Burkhard Wetekam

Greifswalder Gespenster


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mir mal einen Plan geschickt, auf dem die Grenzen seines Landes eingezeichnet sind. Sie brauchen diese Flächen.«

      Als sie den Hansering hinter sich gelassen hatten, wurde der Uferweg ruhiger. Sie passierten neu errichtete Wohnkomplexe, an der Kaimauer wechselten sich historische Segler mit modernen Jachten ab. »Es geht mich ja nichts an«, sagte Tom, »aber gibt es da keine Kompromissmöglichkeiten? Der Strom der Windräder wird ja dringend gebraucht.«

      Tanja schüttelte den Kopf. »Ich will mich da nicht einmischen. Maltes Verhalten wirkt von außen vielleicht verbohrt, aber es stimmt doch, was er sagt: Du kannst einen Seeadler nur einmal umbringen. Die Natur ist immer auf der Verliererseite, wenn der Mensch sich ausbreitet. Das alles wird in eine globale Katastrophe führen, die längst begonnen hat. Es muss Menschen geben, die bedingungslos für die Natur eintreten.«

      Tom fiel es schwer, von einem einzigen Windpark auf die ganze Welt zu schließen. »Ich bin im Augenblick etwas ratlos, wie es weitergehen könnte.«

      Sie hatten inzwischen ein Wohngebiet gestreift und standen jetzt vor einem halb geöffneten schmiedeeisernen Tor. »Hier willst du hin?«, fragte Tom. »Auf einen Friedhof?«

      »Es ist nicht irgendein Friedhof – es ist der Alte Friedhof von Greifswald, angelegt vor über zweihundert Jahren. Lass uns reingehen.«

      Tom hielt das wieder für eine von Tanjas Marotten. Aber schon nach den ersten Schritten begann er zu verstehen, warum sie diesen Ort faszinierend fand. Die Betriebsamkeit der Stadt war vergessen. Bäume wuchsen zwischen und dicht neben den Gräbern, an einigen Stellen wirkte es so, als würden die alten Grabsteine von mächtigen Wurzeln gehalten wie von Händen. Kleine Monumente, verwitterte Statuen und sehr alte Grabmäler schienen Geschichten zu erzählen, denen die wuchernden Gräser und Sträucher aufmerksam zuhörten. Viele der menschlichen Gedenkzeichen waren von Efeu umschlungen; es schien so, als hätte sich das Reich der Verstorbenen mit dem der Natur verbündet.

      »Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte Tanja. Sie kramte in ihrer Handtasche und reichte Tom einen Zettel. »Das ist die Telefonnummer von Dirk Pölzner. Ich habe ihm schon Bescheid gesagt, dass du dich bei ihm meldest. Er ist ein etwas eigenwilliger Typ, fünfzig Jahre alt, wohnt bei seiner Mama, im gleichen Dorf, in dem auch Malte mit seiner Familie bis vor eineinhalb Jahren gelebt hat. Pölzner ist Maltes Nachfolger als Naturschutzwart am Prägelbach und irgendwie ein Fan von ihm.«

      »Ein Fan?«

      »Er bewundert ihn. Vor allem interessiert er sich für Greifvögel. Angeblich vertreibt die Starkwind AG an bestimmten Stellen Seeadler und Milane. Soweit ich weiß, versucht Pölzner, Beweise dafür zu finden.«

      Tom steckte den Zettel ein. Sie waren am Ende des Friedhofs angekommen. Ein Zaun trennte ihn von einer weitläufigen Brachfläche, dahinter waren die Masten der Segelschiffe zu sehen, die sich am Ufer des Ryck aufreihten. In dieser Stadt schien wirklich alles miteinander verbunden zu sein, dachte Tom. Tanja drehte sich um und folgte seinem Blick. »Da draußen auf diesem wilden Gelände geht Malte gern joggen. Er wohnt gar nicht weit von hier. Ich war schon einige Male hier und an seiner Wohnung. Natürlich immer, ohne eine Spur von ihm zu entdecken.«

      Sie waren plötzlich wieder beim Thema. »Die Ungewissheit muss sehr quälend für dich sein«, sagte Tom. Der Satz reichte, um bei Tanja einen Damm brechen zu lassen. Ein Schwall bitterer Worte platzte aus ihr heraus. »Es ist die Hölle. Zuhause in Ueckermünde kann ich mit niemandem sprechen. Du bist jetzt der einzige, aber auch meine Besuche hier müssen geheim bleiben. Ich brauche immer einen Vorwand, um nach Greifswald zu fahren. Das geht im Augenblick ganz gut, weil ich einen alten Herrn aus unserer Gemeinde besuche, der in der Universitätsklinik liegt.«

      Für einen Augenblick dachte Tom, seine Auftraggeberin würde in Tränen ausbrechen, aber sie bekam ihre Verzweiflung unter Kontrolle. »Entschuldige, dass ich so direkt frage: Ist dieses geheime Doppelleben eine gute Perspektive?«

      »Nein«, sagte Tanja mit fester Stimme, »ist es nicht.« Sie zögerte, schien zu überlegen, ob sie weitersprechen sollte. Dann tat sie es, schnell, als müsse sie in wenigen Augenblicken noch alles loswerden, was sich in ihr aufgestaut hatte. »Ich habe etwas erlebt, das ich schwer in Worte fassen kann. Es reicht nicht zu sagen, dass Malte und ich uns lieben. Das klingt so abgedroschen, finde ich. Wir sind ja keine Teenager mehr. Aber zwischen uns ist eine Kraft, von der ich nicht gewusst habe, dass es sie gibt. Wir wollen ausbrechen. Wir sind wie zwei Schwerverbrecher, die ihr Leben in die Hand des jeweils anderen legen, um über eine Mauer zu klettern und die Freiheit zu finden. Beide wissen: Anders geht es nicht. Anders bleibt das Leben ein Gefängnis. Für immer.«

      Ein solches Bekenntnis hätte Tom nicht erwartet, schon gar nicht an diesem Ort, dem altertümlichen Friedhof. Tanja wartete seine Reaktion nicht ab. »Malte und ich haben einen Plan. Ich habe dir ohnehin schon viel zu viel erzählt, da kommt es jetzt auch nicht mehr drauf an. Wir wollen zusammen hier weggehen. Es ist alles vorbereitet. Zuletzt haben wir nur noch den richtigen Zeitpunkt gesucht. Wenn ich meinen Mann mit der Tatsache konfrontiere, dann … dann wird es sehr schwierig. Und dann muss ich genau wissen: Jetzt, in diesem Moment, kann ich gehen und bin dann weit weg.«

      Tom kniff die Augen zusammen. »Das klingt jetzt beinahe bedrohlich. Hast du Angst, dass er gewalttätig werden könnte? Er ist Pastor. Ich dachte, solche Leute sind schon von Berufs wegen gewaltfrei.«

      Sie lächelte traurig. »Er ist eigentlich ein gutherziger Mensch. Er setzt sich für andere ein, wo er nur kann. Er leistet hervorragende Arbeit in der Gemeinde und ist im Alltag sehr umgänglich. Aber wenn etwas passiert, das bestimmte Grenzen überschreitet, dann kann er zornig werden. Dann ist er unberechenbar. Ich fürchte nicht ernsthaft, dass er auf mich losgehen würde, aber ich möchte mich seiner Wut nicht aussetzen.«

      »Verständlich«, sagte Tom. »Wo willst du denn mit Malte hingehen?«

      »Er hat in Kanada ein Haus gekauft, in einem kleinen Ort, irgendwo im Nichts.«

      »Kanada? Also richtig weit weg!«

      »Vor allem weg von den Nachstellungen, Beleidigungen und Bedrohungen. Das hält doch kein Mensch aus. Malte hat es so satt. Was hat denn dieses Land hier zu bieten außer der Natur? Ist das nicht der größte Schatz? Diese wunderbare Küste, Weite und Einsamkeit, Seen und geheimnisvolle Wälder und große Flächen mit Schilf und Marschland. Malte sagt nichts weiter als: ›Hey, ihr müsst das ernst nehmen, ihr seid nicht allein, auch die Tier- und Pflanzenwelt will sich entfalten können!‹ Aber diese verstockten Leute hier fühlen sich sofort beeinträchtigt oder persönlich beleidigt. Manchmal kann man eben nicht profitieren, nicht alles bauen, abtragen, trockenlegen, einbetonieren. Ich hasse diese Profitgier, diese Ignoranz, diese Eigensucht! Wir Menschen sind doch nicht nur für uns selbst da! Wir müssen uns auch mal zurücknehmen können!«

      Sie hatte sich in Rage geredet, jetzt trat sie einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf, irritiert über sich selbst. »Entschuldigung«, sagte sie, »das hatte ich gar nicht beabsichtigt, aber du merkst, das alles hier macht mich ganz schön fertig.« Sie sah sich nervös um. »Ich muss jetzt gehen. Und ich hoffe, dass ich dich mit meinen Geschichten nicht zu sehr überfrachte.«

      »Es ist immer gut, wenn ich einen Überblick über die Verhältnisse habe«, sagte Tom diplomatisch.

      Tanja hatte es jetzt eilig. »Am besten wartest du noch einen Moment, bevor du gehst.« Sie hob die Hand zu einem etwas unbeholfenen Gruß und eilte davon, um sich dann aber doch noch einmal umzudrehen. »Wenn sich das einrichten lässt, dann würde ich gern mal mit dir auf den Greifswalder Bodden rausfahren. Und wenn es irgendwie geht, nachts bei Mondschein.«

       8

      Dirk Pölzner sollte um zehn Uhr im Polizeihauptrevier erscheinen. Um halb elf war von ihm noch immer nichts zu sehen oder zu hören. Sylke machte sich auf den Weg zu dem Büro, in dem Philipp und Lisa arbeiteten. Noch bevor sie den Raum betrat, hörte sie durch die halb geöffnete Tür, wie Philipp sich beschwerte: »… und dann ist sie zu Klüver gerannt und hat ihm erzählt, wie unfähig wir beide sind, damit sie den Job hier übernehmen kann. Vielleicht will sie einfach hierbleiben.