Ellen Notbohm

10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten


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Ich war vertraut mit Therapien, Problemen im sozialen Umfeld, der permanenten Wachsamkeit – und der Erschöpfung. Mich ergriff die blanke Angst. Und sie motivierte mich. Ich konnte die Vorstellung, dass dieses Schicksal Bryce‘ Zukunft bestimmen würde, nicht ertragen. Deswegen wollte ich alles in meiner Macht Stehende tun, um ihm etwas mitzugeben, mit dem er ein Leben ohne mich würde meistern können. Ich konnte mich gedanklich von Wörtern wie ‚Gefängnis‘ und ‚heimatlos‘ nicht befreien. Aber nicht den Bruchteil einer Sekunde lang dachte ich daran, seine Zukunft in die Hand von Fachleuten zu geben oder mich an den flüchtigen Gedanken zu klammern, dass sich Autismus auswächst. Diese Überlegungen zwangen mich, jeden Morgen aufzustehen und motivierten mich, etwas zu unternehmen.

      Ich überspringe jetzt ein paar Jahre bis zur Jahrtausendwende. Bei der Schulfeier treten die entzückenden Erstklässler*innen nacheinander ans Mikrophon und beantworten die Frage: „Was möchtest du im neuen Jahrtausend werden?“ „Ein Fußballstar“, ist eine beliebte Antwort. „Ein Pop-Star! Ein Rennfahrer! Eine Comiczeichnerin, eine Tierärztin, ein Feuerwehrmann!“

      Bryce hat eine Weile überlegt, bevor er geantwortet hat:

       „Ich möchte einfach nur ein Erwachsener werden.“

      Stürmischer Applaus folgt und der Direktor sagt mit wohlüberlegten Worten:

       „Die Welt wäre eine bessere, wenn mehr Menschen dasselbe Ziel wie Bryce verfolgten.“

      Meine Quintessenz: Die Diagnose Autismus ist nicht damit gleichzusetzen, dass Ihrem Kind, Ihnen als Eltern oder anderen Familienangehörigen ein erfülltes Leben voller Freude und Sinnhaftigkeit verwehrt bleibt. Sie mögen total verunsichert sein, aber springen Sie über Ihren Schatten und glauben Sie mir das. Mit einem Vorbehalt: Wie sehr wir das Potenzial unserer Kinder ausschöpfen können, hängt davon ab, welche Wahl wir treffen, wie wir für sie entscheiden und welche Haltung wir zu unseren Kindern bzw. Autismus einnehmen.

      Mir ist eine Passage von Nora Ephrons Roman Heartburn in Erinnerung. Darin sagt die Protagonistin Rachel Samstat: „Wenn ein Traum in Millionen kleine Teilchen zerplatzt, dann hast du nur eine Wahl. Du kannst entweder an ihm festhalten, was unerträglich ist, oder du kannst dich lösen und einen anderen Traum träumen.“

      Wir haben eine Wahl

      Wenn Sie erst vor Kurzem mit Autismus in Berührung gekommen sind und jetzt dieses Buch lesen, möchte ich Ihnen sagen, dass Autismus an sich nicht so ein Unglück ist. Dass man Autismus nicht versteht, niemand da ist, der versteht, dass man nicht in der Lage ist, sich Hilfe zu holen, auch wenn sie da wäre, das ist dann ein Unglück. Sie stehen am Beginn einer langen Reise. Mit diesem Buch will ich Sie auf Wegweiser aufmerksam machen, denen Sie auf Ihrer Reise begegnen werden, damit sie mit ihnen vertraut werden und sie nicht als befremdlich und einschüchternd empfinden.

      Mit diesem Buch möchte ich Ihnen helfen, für Ihr Kind und sich selbst das Wort zu ergreifen und Ihre Botschaft an diejenigen zu senden, die beteiligt sind: Lehrkräfte, Eltern, Geschwister, Familienangehörige, Therapeut*innen, Busfahrer*innen, die Eltern gleichaltriger Kinder, der Freundeskreis der Geschwister, die Vertreter*innen der Kirche und die Nachbarn.

      Ich möchte Ihnen auf diesem Wege helfen, Menschen, mit denen Ihr Kind in Berührung kommt, ein Grundverständnis der wesentlichen Aspekte des Autismus zu vermitteln. Dieses Verständnis hat große Auswirkungen auf das Vermögen Ihres Kindes, später als erwachsener Mensch ein erfülltes und unabhängiges Leben zu führen.

      Autismus ist komplex, aber in diesem Buch fasse ich die zahlreichen Aspekte in vier zentrale Bereiche: die sensorische Verarbeitung, die Kommunikation, das soziale Verständnis und die soziale Integration sowie das Selbstverständnis Ihres Kindes als ‚vollständiger‘ Mensch. Sie sind alle von großer Bedeutung. Aber warum sind diese Bereiche so wichtig?

       Die sensorische Verarbeitung

      Bei autistischen Menschen aller Altersgruppen kommt es zu Reaktionen, die durch Über- oder Unterempfindlichkeit gekennzeichnet sind. Das eine Mal sind sie immer gleich und vorhersehbar, das andere Mal ändern sie sich ständig und sind unvorhersehbar. Das hat zwangsläufig Folgen und Auswirkungen. Man kann von dem Kind nicht erwarten, dass es im kognitiven oder sozialen Bereich Lernfortschritte macht oder sich ‚benimmt‘, wenn es die Umgebung als ständiges Bombardement durch unangenehme Empfindungen oder hässliche Überraschungen wahrnimmt. Ihr Gehirn filtert tausende gleichzeitig einströmender sensorischer Informationen (was Sie sehen, hören, schmecken, berühren usw.). Seines macht das nicht. Vergleichen sie es mit anhaltend aggressivem Verhalten im Straßenverkehr. Die ganzen Signale überlasten den Hirnstamm. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich fühlen würden, wenn sie in einem Verkehrsstau stehen und an den Abgasen fast ersticken und der Lärm sie überflutet und Sie keine Möglichkeit haben, dieser Situation zu entkommen.

       Kommunikation

      Bei vielen autistischen Kindern ist die Sprachentwicklung verzögert. Ohne adäquate und brauchbare Mittel, sich auszudrücken, bleiben ihre Bedürfnisse und Wünsche unerfüllt. Das führt zwangsläufig zu Ärger und Frustration, sie können nicht lernen und wachsen. Die Fähigkeit zu kommunizieren, ob durch gesprochene Sprache, Bilder, Zeichen oder andere Hilfsmittel, ist von fundamentaler Bedeutung, weil es unbestritten ist, dass alle Kinder Gedanken haben, die sie zum Ausdruck bringen müssen. Die Annahme, dass ein Kind, das nicht kommunizieren kann, nichts zu sagen hat, ist so vollkommen lächerlich wie anzunehmen, dass ein erwachsener Mensch, der kein Auto hat, nirgendwo hin muss.

       Soziales Verständnis und soziale Interaktion

      Diese Fähigkeiten sind schwer zu fassen und zu definieren. Sie werden beeinflusst durch kulturelle Unterschiede, durch den kulturellen Kontext innerhalb einer Kultur, durch Beziehungskonstellationen und sogar durch die Tageszeit. Das Unvermögen des Kindes, die Aufmerksamkeit seines sozialen Umfeldes auf sich zu ziehen und dadurch ein Feedback zu bekommen, was es in einer bestimmten Situation sagen oder tun soll, kann es stark isolieren. Das autistische Kind, das es wahrhaftig ‚nicht versteht‘, kämpft gegen Windmühlen, wenn wir ihm keine eindeutigen Anweisungen erteilen, die sein soziales Gehirn erfassen kann, und wenn wir ihm nicht kontinuierlich Gelegenheiten schaffen, Kompetenzen, dann, wenn die Situation es erfordert, einzusetzen und einzuüben.

       Das Selbstverständnis Ihres Kindes als ‚vollständiger Mensch‘

      Jeder Mensch auf diesem Planeten ist ein ‚Pauschalangebot‘. Wir möchten akzeptiert und wertgeschätzt werden, wie wir sind, als Ganzheit, nicht als ein Bündel von Merkmalen, aus dem man die Rosinen rauspickt. Ihr autistisches Kind braucht eine qualifizierte Begleitung, um einen Platz in der Welt zu finden, an dem es sich wohlfühlt. Unter Einsatz positiver Energien und mit einer optimistischen Grundhaltung kann auf dieses Ziel hingearbeitet werden. Das heißt aber nicht, dass man das Kind ‚in Ordnung bringt‘.

      Indem man einem Kind, ob es nun ‚besonders‘ oder ‚normal‘ ist, Fähigkeiten beibringt, die ihm zu Erfolg und Eigenständigkeit verhelfen, ‚bringt man es nicht in Ordnung‘ oder ‚heilt‘ es, sondern hilft ihm zu lernen, was es wissen muss und zu beherrschen, was es tun muss, um ein möglichst eigenständiges Leben zu führen. Es bedeutet, es in seinem kontinuierlichen Lernprozess zu lieben und zu führen und es dabei mit der gleichen Akzeptanz, die wir uns für uns wünschen würden, in seiner Ganzheit zu akzeptieren.

      Bryce hatte Erfolg, aber nur weil er Selbstachtung gewonnen hatte, weil es ihm gelungen war, mit seinem Umfeld in Einklang zu leben und weil er jetzt als Erwachsener zunehmend in der Lage ist, sich auszudrücken und für sich einzutreten. Als diese Puzzleteilchen im Laufe seiner Kindheit und Adoleszenz an ihren Platz fielen, kamen die sozialen und kognitiven Lernprozesse in Gang. Mit jedem Jahr kamen neue, sehr erfreuliche Errungenschaften hinzu: Ich denke etwa an den Tag, als er in einem Schwimmwettbewerb in unserer Stadt einen Preis erschwamm, an den Tag, als er als ‚Grandpa Joe‘ singend und tanzend