Ellen Notbohm

10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten


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Ihnen nicht begegnen:

      Sie werden auch folgende Wörter nicht lesen, wenn es um die Beschreibung eines autistischen Kindes geht: ‚leiden‘, ‚verfolgen‘, ‚perfekt‘, ‚pingelig‘, ‚Wutanfall‘, ‚schrullig‘, oder andere abwertende Wörter oder solche, die unrealistische, unbegründete oder unhaltbar hohe Erwartungen erzeugen.

      Und auch das Wort ‚normal‘ verwende ich nur in Anführungszeichen. In der ersten Zeit nach der Diagnose unseres Sohnes bekamen wir ständig Fragen zu hören wie: „Glauben Sie, er wird irgendwann lernen, sich normal zu verhalten?“ Anfangs war ich von diesen Fragen wie vor den Kopf geschlagen, später fand ich sie nur noch anmaßend und hatte fast Mitleid mit denjenigen, die gefragt hatten. Ich lernte, die Frage mit einem Lächeln und Augenzwinkern zu beantworten und sagte: „Wenn es irgendwann mal so etwas gibt“, oder: „Nun, wir werden wohl nie wie beim Wäschetrockner auf einen Knopf drücken können, um ein Programm zu starten.“ Hin und wieder zitierte ich den kanadischen Songwriter Bruce Cockburn, der meinte, das Problem mit dem Normalen sei, dass es immer schlimmer wird.

      „Als Ihr Sohn letztes Jahr zu mir gekommen ist“, sagt die Logopädin zu der Mutter, „waren seine sozialen Denkfähigkeiten so gut wie nicht vorhanden. Er verstand nicht, warum er den Leuten auf dem Flur ‚Hallo‘ sagen soll, er wusste nicht, wie man eine Frage stellt, um ein Gespräch am Laufen zu halten, oder wie man während der Mittagspause mit einem Gleichaltrigen ein Gespräch beginnt. Jetzt arbeitet er an diesen Dingen. Das ist ein großer Fortschritt.“

      „Aber er hat nur zwei Freunde gefunden“

      „Ich würde das anders formulieren: Er hat zwei Freunde gefunden! Der eine teilt sein Interesse an Modelleisenbahnen, der andere das am Laufen. Er weiß aber, wie Sie sich fühlen. Also werde ich Ihnen erzählen, was er mir neulich gesagt hat. Er sagte: ‚Ich will nicht viele Freunde. Ich kann nicht mit vielen Freunden umgehen. Mehr als einer zur gleichen Zeit überfordert mich. Aber mit diesen beiden Freunden kann ich über Dinge reden, die mich interessieren. Ich bin froh, dass ich sie habe.“

      „Wenn Sie durch diese oder eine andere Schule laufen“, fährt die Logopädin fort, „werden Sie eine große Bandbreite an ‚normalem‘ Verhalten in der Mittelschule sehen. ‚Streberhaft‘ normal, sportlich normal, musikalisch normal, künstlerisch normal, technikaffin normal.

      Kinder fühlen sich zu Gruppen hingezogen, in denen sie sich sicher fühlen. Fürs Erste hat Ihr Sohn seine Gruppe gefunden. Wir (Sie und ich) bewegen uns auf einem schmalen Grat: Wir müssen seine Entscheidungen respektieren und ihm gleichzeitig die Fähigkeiten beibringen, die er braucht, um sich wohlzufühlen und seine Grenzen zu erweitern.“

      Ihr Kind hat viele verschiedene soziale Identitäten. Indem Sie alle und Ihr Kind somit auch als Ganzheit akzeptieren, definieren Sie Ihre Sicht auf das ‚Normale‘ neu und individuell.

      Die zehn Aspekte, die ich in diesem Buch behandle, beschreiben mein Kind. Nicht alle lassen sich auf andere autistische Kinder übertragen. Einige der typischen Merkmale oder speziellen Bedürfnisse variieren. Sie sind bei jedem Kind anders und ändern sich im Tagesverlauf, von einem Tag auf den nächsten, im Laufe der Jahre. Zuweilen treten sie gleichzeitig auf oder sie manifestieren sich auf andere Art und Weise, wenn sich das soziale Umfeld oder die Örtlichkeiten ändern, sowohl was körperliche Reaktionen als auch die Interaktion mit anderen Menschen betrifft. Sie werden vielleicht bemerken, dass ich in diesem Buch manchmal bestimmte Punkte mehrfach beleuchte. Das liegt nicht daran, dass ich unbedacht etwas wiederhole oder meine Worte aufbauschen will, sondern ich habe erkannt, dass man oft etwas mehrfach hören muss oder dass man mehrere Erklärungen braucht, um etwas vollständig zu begreifen und zu verarbeiten. Wir müssen uns das selbst zugestehen, damit wir es genauso bei unseren Kindern handhaben können. Das ist ein wesentlicher Aspekt, wenn man den Bedürfnissen autistischer Kinder beim Lernen gerecht werden will. Es ist die Schwelle zu einer Welt der Wahlmöglichkeiten, für Sie und für Ihr Kind. Diese Welt ist viel größer, als Sie sich anfangs vielleicht vorstellen können.

      Erziehung und Bildung, Therapie, Wachstum und Entwicklung (auch Ihre eigene), können die Begrenzungen, die durch die typischen Verhaltensweisen bedingt sind, aufheben. Und einige dieser Grenzen und typischen Verhaltensweisen können so modifiziert werden, dass sie letztlich als Stärken hervortreten. Später, wenn Sie das Buch ausgelesen haben, hat sich Ihre Sicht auf das Autismus-Spektrum und Ihr Kind möglicherweise verändert, Sie fühlen sich besser informiert und weniger machtlos als zuvor. Das hoffe ich jedenfalls.

      Aber wozu überhaupt diese dritte, überarbeitete Auflage von Ten Things Every Child with Autism Wishes You Knew, wenn die erste und zweite Auflage Millionen von Leser*innen erreicht haben und die Resonanz so positiv war? Warum an etwas rühren, wenn es funktioniert? In seinem Buch und Film Journey of the Universe beschreibt der Evolutionsphilosoph Brian Thomas Swimme die Milchstraße. Sie sei nicht greifbar, nicht fassbar, sie fluktuiere. Und das trifft auch auf das Autismus-Spektrum zu. Man kann es mit einer in ständigem Wandel befindlichen Galaxie innerhalb des Weltalls vergleichen. Wir befinden uns in einem Kontinuum, zuweilen sausen wir herum, zuweilen bleiben wir stehen, aber jedes Teilchen – Kind, Elternteil, Lehrkraft, Geschwister, Großeltern, Freund*innen oder Fremde – hat seinen eigenen Platz in dieser (manchmal flüchtigen und schwer fassbaren) Ordnung. Mit der Zeit wechselt man den Platz.

      Erfahrungen und Reifeprozesse verändern unsere Sichtweise. In den Jahren zwischen der ersten und zweiten Auflage von Ten Things hatte mein Sohn die Schule abgeschlossen und wurde erwachsen, was damit einherging, dass er den Führerschein machte, an Wahlen teilnehmen durfte, die oft irrationale Welt des Datings kennenlernte, das College besuchte und einen Arbeitsplatz fand. Nicht verwunderlich, dass sich damit auch meine Haltung zu Autismus veränderte. In diesen Jahren stieg die Zahl der Menschen, bei denen eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wurde, weltweit kontinuierlich an. Wohl jede*r auf der Welt (abgesehen von denjenigen, die aus Zynismus einen Kult machen) war darüber verblüfft und beunruhigt. Durch meine eigenen Erfahrungen, aber auch angesichts derer anderer Menschen, die durch Ten Things in mein Leben getreten waren, änderte sich meine Position.

      Autismus ist und bleibt ein komplexes Thema. Die zahlreichen autistischen Kinder, die, außer im Fall einer Katastrophe, zu autistischen Erwachsenen werden, die einen berechtigten und bedeutsamen Platz in der Gesellschaft beanspruchen, erfordern unsere Aufmerksamkeit, auch von denjenigen, die lieber ihr Gewissen und öffentliche Mittel nicht belasten möchten. Mit im Laufe der Jahre geschärftem Blick verteidigen wir unsere Kinder und treten für sie ein. Aber wir wurden einberufen, sie nicht nur zu verteidigen, sondern auch weiterzugeben, was sie zu sagen haben. Heutzutage müssen Eltern autistischer Kinder nicht nur Durchhaltevermögen, Neugier, Kreativität, Geduld, Zähigkeit und Diplomatie aufbringen, sondern auch den Mut, über den Horizont hinauszuschauen und Zukunftsträume zuzulassen.

      Eltern eines autistischen Kindes zu zu sein erfordert den Mut, über den Horizont hinauszuschauen und Zukunftsträume zuzulassen.