nach dem Ausbruch verschiedener Erkrankungen sehr häufig eine Summierung einschneidender Veränderungen in der Lebenssituation der Betroffenen vorausgegangen war, z. B. ein Wechsel des Arbeitsplatzes, Änderungen der Familiensituation etc. Hieraus wurde die Hypothese abgeleitet, dass die krankheitsfördernde Belastung abhängig sei von vorausgegangenen einschneidenden Lebensereignissen, die man „Life-Events“ nannte.
Zahlreiche Forschergruppen versuchten, z. T. mit Fragebögen und Skalen, solche einschneidenden Veränderungen und ihre Belastung zu erfassen und ihre Bedeutung für die Stressreaktion zu analysieren. Trennung der Ehepartner scheint besonders stress-auslösend zu sein, doch wurden zahlreiche andere stressende Lebensereignisse beschrieben. An Stressoren im Zusammenhang mit Herzkrankheiten sind beispielsweise in erster Linie Lebensunzufriedenheit, insbesondere Unzufriedenheit im Beruf, gefolgt von Situationen von Verlassenheit, dem Verlust enger Bezugspersonen sowie berufliche Unsicherheit zu nennen. Ein Zusammenhang zwischen den „Life-Events“ und dem Stress, unter Umständen sogar Erkrankungen, konnte statistisch aufgezeigt werden. Es stellte sich aber heraus, dass nicht nur die Belastung an sich, sondern vor allem die Tatsache, ob und wie Menschen diese Belastung bewältigen konnten, ausschlaggebend dafür war, ob und in welchem Maße sich Stressreaktionen bildeten.
Stressbewältigung (Coping)
Die Bewältigung von Stress (Coping) hängt von einigen Voraussetzungen ab: Entscheidend ist zunächst, wie die Belastung von Betroffenen bewertet wird. Menschen versuchen zunächst einzuschätzen, welche Bedeutung eine Belastung für sie und ihr Wohlergehen hat. Mit anderen Worten: Wie sehr etwas belastet, hängt davon ab, wie einschneidend und wichtig die Belastung für das weitere Leben des Betroffenen ist. Zum Zweiten wird subjektiv bewertet, welche Bewältigungsmöglichkeiten dem Menschen zur Verfügung stehen. Als stressig wird ein Ereignis erst dann erlebt, wenn der Betroffene keine adäquate Möglichkeit mehr sieht, mit der Belastung fertig zu werden. Dies führt zur Frage nach der Bewältigungsfähigkeit:
■Problemorientiertes Coping: Prinzipiell kann ein Mensch in extremer Belastung entweder das Problem direkt angehen, man spricht von „problemorientiertem Coping“. In diesem Fall wird der Mensch versuchen, die belastenden Faktoren auszuschalten, sie zu umgehen oder durch persönliche gezielte Problemlösung die Ursache des Stresses zu bewältigen. Dabei kann die Situation sowohl alleine durch persönliche als auch durch kollektive Bewältigungsmöglichkeiten (soziale Unterstützung, soziales Netzwerk, soziale Integration) geleistet werden.
■Emotionsregulierendes Coping: Eine andere Form der Stressbewältigung wird als „emotionsregulierendes Coping“ bezeichnet, das sich vorwiegend darauf beschränkt, mit der emotionalen Erregung fertig zu werden, die eine Stresssituation ausgelöst hat. Wenn – vereinfacht gesagt – die Stresssituation nicht zu ändern ist, kann zumindest versucht werden, mit den sie begleitenden Gefühlen wie Ärger, Wut oder Trauer besser umzugehen und sie zu verarbeiten. Auch Entspannungsübungen u. a. Methoden dienen zumindest z. T. diesem Zweck.
Wenn Krankheit mitunter im Gefolge psychosozialen Stresses und sozialer Überforderung auftritt, dann wird deutlich, dass auch die Bewältigung eines solchen Stresses über somatische (medizinische) Behandlung und individualzentrierte Psychotherapie hinausgehen muss. Krankheit hat neben physikalisch-biologischen und intrapsychischen oft auch soziale Ursachen, in der Regel auch soziale Auswirkungen und Begleiterscheinungen, die auf der sozialen Meso- und Makroebene ihre Beachtung finden müssen.
Der Paradigmenwechsel vom rein naturwissenschaftlichen zum biopsychosozialen Krankheitsmodell (vgl. Kap. 2.1) führte seit den 1980er Jahren zum Modell der „Salutogenese“, einem 1979 von Antonovsky eingeführten Begriff, bei dem es um die Stärkung von gesundheitserhaltenden Faktoren geht. Antonovsky fragte sich, warum gleiche Stressoren (s. Kap. 2.2) bei einer Person zu chronischer Belastung oder Krankheit führen, bei anderen hingegen nur zu einer kurzen Krise oder sogar einer späteren Verbesserung des Allgemeinzustandes, warum also Menschen trotz großer psychischer oder physischer Belastungen gesund bleiben können.
Gesundheits-förderung
Solche zur Salutogenese (lat.: salus = Heil, gr.: Genesis = Entstehung) beitragenden, gesundheitsfördernden Faktoren werden heute als „Resilienzfaktoren“ (Schutzfaktoren) bezeichnet. Sie können u. a. aus einer genetisch bedingten, geringeren Vulnerabilität (beispielsweise hinsichtlich einer Depression), Temperamentsunterschieden, Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit, einem positiven Selbstwertgefühl, einer inneren Kontrollüberzeugung oder dem Vertrauen auf Selbsthilfemöglichkeiten bestehen. Auch soziale Faktoren wie Gesprächsmöglichkeiten auf der Metaebene (beispielsweise bei schicksalsbedingten Lebenskrisen) oder familiärer Schutz können sich gesundheitsfördernd auswirken. In der Ottawa-Charter der WHO von 1986 wurde Gesundheitsförderung wie folgt definiert: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu bewegen (vgl. Schwarzer 2010, 70f). Um ein umfassendes, körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen, sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In WHO-Nachfolgekonferenzen wurden spezielle Handlungsbereiche und Entwicklungsfelder der Gesundheitsförderung entwickelt. So befasste sich beispielsweise die 8. Globale Gesundheitsförderungskonferenz in Helsinki im Jahr 2013 schwerpunktmäßig mit dem Thema der gesundheitlichen Chancengleichheit unter Einbeziehung aller relevanten Politikfelder (Lehmann 2013).
In der „International Classification of Functioning, Disability and Help“ (ICF) von 2001 wird besonderer Wert auf das Aktivitätspotenzial und die Partizipation behinderter Menschen gelegt. Es ist aber wichtig, sich klarzumachen, dass Behinderung nicht mit Krankheit identisch ist: Zwar können Krankheiten zu Behinderung führen und Behinderung manchmal mit erhöhter Vulnerabilität einhergehen, aber eine Behinderung selbst ist keine Krankheit, sondern eine „Variante der Daseinsform in der Vielfalt menschlicher Daseinsformen“ (Nicklas-Faust, zit. in Hülshoff 2010, 2).
Die oben genannten Resilienzfaktoren können also auch bei Menschen mit Behinderung dazu führen, trotz vielfältiger Belas-tungen und Krisen gesund zu bleiben und ein gelingendes wie teilhabendes Leben trotz und mit zum Teil erschwerten Bedingungen zu führen. Die notwendigen Rahmenbedingungen einer so verstandenen Gesundheitsförderung auf sozialer und politischer Ebene umfassen gemäß der eingangs erwähnten Ottawa-Charter der WHO unter anderem „Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung […], soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit“ (zit. nach Michel in Schwarzer 2010, 71). Es ist aufschlussreich, dass sich diese Aussage keineswegs exklusiv auf Menschen mit Behinderung, sondern, (wenn man so will inklusiv), auf alle Menschen einer Gesellschaft bezieht.
2.4Soziale Dimensionen von Krankheit
Der zehnjährige Kevin wird wegen heftiger, chronischer Kopfschmerzen, Spiel- und Lernunlust sowie des dringenden Verdachtes einer erheblichen kindlichen Depression in die Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik überwiesen.
Anamnese und familientherapeutische Gespräche und eine „Helferkonferenz“ mit Eltern, Lehrer und begleitendem Sozialarbeiter ergeben folgende Hintergründe: Der 50-jährige Vater ist seit drei Jahren arbeitslos, nachdem er zuvor lange Zeit wegen eines Alkoholproblems erhebliche Schwierigkeiten am Arbeitsplatz hatte. Die Mutter hat ebenfalls mit depressiven Verstimmungen zu tun und hat seit ihrer Jugend heftige Migräneanfälle. Kevins 13-jährige Schwester leidet unter Asthma bronchiale, das vor allem in Spannungssituationen vermehrt auftritt. Die ebenfalls in der Familie lebende Großmutter ist wegen einer massiven Herzinsuffizienz auf konstante medizinische und mitunter pflegerische Hilfe angewiesen.