Thomas Hülshoff

Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik


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Entwicklungs-störungen

      Dieser Prozess der kindlichen Hirnentwicklung ist durchaus störungsanfällig – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Wie schon erwähnt, können genetische sowie intrauterine „Störungen“ zu einer Verletzlichkeit (Vulnerabilität) neuronaler Subsysteme führen. Aber auch physische (Infektionen, Flüssigkeitsmangel, Impfschäden) wie psychosoziale (Deprivation, Traumen, Stresssyndrome) Schädigungen vor allem im ersten Lebensjahr können sich in erheblichem Maße negativ auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns und seine Funktionen auswirken. Dies gilt nicht nur für den motorischen und sensorischen, sondern in besonderem Maße auch für den emotionalen, sprachlichen und kognitiven Bereich. In den entsprechenden Kapiteln wird hierauf detaillierter einzugehen sein. Was heißt dies nun für die Pflege und Erziehung des Kindes?

       Pflege und Erziehung

      Das Gehirn entwickelt sich stürmisch in der pränatalen Phase und im ersten Lebensjahr. Die Entwicklungsgeschwindigkeit verlangsamt sich zwar, doch kommt sie, was den physiologischen Prozess angeht, erst gegen Ende der Pubertät zum Stillstand. Auch danach ist das Gehirn bis an unser Lebensende plastisch. Aber die eben beschriebenen Vorgänge weisen darauf hin, dass es für zahlreiche motorische, sensorische und kognitive Fähigkeiten des Menschen sensible Phasen, Entwicklungsfenster, gibt, in denen Fähigkeiten wie das Gehen, die Sprache o. a. optimal erlernt werden. Manche dieser Fenster sind relativ breit und unspezifisch, andere sehr eng und hoch spezifisch: Den Dialekt unserer Muttersprache erlernen wir nur in den ersten Lebensjahren. Das Wissen um solche Entwicklungsfenster kann gar nicht ernst genug genommen werden und wird deswegen für jede in diesem Buch beschriebene kognitive Fähigkeit an gegebener Stelle vertiefend erläutert.

      Wie wir gesehen haben, können spezifische Rezeptorstellen an den Dendriten durch für sie charakteristische chemische Substanzen so verändert werden, dass Ionenkanäle geöffnet werden und somit ein bioelektrischer Reiz entsteht.

       neurotrop/psychotrop

      Solche chemischen Substanzen beeinflussen also die Erregung und werden als „neurotrop“ oder „psychotrop“ – auf das Nervensystem bzw. die Psyche wirkend – bezeichnet. Zu diesen Substanzen gehören zunächst die Neurotransmitter, spezifische Botenstoffe unseres Nervensystems, die wesentlich im Dienst der Erregungsübertragung stehen. Sie versorgen oft zielgerichtet ganz bestimmte Erregungsbahnen. Neurotransmitter können einfache Aminosäuren sein, wie z. B. das Glutamat. Sie können aber auch aus Nahrungsbestandteilen zu Monaminen synthetisiert werden, wie etwa das Dopamin oder Noradrenalin. Schließlich gibt es großmolekulare Peptide, die als Neurotransmitter fungieren können.

       Hormone

      Hormone haben einen größeren Wirkradius, da sie in der Regel über das Blutsystem viele Organe erreichen. Auch sie können gezielt das Nervensystem beeinflussen, beispielsweise die körpereigenen Endorphine, die an zentralen Stellen der Schmerzbahnen eingreifen. Auch in der Natur vorkommende pflanzliche Stoffe (bzw. Pflanzengifte) können beim Menschen psychische oder neurophysiologische Wirkungen hervorrufen: z. B. das eine Atemlähmung verursachende indianische Pfeilgift Curare, aber auch das aus der Koka-Pflanze gewonnene Kokain oder die Opiate des Schlafmohns.

      Vom Menschen extrahiert, chemisch verändert oder synthetisiert können solche Stoffe als Drogen genommen werden, um eine höchstmögliche (oft gefährliche) psychische Wirkung zu entfalten. Schließlich können, völlig neu synthetisiert oder sich von pflanzlichen Wirkstoffen herleitend, psycho- oder neurotrope chemische Substanzen entwickelt werden, die als Psychopharmaka eingesetzt werden. Als Beispiel wären hier Neuroleptika, Antidepressiva und Tranquilizer zu nennen.

       Wirkmechanismen

      Prinzipiell sind unterschiedliche Wirkmechanismen vorstellbar, um die Wirkung von psychotropen Substanzen – seien sie Drogen oder Arzneimittel – zu erklären: So kann bereits die Produktion eines Neurotransmitters in der „Senderzelle“ blockiert oder gehemmt werden, wie dies z. B. bei manchen Antidepressiva der Fall ist. Das Medikament kann aber auch – wie im Falle des Naloxons, eines Mittels, das bei Opiatvergiftungen gegeben wird – den Rezeptor der Empfängerzelle blockieren. Somit kann der Neurotransmitter (oder das zuvor gegebene Rauschmittel) nicht mehr „andocken“. Auch der Abbau des spezifischen Neurotransmitters kann verzögert oder manipuliert werden: Er ist dann länger wirksam. Beispiele für diesen Mechanismus finden wir bei manchen Neuroleptika und Antidepressiva. Schließlich können psychotrope Substanzen massiv in den Stoffwechsel der empfangenden postsynaptischen Strukturen eingreifen, was als Beeinflussung des „second messenger systems“ (indirekte Wirkung über „zweite Boten“) bezeichnet wird.

      Oft sind es strukturelle Ähnlichkeiten auf molekularer Ebene, die, beispielsweise bei Morphin und seinem Gegenspieler Naloxon, am Rezeptor wirken: An bestimmten Stellen kann sich Naloxon im Rezeptor einklinken, so dass das Morphin an dieser Stelle seine Wirkung nicht mehr entfalten kann. Eine solche Strukturähnlichkeit liegt immer dann vor, wenn Medikamente oder Suchtstoffe einen Neurotransmitter „imitieren“, am Rezeptor andocken und somit den natürlichen Botenstoff blockieren (so dass das Medikament hemmend wirkt). Bei anderen Wirkstoffen kann dieses Andocken aber auch dazu führen, dass das Medikament selbst die Neurotransmitterfunktion erfüllt und somit die Zelle erregt.

       Hemmung und Erregung

      Neurotransmitter können, so wurde bereits gesagt, prinzipiell erregenden oder hemmenden Einfluss haben. Ob ein Neuro-transmitter hemmende oder erregende Wirkung entfaltet, hängt von der Beschaffenheit der Membran ab, an deren Rezeptoren er andockt. Manche Neurotransmitter, wie z. B. das Dopamin und das Noradrenalin, wirken fast ausschließlich an erregenden Synapsen, andere, wie etwa die Gamma-Aminobuttersäure (GABA), praktisch nur hemmend. Acetylcholin schließlich kann, je nach Wirkungsort, hemmend oder erregend wirken.

      Es wäre also völlig falsch, einem bestimmten Neurotransmitter eine grundsätzliche und ausschließliche Funktion zuzuordnen. Dies gilt insbesondere für komplexere Verhaltensweisen oder psychisches Erleben: Serotonin beispielsweise ist maßgeblich an unseren Stimmungen, insbesondere auch der Trauer, beteiligt. Ein Mangel an dieser Substanz kann durchaus zur Emotion der Trauer beitragen. Dennoch ist Serotonin nicht „der Grund der Trauer“ (dies sind in der Regel erlebte Ereignisse, vor allem Verluste), sondern lediglich ein biochemisches Korrelat in einem sehr komplexen Verarbeitungssystem. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass erst sehr komplexe neuronale Verschaltungen, Module mit zehntausenden, manchmal Millionen beteiligter Nervenzellen, im Zusammenhang mit den ihnen zugrunde liegenden Neurotransmittern dazu beitragen, eine Reaktion, Stimmung oder ein psychisches Erleben hervorzurufen. Dies ist aber bereits die kombinierte physiologische und chemische Reaktion auf einen inneren (z. B. Hungergefühl) oder äußeren (z. B. Bedrohung) Stimulus, der nun zerebral verarbeitet wird. Mit anderen Worten: Trauer lässt sich nicht biochemisch „heilen“. Allerdings lassen sich neuronale Systeme und die ihnen zugrunde liegenden biochemischen Prozesse durch chemische Substanzen beeinflussen, meist noch relativ ungezielt, wie weiter unten zu zeigen ist.