„Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“3 Praxisempfehlungen und darüber hinaus nicht wenige Berichte aus der Praxis der Behindertenhilfe, denen die Stärkenperspektive nahezu fremd zu sein scheint (kritisch dazu Theunissen 2021, 93ff.).4
Dass in Verbindung mit eigenen Erfahrungen die Stimme autistischer Menschen beachtet wird, zeigt sich auch an der Stelle, wo Ellen Notbohm das Verständnis in Bezug auf Autismus diskutiert und die Bedeutung der sensorischen Besonderheiten herausstellt. Was den Begriff des Autismus betrifft, so signalisiert sie Verständnis für die aktuellen Diskussionen, ist jedoch davon überzeugt, dass durch bloße Begriffswechsel noch keine soziale und gesellschaftliche Inklusion (unbedingte Zugehörigkeit) autistischer Menschen garantiert werden kann und dass es letztlich auf die Einstellungen, Bewertungen und Entscheidungen ankommt, um Diskriminierungen und Ausgrenzungen zu vermeiden. „Etikettierungen“ – schreibt sie – „sind selten harmlos, auch wenn sie nicht böse gemeint sind.“ Daher wurde in der deutschsprachigen Übersetzung darauf geachtet, im Sinne der Autorin und der Selbstvertretung Betroffener den Autismusbegriff nicht per se durch ‚Autismus-Spektrum-Störung‘ zu pathologisieren und die Formulierung ‚autistisches Kind‘ durchgängig zu benutzen.
Aus der Betroffenensicht kann das Thema der sensorischen Besonderheiten als ein zentrales Merkmal im Autismus-Spektrum nicht hoch genug eingeschätzt werden. Diese gleichfalls von international renommierten Autismusforscher*innen gestützte Auffassung wird von Ellen Notbohm aufgrund ihrer Erfahrungen uneingeschränkt geteilt, weshalb sie diesem Thema durch die Berücksichtigung vieler Beispiele im Hinblick auf unterschiedliche Wahrnehmungsbereiche (visuell, auditiv, taktil …) breiten Raum gibt. Zugleich werden wertvolle pädagogische Anregungen zur Prävention und Intervention sensorischer Schwierigkeiten gegeben.
Weitere Kapitel, die typische Aspekte im Rahmen von Autismus alltagsbezogen und praxisnah aufgreifen, beziehen sich auf das konkrete Denken vieler autistischer Personen, auf ihre kommunikativen und kognitiven Besonderheiten wie zum Beispiel das Wörtlichnehmen von Sprache, auf die bei Betroffenen stark verbreitete visuelle Orientierung sowie auf die Herausforderungen, sich auf soziale Situationen und Interaktionen einzulassen und einzustellen.
Einen exponierten Stellenwert hat die Diskussion über Meltdowns und andere Verhaltensbesonderheiten, deren Umgang eine verstehende (funktionale) Problembetrachtung nahelegt. Auch in dem Fall legt die Autorin auf die positive Grundhaltung gegenüber autistischen Kindern großen Wert, die ihrer Ansicht nach in Verbindung mit der Herstellung und Sicherung einer Vertrauensbasis stets den fühlbaren Hintergrund aller Interventionen bilden muss. Das wird gleichfalls an den Stellen spürbar, wo Ellen Notbohm mit Beispielen aus dem alltäglichen Leben auf den wichtigen Unterschied zwischen dem ‚Nicht-Wollen‘ (wissen, aber nicht machen) und dem ‚Nicht-Können‘ (nicht wissen, wie es gemacht wird) aufmerksam macht. Wie bei den anderen Themen gelingt es ihr ebenso in diesem Kapitel, Leser*innen bei der Frage mitzunehmen, welche spezifischen Herausforderungen bestehen und wie pädagogische Maßnahmen an die Voraussetzungen und Bedürfnisse eines autistischen Kindes sinnvoll angepasst werden können. Hierzu ist ein umfassendes Verständnis seiner Situation, Sicht-, Verhaltens- und Erlebensweisen erforderlich. Ein solches Verständnis lässt sich am besten erreichen, indem ihm eine Stimme verliehen, ihm zugehört und seine Erfahrungen pädagogisch und therapeutisch berücksichtigt werden.
Mit dieser Sicht hat Ellen Notbohm als betroffene Mutter, als genaue Beobachterin und Analytikerin des Verhaltens autistischer Kinder sowie als Expertin in eigener Sache, vor allem für Autismus, ein wichtiges Buch geschrieben, welches Eltern autistischer Kinder und pädagogischen Fachkräften wie Erzieher*innen und Lehrer*innen zahlreiche Impulse zum Nachdenken, insbesondere zum Überdenken bisheriger Einstellungen und Umgangsformen sowie eine Fülle an hilfreichen Ideen und umsetzbaren Strategien bietet, die auf einem modernden Verständnis und Wissen in Bezug auf Autismus basieren. Fragen zur Vertiefung und Reflexion der genannten Themen runden die Schrift ab und sind zugleich wegbereitend für eine verstehende Sicht und einfühlsame Praxis.
Freiburg, im Herbst 2021
Georg Theunissen
1O‘Neill, J.: Autismus von innen. Nachrichten aus einer verborgenen Welt, Bern.
2Asperger, H.: Die „Autistischen Psychopathen“ im Kindesalter, in: Archiv für Psychiatrische Nervenkrankheiten, H. 117, 73–136.
3Interdisziplinäre S3-Leitlinie der DGKJP und der DGPPN sowie der beteiligten Fachgesellschaften, Berufsverbände und Patientenorganisationen S3-Leitlinie AWMF-Registernummer: 028–018, Langversion vom 2. Mai 2021 online zugänglich.
4Theunissen, G.: Behindertenarbeit vom Menschen aus. Unterstützungssysteme und Assistenzleistungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten und komplexer Behinderung, Freiburg i. B. 2021.
Vorwort der Autorin
Als im Jahre 2004 mein Artikel Ten Things Every Child with Autism Wishes You Knew in der Zeitschrift Children’s Voice erschien, war ich völlig überrascht über die Reaktion der Leser*innen. Ich bekam viele Zuschriften, in denen sie mir mitteilten, dass der Artikel ein Muss sei für alle im sozialen Sektor Tätigen, für Lehrkräfte, Therapeut*innen und Angehörige autistischer Kinder. Eine Mutter schrieb: „Genau das würde meine Tochter sagen, wenn sie könnte.“ „Jedes Wort und jeder Satz ist voller Weisheiten“, schrieb eine andere. Der Artikel verbreitete sich im Internet, rund um die Welt, über die Kontinente hinweg (mit Ausnahme der Antarktis).
Angesichts des riesigen Interesses und der Verschiedenheit der Gruppen, die ihn bedeutsam fanden, fühlte ich mich richtig klein. Es waren hunderte Autismus- und Asperger-Gruppen darunter, aber auch Selbsthilfegruppen für Homeschooling, chronisch Schmerzkranke, Übergewichtige oder Innenohrgeschädigte. Auch Religionslehrer*innen, Strickkreise, Lebensmittelhändler*innen, Assistenzhundeschulen waren dabei. „Ich habe das starke Gefühl, dass Ihre Botschaft sehr viele Menschen mit Behinderungen anspricht“, schrieb mir eine Sozialarbeiterin aus dem amerikanischen mittleren Westen.
Ten Things entwickelte schnell eine Eigendynamik. Warum war die Resonanz so groß? Ich kam zu dem Schluss, dass es daran lag, dass der Artikel aus der Sicht eines Kindes geschrieben war, eine Sichtweise, die bei dem zunehmenden medialen Interesse an Autismus weitgehend unterging. Ich begrüße den lebendigen und anregenden Dialog und finde ihn produktiv. Aber liegt nicht auch eine Ironie darin, dass denjenigen, über die diskutiert wird, oftmals die Fähigkeit, für sich selbst zu sprechen und einzutreten, fehlt? Ich hatte verschiedene Artikel mit ähnlichen Ansätzen gesehen: 10 Dinge, die Lehrer Eltern mitteilen möchten, was Lehrkräfte aus Sicht der Mütter wissen müssen, oder was Väter von autistischen Kindern wissen sollten. Als meine Lektorin, Veronica Zysk, mir einen dieser Artikel, in dem es um die Kommunikation zwischen Erwachsenen ging, vorlegte, habe ich sie gefragt, wer denn für das Kind spreche?
„Schreib den Artikel“, ermunterte mich Veronica.
Mein Sohn Bryce war vier Jahre alt, als die Diagnose bestätigt wurde. Ich schätzte mich glücklich, dass dank der engagierten Zusammenarbeit von Familienmitgliedern, Mitarbeiter*innen der Schule und Sozialarbeiter*innen seine Stimme Gehör fand. Ich wünschte mir sehr, dass dieser Erfolg die Regel und keine Ausnahme wäre. Dieser Wunsch inspirierte mich, den oben genannten Artikel und später die Originalausgabe dieses Buches zu schreiben.
Individuelle und kollektive Einstellungen zu Autismus formieren sich durch den Einfluss der Sprache, in der wir ihn definieren. Streitbare und provokante Bemerkungen und Ansichten, bewusst oder gedankenlos ausgesprochen, ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wir können darauf reagieren, wir können daran verzweifeln, oder wir beschließen, sie zu ignorieren. Doch es ist das Geschwader der unter dem Radar fliegenden sprachlichen Feinheiten und Nuancen, das die Entwicklung einer gesunden Perspektive für ein autistisches Kind beeinträchtigt. In diesem Buch