Thomas Hülshoff

Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik


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Berufsgruppen einen Nutzen von dem hier vermittelten medizinischen Basiswissen haben, wenn es um die Gestaltung inklusiver Prozesse geht.

      Wahrnehmen, Erkennen, Verhalten und emotionales Erleben sind Leistungen unseres hochkomplexen Nervensystems, insbesondere des Gehirns, das eine gewisse Sonderstellung einnimmt: Im Grunde handelt es sich gar nicht um ein einzelnes Organ, sondern um ein vernetztes Geflecht verschiedenster Module und Steuerungseinheiten, die auf unterschiedlichste Weise zusammen agieren können. Ursprünglich hat sich auch das menschliche Gehirn evolutionär entwickelt, um seinen Trägern ein besseres Überleben zu ermöglichen: Wahrnehmung und Reaktion konnten umso besser und adäquater auf die Wirklichkeit abgestimmt werden, je mehr es gelang, eben jene Wirklichkeit in neuronalen Netzen zu rekonstruieren. Diese hochkomplexe Verschaltung ermöglicht es eben diesem Gehirn aber zumindest in Ansätzen auch, sich seiner selbst bewusst zu werden, Probleme zu antizipieren und abstrakt zu lösen (was wir als „Denken“ bezeichnen) oder seelische Empfindungen als solche wahrzunehmen.

      Für die angewandte Heilpädagogik ist das Wissen um die Entwicklung des menschlichen, insbesondere des kindlichen Gehirns, mögliche Störungen im Reifungsprozess, die neuronalen Grundlagen der Wahrnehmung, der Motorik, der emotionalen Verarbeitung und der Kognition von großer Wichtigkeit. Nachdem das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zum „Jahrzehnt der Hirnforschung“ apostrophiert wurde, haben die in dieser Dekade gemachten neueren Erkenntnisse nicht nur unser Weltbild, sondern in Ansätzen auch die pädagogischen Grundlagen maßgeblich beeinflusst oder verändert. Insofern scheint es mir sinnvoll, auf die Grundlagen der neuronalen Verarbeitung auch in einem Lehrbuch der Heilpädagogik einzugehen.

      Im folgenden Kapitel soll kurz auf die wichtigsten Grundbegriffe eingegangen werden. Vertiefungen – beispielsweise zur Neurophysiologie der visuellen Wahrnehmung oder der Motorik – finden sich jeweils in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches.

      Aufbau und Funktion der Nervenzellen

      Letztlich besteht das zentrale Nervensystem und auch das Gehirn aus einer unvorstellbar großen Zahl von 100 Milliarden Nervenzellen, von denen eine jede bis zu 10.000 Verbindungen zu anderen Nervenzellen aufnehmen kann. Damit ist unser Gehirn wohl die komplexeste Struktur des uns bekannten Universums. Zum Vergleich: Hätten 100 Milliarden Menschen, das etwa 25fache der jetzigen Erdbevölkerung, die Möglichkeit zu jeweils 10.000 anderen Menschen Kontakt aufzunehmen oder dies nicht zu tun, so entspräche dies in etwa den 10.000 synaptischen möglichen Verbindungen einer Nervenzelle. Ein anderer Vergleich: Die 100 Milliarden Bäume des tropischen Regenwaldes und die möglicherweise 10.000 Blätter pro Baum mögen die im Grunde nicht mehr vorstellbare Komplexität unseres Gehirns versinnbildlichen.

       Nervenzelle

      Eine Nervenzelle besteht zunächst aus den üblichen Zellstrukturen wie Zellmembran, Zellkern, Mitochondrien etc. Darüber hinaus hat sie zahlreiche Ausläufer, die als „Dendriten“ bezeichnet werden und als „Antennen“ fungieren: Über sie gelangen gleich noch zu besprechende bioelektrische Signale zum Zell-inneren und insbesondere zum Axonhügel, wo sie „verrechnet“ werden. Neben den als Dendriten bezeichneten Empfangsstrukturen weisen Nervenzellen aber auch einen meist längeren Ausläufer, das Axon, auf, über den Impulse weitergeleitet werden können. Ein Axon hat also „Sendefunktion“. Zwar gibt es – im Gegensatz zu den Dendriten – nur ein Axon, doch kann dieses sich an seinem Ende ebenfalls verzweigen. Da das Axon eine erhebliche Länge betragen kann (die Nervenzelle ist nur ein 40-Tausendstel Millimeter groß, das Axon, das von der Großhirnrinde zum Rückenmark läuft, kann bis zu 1 m lang sein) muss es am zellfernen Ende mit Nährstoffen versorgt werden.

       Gliazellen

      Dies übernehmen Gliazellen, fetthaltige Stützzellen, die sich zwiebelschalenartig um das Axon wickeln und mehrere Funktionen haben: Zum einen versorgen sie das Axon mit Nährstoffen und Sauerstoff, zum anderen schützen sie es vor giftigen Substanzen, und zum Dritten tragen sie zu einer schnelleren Erregungsleitung bei (Hülshoff 2008, 14f).

       Reizentstehung

      Hauptaufgabe einer Nervenzelle ist es, bioelektrische Informationen zu empfangen, zu verarbeiten und weiterzuleiten. Insofern ist der Vergleich mit einem Mikroprozessor statthaft. Trotzdem muss man sich klar machen, dass im Gegensatz zur Computertechnik im Gehirn auch chemische Vorgänge eine wesentliche Rolle bei der Informationsverarbeitung spielen. Wie aber entsteht die bereits genannte bioelektrische Aktivität? Unabdingbare Voraussetzung dafür sind elektrisch geladene Atome oder Moleküle, so genannte Ionen. Diese können, je nach Elektronenzustand, positiv (Na+) oder negativ (CL-) geladen sein. Befinden sich in einer Körperstruktur, beispielsweise einem Axon, negativ geladene Ionen im Überschuss, so ist diese Struktur gegenüber der Umgebung negativ geladen. Dies gilt insbesondere für Nervenzelle und Axon im Ruhezustand, wenn innerhalb des Axons durch negativ geladene Eiweißpartikel und Chlorionen eine negative Spannung von 70 Megavolt (MV) vorherrscht. Außerhalb der Zelle, im extrazellulären Raum, überwiegen positiv geladene Natronionen, so dass der extrazelluläre Raum positiv geladen ist.

       Membran

      Axoninnenraum und Extrazellularraum werden durch eine Axonmembran voneinander getrennt. Diese Membran ist unter bestimmten Umständen durchlässig, also semipermeabel. Normalerweise bleiben positiv und negativ geladene Ionen vonein-ander getrennt, was zu den oben beschriebenen Spannungsverhältnissen führt. Kommt es aber zu einer bioelektrischen Erregung am Axonhügel, also an dem Teil der Nervenzelle, an dem das Axon entspringt, so verändern sich die Membraneigenschaften des Axons an dieser Stelle. Die Membran besteht nämlich aus Eiweißbestandteilen, die ihrerseits bestimmte Oberflächenspannungen aufweisen.

      Der bioelektrische Impuls vom Axonhügel führt nun dazu, dass sich kurzfristig „Ionenkanäle“ öffnen, die Axonmembran also für Natronionen durchlässig wird. Da sich unterschiedlich geladene Teilchen anziehen und die kleinen Ionenkanäle nur von Natrium, nicht aber vom Chlor passiert werden können, strömt Natrium im Überschuss ins Axon. Infolgedessen ändern sich die Spannungsverhältnisse, im Inneren des Axons wird ein Erregungspotenzial von 30 MV aufgebaut. Dies wiederum hat zur Folge, dass an benachbarter Stelle ebenfalls Membraneigenschaften verändert werden und sich Ionenkanäle öffnen. Somit kann auch an dieser Stelle Natrium einströmen. Dieser Prozess wiederholt sich, so dass die Erregung vom Nervenzellende in Richtung Peripherie weitergeleitet wird.

      Um erneut einsatzbereit zu sein, muss die Nervenzelle anschließend aktiv die alten Konzentrationsverhältnisse wiederherstellen. Das gelingt mit Hilfe der so genannten Ionenpumpe, chemischen Prozessen also, bei denen das Natrium unter erheblichem Energieaufwand wieder aus dem Zellinneren herausgepumpt wird. Nun ist die Zelle erneut erregbar.

       Erregung am Axonhügel

      Wir wissen jetzt in groben Zügen, wie die Erregung vom Axonhügel bis zum Ende des Axons weitergeleitet wird. Es bleibt noch zu erwähnen, wie sie beim Axonhügel entsteht: Die einlaufenden Dendriten leiten ihrerseits mit analogen Mechanismen bioelektrische Erregung in Richtung Axonhügel. Laufen nach-einander eine Reihe bioelektrischer Erregungen ein oder kommt es es zu einer zeitlichen Summation solcher Erregungen, so entsteht ein Schwellenpotenzial am Axonhügel, das den o. g. Weiterleitungsprozess via Axon einleitet. Man kann also die Nervenzelle als Mikroprozessor sehen, die in der Lage ist, einlaufende Informationen miteinander zu verrechnen und im Sinne einer Ja-Nein-Entscheidung (ein Axon feuert oder feuert eben nicht) eine Erregung auszusenden oder im Ruhepotenzial zu bleiben.

       Synapse

      Am Ende des Axons wird die bioelektrische Erregung zunächst nicht weitergeleitet. Das Axonende ist durch einen so genannten synaptischen Spalt vom dendritischen Ende der zweiten Nervenzelle getrennt. Diese Strukturen – Axonende der ersten Nervenzelle, dendritisches Ende der zweiten Nervenzelle und der Spalt, der beide voneinander