelte Richtung Tresen, etliche Männer drehten den Kopf. »Demir Abi!« Ein älterer Mann mit Kahlkopf aber umso längerem Bart löste sich von der umlagerten Theke.

      »Abi, das ist Ti, sie hat was abgekriegt, pass auf sie auf, bitte!« In Windeseile drückte Tayfun Lea einen Kuss auf die Stirn und war schon wieder zur Tür hinaus.

      Lea spürte eine Hand auf dem Arm.

      »Keine Sorge, der kommt schon wieder«, beruhigte sie der Alte und führte sie an einen Tisch weit hinten an der Wand. Bestimmt zehn Frauen jeden Alters hockten hier zusammen, tranken, aßen, vor allem aber redeten sie. »Rückt mal, Ladys!«, hätte Demir gar nicht zu sagen brauchen. Stühle waren nicht mehr frei, aber zwei Mädchen überließen Lea je die Hälfte ihrer Plätze.

      »Are you okay?«

      »Geht schon wieder«, antwortete Lea auf Türkisch und versuchte ein Lächeln, auch wenn sie noch blinzelte.

      »Trockne dich erstmal ab, Kleine!« Demir stand mit einem Handtuch hinter ihr. Eine ältere Frau mit einem widerspenstigen blaugesträhnten, grauen Haarschopf griff danach und rubbelte Lea den Kopf ab.

      »Hat jemand ein trockenes T-Shirt dabei?«, rief sie in die Runde. Erst da merkte Lea, wie nass sie war. Und das war kein Schweiß, obwohl die Nacht warm war.

      »Nicht nötig«, murmelte Lea und kämpfte gegen den Kloß im Hals. Doch die Ältere zog ihr resolut die nasse Hemdbluse über den Kopf und ein weites frisches Shirt an. Lea brach in Tränen aus. Jetzt, wo alles vorbei war. Die Frau nahm sie fest in den Arm.

      »Alles gut. Du bist hier sicher.«

      8

      IMKE

      #tagetes

      Nie wieder würde sie Mitte Mai in Urlaub fahren. Wer einen Garten hat, bleibt von April bis Juni zu Hause, das hatte sie Dieter gleich gesagt. Wütend wühlte Imke in der Erde. Knochentrocken. Der Rosendünger aber brauchte Feuchtigkeit, Bodenfeuchtigkeit. Sachte die Erde lockern, nachgießen, leicht düngen, sie würde das wiederholen müssen. In drei Wochen Versäumtes war nicht an einem Tag nachzuholen, da konnte sie sich noch so abmühen.

      Noch spät am Abend gestern, Dieter holte die Koffer aus dem Auto, war sie mit der Gießkanne durch den Garten gelaufen, hatte hier gegossen, da welke Blätter abgeknipst, soweit sie in der Dämmerung noch zu erkennen waren. Mit der Gartenschere in der Hand drängte sie Dieter, kaum stand das Gepäck im Flur, den Rasensprenger anzustellen. Ja, jetzt sofort, wenn morgen wieder die Sonne draufknallt, ist er am Abend verbrannt. Im Mai durfte ein Garten nicht wochenlang brachliegen. Sie zwinkerte die Tränen weg. All die Mühe aus dem Frühjahr dahin. Die schönste Blüte hatte sie verpasst, das war schon schlimm genug, doch jetzt war innerhalb weniger Tage so vieles zurückzuschneiden, zu stutzen, zu leiten, auszuputzen, damit der Garten in Form blieb, damit die Stauden, ihr ganzer Stolz, im Spätsommer zur zweiten Blüte kamen. Der Phlox schoss schon ins Kraut, die Kletterer hatten heftig getrieben, die schweren Ritterspornblüten hingen, die Hälfte war abgeknickt, da war nicht viel zu retten. Wo sie hinschaute Wildwuchs, Welken, Verwilderung. Nur die Tagetes reckten ihr dankbar die dichten Puschelköpfe entgegen. Die geliebte Clematis war verblüht, rasch die Fruchtstände herausschneiden, aber nein, erst den Rosendünger ausbringen! Vom Unkraut gar nicht erst zu reden!

      Gut drei Wochen waren sie unterwegs gewesen, neunzehn Tage Rundreise auf der Seidenstraße, ein Traum, und auf der Rückfahrt noch das verlängerte Wochenende bei Dieters Schwester Elke in Frankfurt. Ewig hatten sie sich nicht gesehen, es war dann auch schön gewesen, nur schade, dass Dieter die Urlaubsbilder noch nicht sortiert hatte. Seit er digital fotografierte, drückte er viel zu oft auf den Auslöser. Wie stolz war Dieter früher auf seine wunderschönen Fotos gewesen! Er war zu sehr Techniker, als dass er sich als Künstler gesehen hätte, aber für sie waren seine Fotografien Kunst. Beim improvisierten Fotoabend auf dem Computer des Schwagers in Frankfurt war davon nicht viel zu sehen. Zwei Stunden hatte Dieter sich Zeit genommen, um den wilden Bilderwust vorzeigbar zu machen, dennoch war das Zuschauen dann eher Strapaze als Vergnügen gewesen. Elke und der Schwager nahmen es gelassen und schenkten Wein nach. Nur Imke hatte sich aufgeregt. »Du hast immer auf Klasse statt Masse gesetzt«, hielt sie Dieter am späten Abend im Hotelzimmer vor, »wie kannst du dich mit diesem wüsten Durcheinander zufrieden geben!«

      Die misslungene Fotoshow war nicht der einzige Missklang geblieben. Elke und ihr Mann wollten das sonnige Wochenende gemütlich in Gartencafés oder Biergärten verbringen, wollten vor allem plaudern, es gab doch so viel zu erzählen, wo man sich so lange nicht gesehen hatte. Gehen wir in den Palmengarten, den wolltest du doch immer schon mal sehen. Doch Imke beharrte auf einem Besuch der Schirn. Dieter dagegen brannte darauf, die neue Experiminta zu besuchen, die wiederum Imke nun gar nicht interessierte. »Offenbar habt ihr das Gefühl, etwas zu verpassen«, lautete Elkes Diagnose, als sie Imke an der Schirn ablieferte. Nein, mit hinein wollte sie nicht. Die neue Ausstellung sei nichts für sie, außerdem sei das Wetter viel zu schön, um es im Museum zu verplempern. Da hatte Imke noch gedacht, was für eine Kunstbanausin, obwohl sie doch Lehrerin war! Doch keine halbe Stunde später flüchtete sie aus GLAM!, grämte sich, dafür auch noch Eintritt bezahlt zu haben.

      Wie verabredet fand sie die Schwägerin im Straßencafé auf dem Paulsplatz, bei Weißwein und mit einem Stapel pädagogischer Fachzeitschriften. Typisch, keine eigenen Kinder, aber in Sachen Erziehung immer alles besser wissen. Was hatte es für Kräche gegeben, als die Kinder klein waren und Tante Elke stets glaubte, sich einmischen zu müssen, nur weil sie Lehrerin war. Imke kniff die Lippen zusammen, allein der Anblick der Fachliteratur erinnerte sie an den Frust, als »Nur«-Mutter und Hausfrau ständig von anderen Ratschläge zu hören, als wäre ihre praktische Erfahrung mit den Kindern gar nichts wert. Elke aber lächelte ihr entgegen.

      »Komm setz