liebt, möchte man dem anderen Leid ersparen: Wer am meisten leidet, so die Tradition dieser Familie, bekommt die meiste Beachtung, Zuwendung und Schonung. Am Anfang dieser Familientradition besteht also ein durchaus verständliches, von Mitmenschlichkeit, Achtung und Liebe geprägtes Bild der familiären Beziehung. Verabsolutiert hingegen führten solche nun erstarrenden Beziehungsmuster dazu, dass nur noch Leid beachtet wird: Jede Regung von Lebensfreude, Spontaneität oder Aggression führte dazu, dass man aus dem Blickpunkt geriet oder mit Aufgaben überfordert wurde. So wurden in der hier vorgestellten Familie Aufgaben im Haushalt oder unangenehme Konfrontationen dem jeweils „Gesündesten“ angetragen. Schlimmer noch: Der Bindungsmodus des Mitleidens wurde zur Chiffre familiärer Zugehörigkeit und Solidarität. Lebensfreude und Vitalität konnte sich der Einzelne kaum noch gestatten, wurde es doch als eine Art „Verrat“ an den anderen gesehen.
Zur Symptombesserung und schließlich zur Heilung des zehnjährigen Kevin trug bei, dass ihn Eltern und Großmutter von entwicklungshemmendem „Mitleiden“ freisprachen und verdeutlichten, dass sie sich über seine Vitalität freuen, auch wenn sie selbst aus den unterschiedlichsten Gründen belastet sind. Wichtig war aber ebenso, dass der Junge in Schule und Übermittagsbetreuung altersentsprechende Aufgaben fand, dass es ihm gelang, zunächst in einem Fußballverein, später in einer Jugendgruppe tragfähige Kontakte zu knüpfen, und dass ihm das „Helfersys-tem“, maßgeblich durch die temporäre sozialpädagogische Familienhilfe repräsentiert, Hilfestellung bei seiner Individuation gab. Darüber hinaus lebt Kevin in einer Gesellschaft, die neben familiärem Zusammenhang auch Individuation und persönliche Entwicklung als einen eigenständigen Wert postuliert.
Indexpatient
An diesem Beispiel wird deutlich, dass die zweifellos somatischen, funktionell sehr wirksamen Schmerzen des „Indexpatienten“ in ihrem sozialen Kontext eine noch andere Bedeutung finden, als wenn man sie isoliert sieht. Auch eine „Therapie“, die die psychosozialen Aspekte berücksichtigt, wird sich nicht mit autogenem Training und schmerzlindernder Medikation begnügen – so sinnvoll solche Maßnahmen sein mögen.
Wie mit einem Teleskop kann man den Fokus der Aufmerksamkeit auf die somatischen, psychischen oder sozialen Komponenten einer Erkrankung richten. So können auf der somatischen Ebene genetische Faktoren (z. B. eine veranlagungsbedingte Überreaktion auf Schmerzen), zelluläre Faktoren (z. B. ödematöse Bezirke) oder Fehlfunktionen (Minderdurchblutung oder Blutdruckschwankungen) eine Rolle beim Entstehen von Kopfschmerzen spielen. Auf der psychischen Ebene können verdrängte Konflikte und damit verbundener primärer Krankheitsgewinn ebenso wie ein ängstliches Beobachten körperlicher Fehlfunktionen oder das Gefühl von Niedergeschlagenheit, Depression und Hoffnungslosigkeit das subjektive Empfinden von Kopfschmerzen beeinflussen. Auf der sozialen Ebene, um die es in diesem Kapitel vorrangig geht, kann man das Mikro- vom Meso- und Makrosystem unterscheiden.
Mikro-/Meso-/Makrosystem
Zum Mikrosystem gehören die nächsten Angehörigen und Bezugsgruppen, insbesondere die Familie. Ihre Regeln, Beziehungs- und Kommunikationsmuster, soziale Unterstützung sowie Bindungs- bzw. Ablösemuster beeinflussen maßgeblich das Erleben des Einzelnen auch bei Krankheit und Krankheitsempfinden. Zum Mesosystem zählen wir Netzwerke sowie Institutionen im mittleren Sozialbereich: Wenn Kevin in die Kinder- und Jugendpsychiatrische Abteilung kommt und hier Distanz zum familiären Geschehen gewinnt, so ist dies ebenso zum Mesosystem zu zählen wie die Aktivitäten von Schule, Sportverein, Jugendgruppe und sozialpädagogische Familienhilfe. Dies alles spielt sich aber im soziokulturellen Kontext der Gesellschaft und der Zeit, in der Kevin lebt, ab. Die Gemeinde und die in ihr verorteten Schulen, Krankenhäuser und Jugendgruppen, der Informationsgrad der Bevölkerung über Krankheiten und Krankheitseinstellungen, die öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung hierzu, epochale Einflüsse und „Vorurteile“ sowie kulturelle und politische Rahmenbedingungen sind hier von Bedeutung. Auf all diesen Ebenen werden zum einen die Entstehung und der Verlauf von Krankheit beeinflusst, zum anderen speist sich auch das Krankheitsempfinden von solchen sozialen Faktoren.
soziale Faktoren
Nach Misek-Schneider (in Schwarzer 2010, 31ff) lassen sich soziale Faktoren im Prozess der Krankheitsentstehung, im Verlauf der Krankheit sowie bei der Krankheitsbewältigung aufzeigen. So kann der Ausbruch einer Krankheit durch psychosoziale Momente mitbestimmt werden, wenn beispielsweise in Zeiten überhöhter und unphysiologischer beruflicher Beanspruchung ein Erschöpfungssyndrom zu erhöhter Infektanfälligkeit führt oder drohende Arbeitslosigkeit Bluthochdruck, Ängste und eine koronare Herzkrankheit begünstigen. Aber auch ob und wann die aufgetretenen Beschwerden vom „Patienten“ als Krankheitszeichen wahrgenommen und adäquat behandelt werden, wird maßgeblich von sozialen Faktoren beeinflusst: Je aufgeklärter und ausgebildeter der Betroffene, je höher sein sozialer Status und je größer seine finanziellen Ressourcen sind, desto eher wird er adäquate medizinische Hilfe suchen und finden. Bereits im Vorfeld von Erkrankung, nämlich im Ernährungs- und Gesundheitsverhalten, zeigen sich eindeutige Korrelationen zwischen sozioökonomischem Status und einem der Gesundheit zuträglichen Verhalten (wenngleich es natürlich individuelle Ausnahmen gibt). Allgemein kann gesagt werden, dass Armut, Unwissenheit und niedriger Sozialstatus ein erhebliches Gesundheitsrisiko sind, auch in hochtechnisierten Gesellschaften.
Compliance
Auch ist die „Compliance“ von Bedeutung. Darunter versteht man, dass der Patient die ärztliche Diagnose und die zur Heilung oder Rehabilitation notwendigen Maßnahmen akzeptiert und eigenverantwortlich mitträgt. Kommunikation und Interaktion zwischen Patient und Behandelndem sowie sozialem Umfeld, mithin soziale Faktoren, tragen also maßgeblich zur Gesundung bei und beeinflussen die Krankheitsprognose.
Krankheitserleben
Das Erleben von Krankheit speist sich zum einen aus intrapsychischen Faktoren, die maßgeblich durch die bisherige Lebenserfahrung und Biografie, aber auch einschneidende Life-Events (also Lebensereignisse ähnlicher Bedeutung) sowie bisheriger Heilungs- bzw. Problemlösungserfahrungen bestimmt sind. Auch Abwehrmechanismen im Krankheitserleben, z. B. das Verleugnen einer Krankheit, das Rationalisieren und Abspalten von Gefühlen, das Projizieren von Wut und Ärger auf andere oder die Regression in kleinkindliche Verhaltensweisen, sind eher psychischen Komponenten zuzuordnen. Aber wie ein Patient seine Krankheit erlebt, hängt auch von der Einstellung der Umwelt ab. Beispielsweise können primäres wie sekundäres Krankheitsverhalten sozial beeinflusst werden, wenn Menschen über die Maßen behütet, segrediert oder hospitalisiert werden. Auch gesellschaftliche Vorurteile (man spricht hier von Stigmatisierung) können das Krankheitserleben beeinflussen.
So berichtete eine Mutter eines etwa 20-jährigen, an schizophrener Psychose erkrankten Mannes voller Verzweiflung, dass sie mit niemandem, insbesondere nicht mit Nachbarn, darüber sprechen könne. „Wenn er nur Krebs hätte, dann könnte ich darüber reden und mir der Anteilnahme meiner Nachbarn sicher sein – aber bei Schizophrenie? Ich möchte nicht, dass wir für verrückt gehalten werden!“, war der verzweifelte Kommentar der betroffenen Familienangehörigen.
Schließlich hängt die Bewältigung von Krankheit maßgeblich vom sozialen Umfeld ab. Vor allem dem Begriff des „Coping“, der Bewältigungsprozesse, die wir bereits in Kap. 2.1 kennen gelernt haben, kommt hier in drei unterschiedlichen Spielarten eine besondere Bedeutung zu:
■Zum einen ist hier die aktive Beschäftigung mit der Krankheit und die konstruktive Begegnung mit der individuellen Situation und der Bewältigung derselben zu nennen.
So ist beispielsweise chronische Krankheit oder Behinderung häufig mit Verlusterlebnissen gepaart. Der Verlust eines Organs, einer bisherigen Fertigkeit oder von Teilen des sozialen Status geht mit Trauer einher, die durchlebt und durcharbeitet werden muss, um die Krise zu überwinden und zu neuen Aufgaben zu reifen.
■Zum