Thomas Hülshoff

Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik


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das Stammhirn dafür, dass wir nach Luft schnappen. In ähnlicher Weise werden Körpertemperatur, Blutzuckerspiegel, Hungergefühl u. v. a. überlebenswichtige Parameter vom Stammhirn gesteuert. Vor allem der Grad unserer Erregung, unserer Wachheit oder unserer Schläfrigkeit wird – wie auch der Schlaf-Wach-Rhythmus – von einer so genannten Area retikularis des Stammhirns gesteuert. Ob wir ängstlich, wütend oder verliebt sind, entscheidet sich an anderen, gleich zu besprechenden Stellen unseres Gehirns. Der Grad der Erregung allerdings, mit dem diese Emotionen verspürt werden, wird im Stammhirn generiert. Das gilt auch für den Wachheits- und damit Bewusstseinszustand. Stammhirnläsionen können in der Regel nicht überlebt werden, weil dieser fundamentale und archaische Teil unseres Gehirns essenziell für die lebensnotwendigen Steuerungsfunktionen ist.

       Zwischenhirn

      Über das Stammhirn stülpt sich das Zwischenhirn, das sensorische Reize weiterverarbeitet und z. T. mit fest verankerten basalen Programmen beantwortet wird. Eine wichtige Struktur des Zwischenhirns ist der Thalamus, manchmal als „Vorzimmer des Bewusstseins“ apostrophiert. In seinen seitlichen Arealen werden beispielsweise Informationen der Sehnerven ein erstes Mal miteinander verglichen und ausgewertet. So veranlasst uns der Thalamus unbewusst, unseren Blick möglichen Gefahrenquellen zuzuwenden. Auch wenn wir erst später erkennen, dass die vermeintliche Schlange am Boden ein Gartenschlauch war, springen wir möglicherweise doch vor Schreck an die Seite. Wir entwickeln eine Stressreaktion, deren Ursprung vom Thalamus gesteuert wird. Abgebaut wird diese Reaktion erst, wenn das gleich noch zu besprechende Großhirn die Führung in der sensorischen Interpretation übernimmt. In seinen medialen Anteilen verarbeitet der Thalamus insbesondere Hörinformationen, die nach ganz ähnlichen Prinzipien wie die eben beschriebenen visuellen Verarbeitungsmodi ausgewertet werden. Der Thalamus ist also eine wichtige Schaltzentrale, die mit darüber entscheidet, welchen Ereignissen unser Bewusstsein Beachtung schenkt. Er hat mächtige Verbindungsbahnen zu den übergeordneten, von ihm mit Informationen verbundenen Hirnarealen.

       Limbisches System

      An der Grenze von Zwischen- und Großhirn befindet sich eine saumförmige Region, die als „Limbisches System“ (lat.: limbus – der Saum) bezeichnet wird. Das Limbische System besteht aus einer Reihe von untergeordneten Regionen, von denen der Mandelkern (Amygdala) und der Hippokampus (Seepferdchen) die wichtigsten sind.

       Mandelkern

      Der Mandelkern – der seinen Namen ebenso wie das See-pferdchen einer beschreibenden Anatomie vergangener Zeiten verdankt – wird auch als „Mischpult der Gefühle“ apostrophiert und färbt alle wahrgenommenen Ereignisse emotional ein. In seiner unteren Region differenziert er im Wesentlichen nach den Kategorien „Lust-Unlust“ und leitet uns damit auf noch vorbewusster Ebene an, bestimmte Situationen zu meiden, andere hingegen anzustreben. Hier generieren auch Primäraffekte wie „eine dumpfe Wut im Bauch“ oder eine noch namenlose, fast panische Angst. Analoges gilt auch für andere Emotionen wie z. B. Interesse, Erotik oder Trauer. Gleichzeitig sorgen die basalen und unteren Teile der Amygdala dafür, dass unser vegetatives Nervensystem reagiert: Angst beispielsweise geht mit einem Erregungszustand, der Ausschüttung von Adrenalin und vielen Parametern der so genannten „flight and fight reaction“ einher: Puls und Atemfrequenz beschleunigen sich, der Blutdruck steigt, die Pupillen werden schreckensweit, die Hände schwitzen (was über die damit verbundene Verdunstung zur Abkühlung führt) und dergleichen mehr. Die Emotion Angst ist also ein durchaus körperliches, vegetativ gesteuertes Ereignis. Analoges gilt für die Wut, die Freude, die Trauer oder erotische Gefühle: Sie alle äußern sich auch vegetativ, mimisch, motorisch, mitunter auch hormonell. Hierauf wird in Kap. 9 noch detaillierter eingegangen.

      In seinem oberen Teil leitet der Mandelkern emotional relevante Informationen über breit angelegte Nervenfasern zur periobikulären (augennahen) Region des Frontalhirns. Diese Bahnen und ihre Endstrecken ermöglichen eine differenziertere Analyse, auch in emotionaler Hinsicht. Aus der dumpfen Wut wird nun Eifersucht, Rachegefühl oder ein „heiliger Zorn“. Auch emotional-kognitive Phänomene wie Scham oder Schuldgefühl können nun differenziert erlebt werden.

      Schließlich ist das frontale Großhirn auch in der Lage, Emotionen in gewissen Grenzen zu steuern und den sozialen Gegebenheiten anzupassen. Dass wir wütend werden, können wir nicht verhindern – dies liegt in unserer Natur und ist im Wesentlichen im Limbischen System verankert. Wie wir mit unserer Wut umgehen, ist hingegen auch von unseren Großhirnfunktionen abhängig, nicht zuletzt auch von unserem Gedächtnis, das in unserem bisherigen Leben einiges über den Umgang mit Wut gelernt hat.

       Hippokampus

      Um aber im Gedächtnis abgespeichert zu werden, muss eine emotional relevante Information zunächst den Hippokampus (Seepferdchen) passieren. Diese Struktur wird auch als „Pforte des Gedächtnisses“ bezeichnet und sorgt dafür, dass emotional relevante Informationen, vom Hippokampus bearbeitet, in den Gedächtnisstrukturen insbesondere des Temporallappens abgespeichert wird. Ist der Hippokampus zerstört, kann dies nicht mehr geschehen. Alte Lebensereignisse sind zwar nach wie vor im Gedächtnis abrufbar, neue Ereignisse können hingegen nicht aufgenommen werden. Amygdala und Hippokampus liegen anatomisch dicht nebeneinander und sind auch funktionell sehr stark miteinander vernetzt.

       Basalganglien

      An den unteren Regionen des Großhirns befinden sich Zentren im Dienste der Motorik. Dies sind zum einen im archaischen Teil der Hirnrinde die Basalganglien, zum anderen das Kleinhirn (Zerebellum). Beide Strukturen können in gewisser Hinsicht als „Unterausschüsse“ der nichtwillkürlichen Begleitmotorik angesehen werden. Zwar sind gleich noch zu besprechende Großhirnareale für die Willkürmotorik zuständig und sorgen dafür, dass wir uns gemäß unseres Willens bewegen oder nach Objekten greifen. Aber die „Unterausschüsse“ der nichtwillkürlichen, extrapyramidalen Begleitmotorik sorgen dafür, dass dies in ad-äquater Weise geschieht: Dosierung der Muskelaktivität, Kraft, Neigungswinkel und die Abfolge diverser motorischer Unterprogramme werden aufeinander abgestimmt, ohne dass wir uns bewusst damit befassen müssen. Die Basalganglien sind bei diesem Geschehen vor allen Dingen für schnelle, so genannte ballistische Bewegungen zuständig: Wenn Sie einen Golfschläger bewegen und während dieser Bewegung merken, dass sie den Ball wohl nicht treffen werden, ist es für eine Kurskorrektur bereits zu spät. Die damit befassten Basalganglien haben das Bewegungsprogramm bereits gestartet.

       Kleinhirn

      Auch das Kleinhirn ist als ein den Basalganglien ebenbürtiger motorischer Unterausschuss zu verstehen, wenngleich es hier um die Koordination von Außenreizen aus der Umwelt mit Innenreizen aus Gleichgewichtsorgan und Tiefensensibilität im Sinne einer motorischen Koordination geht. Manchmal wird das Kleinhirn auch als „Autopilot“ des motorischen Systems bezeichnet. In einem mitunter nicht ganz einfachen Prozess lernen wir z. B. zu tanzen, Auto zu fahren oder mit einem Fahrrad umzugehen. Einmal gelernt, stehen uns diese „Programme“, die im Kleinhirn abgespeichert sind, automatisch zur Verfügung. Wir müssen beim Schalten des Getriebes oder dem Treten des Pedals unser Bewusstsein nicht dieser motorischen Aktion zuwenden – dies läuft quasi automatisch ab. Auch beim Tanzen können wir, haben wir die Schritte einmal gelernt und im motorischen Gedächtnis unseres Kleinhirns gespeichert, uns wichtigeren Angelegenheiten, beispielsweise der Unterhaltung mit dem Tanzpartner zuwenden.

       Großhirnrinde

      Über die bisher genannten basalen Strukturen unseres Großhirns wölbt sich die Großhirnrinde, deren tiefe Faltung und Windungen vor allem beim Menschen eine außerordentliche Oberflächenvergrößerung ermöglichen. Diese „grauen Zellen“ sind Sitz unseres bewussten Erlebens, unserer Handlungsplanungen, aber auch differenzierter Repräsentationen und Sinnesverarbeitung sowie gezielter Willkürmotorik. Das Gehirn kann in zwei Hemisphären (Halbkugeln) sowie vier unterschiedliche Lappen aufgeteilt werden: Hier sind Stirn- oder Frontallappen, Schläfen- oder Parietallappen, Scheitel- bzw. Temporallappen sowie Hinterhaupts- oder Okzipitallappen zu nennen.

       sensomotorische Hirnrinde