der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts hingegen relativierte sich das Bild wieder.
Erschöpfungssyndrome unterschiedlicher Ausprägung werden nicht in jeder Gesellschaft gleichermaßen als Krankheit angesehen. Wenn, dann werden sie kulturell bedingt oft unterschiedlich attributiert: Engländer scheinen eher an „nervösen Leiden“ zu erkranken, bei Franzosen finden wir die „crise du foie“ – also eine Art Leberbeeinträchtigung, während Deutschen chronischer Stress und Erschöpfung „auf’s Herz schlägt“ und vermehrt zu funktionalen Herzbeschwerden führt.
Was wir für krank oder gesund, für normal oder bedenklich halten, ist also keineswegs nur ein objektiv gegebener, naturwissenschaftlich zu messender Befund. Es richtet sich auch stark nach kulturellen Begebenheiten.
So kann man im „Struwwelpeter“ Heinrich Hoffmanns, erschienen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zahlreiche Verhaltensweisen finden, die damals als Charakter- oder Erziehungsschwäche klassifiziert (und von Hoffmann entsprechend bestraft) wurden. In den vergangenen 160 Jahren hat eine derartig starke „Medikalisierung“ stattgefunden, dass von den ehemaligen Charakterschwächen nicht mehr allzu viel übrig geblieben ist: Paulinchen wurde zur Pyromanin, der Struwwelpeter ist ebenso wie der bitterböse Friedrich eher depressiv-depriviert, Hans-Guck-in-die-Luft könnte an einer Absence leiden, der Suppenkasper weist eine Anorexie auf, und im Zappelphilipp erkennen wir das hyperkinetische Syndrom. Ob mit einem solchen Paradigmenwechsel allerdings viel gewonnen wurde oder lediglich ein (wertend-normatives) Stigma durch ein neues (medikalisiertes) ersetzt wurde, sei dahingestellt.
Erfahrungsgemäß erkennt man die Kultur- bzw. Epochenabhängigkeit von Krankheitsauffassungen erst aus der Distanz. So wurde angesichts der enormen Fortschritte in der naturwissenschaftlich orientierten Medizin zu Beginn des 20. Jahrhunderts und des seinerzeit vorherrschenden Paradigmas einer Industriegesellschaft der Körper häufig als eine Art Fabrik vorgestellt, bei der die Leber entgiftet, das Herz pumpt, der Darm Nahrung transportiert und das Gehirn steuert. Dies war ebenso richtig wie kurz gegriffen. Am Ende des 20. Jahrhunderts entstanden, gesellschaftlich bedingt, neue Paradigmen, die auch in der Medizin Einzug hielten. Momentan wird der Mensch eher mit einem Netzwerk verglichen, bei dem vor allem die Interaktion unterschiedlicher Funktionseinheiten im Vordergrund des Interesses stehen.
Psychoneuroendo-krinoimmunologie
Neue Paradigmen gehen von Wechselwirkungen verschiedener Systeme aus, wie sie eine neue und sehr erfolgreiche Fachrichtung, die Psychoneuroendokrinoimmunologie, postuliert. Demzufolge gibt es enge Wechselwirkungen zwischen psychischen Phänomenen (also Gefühlen, Vorstellungen und kognitiven Prozessen, die in unserem Gehirn repräsentiert werden), neurophysiologischen Phänomenen, die sich als Aktivität unseres Nervensystems beschreiben lassen, endokrinen Prozessen, die durch Hormonausschüttung charakterisiert sind und immunologischen Prozessen, die maßgeblich von den Zellen unseres Abwehrsystems abhängen und dafür sorgen, dass wir uns vor pathogenen Keimen schützen können. Nach neueren Erkenntnissen gibt es zwischen diesen Systemen zahlreiche Verbindungen und Zusammenhänge. Darauf wird weiter unten noch näher eingegangen.
WHO
Auch die Weltgesundheitsorganisation, derzufolge Gesundheit „ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ (Waller 2013, 10) ist, formuliert in diesem zugegeben hohen Anspruch einen Gesundheitsbegriff, der eine Verknüpfung körperlicher, seelischer und sozialer Faktoren intendiert. Unterschiedliche Krankheitsmodelle können mehr oder weniger dazu beitragen, Krankheiten und die von ihnen betroffenen Kranken, also Patienten (wörtlich: „Leidende“), zu verstehen und ihnen beizustehen. Im Folgenden sollen acht solcher Krankheitsmodelle kurz mit ihren Möglichkeiten und Grenzen vorgestellt werden.
Medizinisches Krankheitsmodell: Ein klassisch-medizinisches, vorwiegend naturwissenschaftlich orientiertes Krankheitsmodell definiert Krankheit als einen regelwidrigen Funktionszustand körperlicher Organe, der eine spezifische Ursache, bestimmte Grundstörungen, typische Symptome und eine beschreibbare Prognose aufweist. So wäre z. B. ein Diabetes mellitus zu definieren als ein Mangel des Blutzucker steuernden Hormons Insulin, der auf einen Zelluntergang in der Bauchspeicheldrüse zurückzuführen ist. Er ist durch Durst, Benommenheit, vermehrtes Wasserlassen u. a. spezifische Symptome von geschulten Therapeuten zu erkennen und erlaubt unter bestimmten therapeutischen Prämissen eine normale Lebenserwartung. Ein solches Krankheitsmodell ermöglicht die Erforschung von Ursachen und Verlaufsform ebenso wie gezielter, oft naturwissenschaftlich begründeter und hinsichtlich ihres Erfolges objektivierbarer Behandlungsmethoden. Der rasante Fortschritt der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts beruht zum größten Teil darauf, dass sich Ärztinnen und Ärzte dieses naturwissenschaftlichen Paradigmas bedienten. Als es gelang, Insulin als Hormon zu identifizieren und zu synthetisieren, war die bis 1920 immer tödlich verlaufende „juvenile Zuckerkrankheit“ behandelbar. Sie ermöglichte, wenigstens im Prinzip, eine bedingte Gesundheit und normale Lebenserwartung.
Kritisch anzumerken ist allerdings, dass ein ausschließliches Beachten naturwissenschaftlich orientierter Kriterien möglicherweise nur Teilaspekte einer Erkrankung erfasst. Dass es außerdem die Dominanz von Ärzten stärkt und bei strenger Auslegung diätetische, psychologische, pädagogische und sozio-kulturelle Aspekte ebenso wenig berücksichtigt wie die dem Patienten und seinem unmittelbaren Umfeld innewohnenden Potenziale, ist ebenfalls ein des Öfteren angebrachter Kritikpunkt.
Evolutionsbiologische Krankheitsmodelle: Eine etwas andere, gleichwohl biologische Facette bieten die Krankheitsmodelle der „Evolutionsmedizin“. Der zufolge lässt sich zumindest ein Teil von Krankheiten mit der Conditio humana, der menschlichen Beschaffenheit, die sich in Hunderttausenden von Jahren evolutionär entwickelt hat, erklären.
ultimate vs. proximate Ursachen
Demzufolge kann man ultimate von proximaten Ursachen unterscheiden. Unmittelbare (proximate) Ursachen eines Diabetes sind mit den entsprechenden Funktionsausfällen der Bauchspeicheldrüse bereits oben angezeigt worden. Unter evolutionären (ultimaten) Gesichtspunkten allerdings kann sich Diabetes zunehmend in einer Bevölkerungsgruppe durchsetzen, weil er durch die neuen Lebensbedingungen in einer hochtechnisierten Gesellschaft nicht mehr zu unmittelbarer Gefährdung führt und somit verstärkt vererbbar ist.
Evolutionsmedizin
In ihrem lesenswerten und gut verständlichen Lehrbuch gehen die Ärzte und Evolutionsbiologen Nesse und Williams (2000) der Frage nach, warum wir krank werden. Aus evolutionsmedizinischer Sicht werden hier genannt:
a)Abwehr- und Verteidigungsmechanismen: Husten, Schnupfen, Fieber u. a. m. sind demzufolge keine krankhaften und möglichst zu behandelnden Symptome, sondern vielleicht sinnvolle Möglichkeiten, mit denen Keime bekämpft oder nach draußen befördert werden. Bei der normalen Grippe kann die Erhöhung der Körpertemperatur durch ein Bad oder einen Saunagang möglicherweise zu einem vermehrten Absterben von Krankheitserregern führen und den Heilungsprozess beschleunigen. Unter solchen Gesichtspunkten können fiebersenkende Medikamente unter Umständen kontraproduktiv werden. Nichtsdestotrotz kann es natürlich einen graduellen Anstieg von Fieber geben, der lebensbedrohlich ist und eine solche Maßnahme nötig macht.
b)Auch Infektionen können als evolutionär bedingter, nie endender Wettlauf zwischen sich aufrüstenden Keimen und dem darauf reagierenden Immunsystem des Menschen gesehen werden. Demzufolge wäre unser antibiotikagestützter Sieg über Krankheitserreger nur ein vorläufiger.
c)Veränderte Umweltbedingungen können dazu führen, dass evolutionär angelegte körperliche Parameter (z. B. unsere Affinität zu süßen, fetten und stark gewürzten Speisen) zunehmend dysfunktional werden. Unter Steinzeitbedingungen war es wichtig, sich die wenigen hochkalorischen Nahrungsmittel, die man bekam, einzuverleiben. In einer Überflussgesellschaft können Blutgefäßablagerungen, Durchblutungsstörungen u. v. m. die Folge sein.
d)Genetisch tradiert