Christopher W. Blackwell

Mythologie für Dummies


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Sie konnten also nicht einfach mal eben so die Mythen nachlesen. Dennoch ist es gelungen, Jahrtausende alte Erzählungen und Geschichten bis in die Gegenwart zu bewahren. Vor der Erfindung der Schrift waren es insbesondere das gesprochene Wort und die künstlerische Darstellung, die die Mythen vor dem Vergessen bewahrten. Nach der Erfindung der Schrift begannen die Menschen, die Mythen aufzuschreiben. Bis in unsere jüngste Vergangenheit gab es für Schriftsteller nichts Aufregenderes, als neue Geschichten nach dem Vorbild alter Mythen zu erfinden.

       Die mündliche Überlieferung

      Mythen sind Geschichten. Früher wurden sie hauptsächlich mündlich nacherzählt und weitergegeben. Wenn Geschichten so von einer Generation zur nächsten wandern, spricht man von mündlicher Überlieferung.

      In Gesellschaften, die über eine lange Tradition mündlicher Überlieferung verfügen, haben die Menschen normalerweise ein sehr gutes Gedächtnis. In Kulturen dagegen, in denen die Schrift verbreitet ist, benötigen die Individuen kein besonders ausgeprägtes Erinnerungsvermögen, weil es ja neben vielen anderen Möglichkeiten zum Beispiel Bücher, Broschüren, Notizzettel (und nicht zuletzt Dummies-Bände) gibt, die helfen, sich an wichtige Dinge zu erinnern, die die Menschen sonst vielleicht vergessen würden. Gesellschaften dagegen mit starker mündlicher Überlieferung bewahren das zu Erinnernde oft in Form von Gedichten oder Liedern, einfach weil man es sich so leichter Wort für Wort merken kann.

      Mythen entstammen ursprünglich ausschließlich dieser oralen Tradition. Sie wurden immer mündlich weitererzählt. Jede Veränderung an ihnen geschah auf diesem Wege des Erzählens. Da jede Mythen produzierende und Mythen erzählende Generation über ihre eigenen spezifischen Bedürfnisse und Erfahrungen verfügt, neigen Mythen dazu, sich im Laufe der Zeit zu verändern. Am Schluss einer solchen Entwicklung liegt dann ein und derselbe Mythos in mehreren Versionen vor.

      Der heutige E-Mail-Austausch im Internet stellt vielleicht eine moderne Form der mündlichen Überlieferung dar. Geschichten können heute leicht von Computernutzer zu Computernutzer auf der ganzen Welt wandern. Auf ihrem im Prinzip keine Zeit mehr beanspruchenden Weg erfahren sie dabei immer wieder leichte Veränderungen. Vielleicht haben ja einige dieser Geschichten im Internet das Zeug dazu, später einmal zu den Mythen des 21. Jahrhunderts zu werden.

       Der Mythos und die Archäologie

       Literatur

      Mit der epochalen Erfindung der Schrift aber wurden auch die Mythen schließlich in schriftlicher Form niedergelegt. Die Dichtung Homers etwa – eine eminent wichtige Quelle für unser Wissen über die griechische Mythologie – hat ihren Ursprung in mündlich überlieferten Liedern, die öffentlich von Sängern vorgetragen wurden. Diese Liedtexte und Verserzählungen wurden später aufgeschrieben und konnten somit nachgelesen werden. Die Mythenexperten streiten sich noch heute endlos darüber, wie zum Beispiel im Falle Homers das mündlich überlieferte Material in einer bestimmten Version (und nicht etwa einer anderen, die es sicher gegeben hat) den Weg aufs Papier beziehungsweise auf den Papyrus fand.

      

Mythographen gab es schon in der Antike. Sie schrieben die Mythen für spätere Generationen auf.

      Mythen dienten in der Vergangenheit immer wieder als Anregung für andere Arten von Literatur. Sehr viele griechische Tragödien, ursprünglich niedergeschrieben, um als Bühnenstück aufgeführt zu werden, griffen auf Stoffe und Motive der damaligen Mythologie zurück. In späterer Zeit war es zum Beispiel William Shakespeare, der sich beim Entwurf vieler seiner dramatischen Werke auf mythologische Geschichten stützte, wobei er sich der Mythologien des Mittelmeerraumes ebenso bediente wie der Mythen nordeuropäischer Herkunft. In seinem Stück Ein Mittsommernachtstraum spielt die Handlung am Hofe des griechischen Königs Theseus zum Zeitpunkt seiner Heirat mit der Königin der Amazonen Hippolyte (mehr dazu in Kapitel 7). Shakespeares Stück Romeo und Julia entlehnt seine Handlung der Geschichte von Pyramus und Thisbe, die in Ovids Metamorphosen geschildert wird (vergleiche Kapitel 12).

      In jüngster Vergangenheit haben Wissenschaftler versucht, mündlich überlieferte Mythen und Sagen gezielt ausfindig zu machen mit der Absicht, sie aufzuschreiben und zu erforschen. Anthropologen und Ethnologen besuchten dazu etwa die indigenen Völker Brasiliens oder andere noch weitgehend unerforschte Naturvölker. Sie ließen sich deren Geschichten erzählen und schrieben sie anschließend auf. Diese schriftlich niedergelegte Überlieferung dient dazu, einen Beitrag zur Bewahrung der jeweiligen Kultur zu leisten, und ermöglicht unter Umständen auch einen Blick darauf, wie Mythen sich mit der Zeit weiterentwickeln.

      Mythen sind eine schwierige, verwirrende Angelegenheit. Oft scheinen Mythen aus verschiedenen Teilen der Welt und aus unterschiedlichen Zeiten gewisse Ähnlichkeiten aufzuweisen. Die meisten Mythen lassen sich in bestimmte Klassen oder Gruppen einteilen, unabhängig davon, ob die unterschiedlichen Kulturen, denen sie entstammen, viele Gemeinsamkeiten haben oder nicht. Wieso ist das so?

      Vergleichende Mythologie

      Immer wenn Wissenschaftler auf mehrere, anscheinend einem bestimmten Muster gehorchende Aspekte einer Sache stoßen, versuchen sie herauszufinden, welchen Regeln dieses Muster gehorcht. In den letzten einhundert Jahren arbeiteten viele Mythenexperten an der Beantwortung der uralten Frage, worum es in all diesen mythischen Geschichten geht. Da diese Frage geradezu unbeantwortbar erscheint, stellten sie mehrere unterschiedliche Theorien auf, die allmählich Teil der Fachgebiete Psychologie, vergleichende Literaturwissenschaft und Anthropologie wurden.

      Im Folgenden sind überblicksartig einige der bedeutenderen Theorien über Mythen aufgelistet:

       Mythen sind bestimmend für die Überzeugungen, Sitten und Gebräuche einer Gesellschaft.

       Mythen sind dasselbe wie Rituale.

       Mythen sind Allegorien, vergleichbar mit den Gleichnissen in der Bibel.

       Mythen enthalten Erklärungen für die Phänomene in der Natur.

       Mythen liefern Erklärungen für psychologische Zustände wie etwa die Liebe, den Sex oder auch die Wut auf die eigenen Eltern (Sigmund Freud war sicher ein Anhänger dieser Theorie).

       Mythen dienen der Kommunikation und helfen Menschen dabei, miteinander zu arbeiten; oder sie sind eine Art, über Dinge zu sprechen, die den Menschen Sorgen bereiten (die Theorie des Strukturalismus,