Thomas Hülshoff

Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik


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      Ein 20-jähriger Chemielaborant war nach einem tragischen Verkehrsunfall querschnittsgelähmt und konnte seinen Beruf nicht mehr ausüben. Nach einjähriger Rehabilitation und anfänglicher Krisen- und Depressionsphase wandte er sich einem Studium und späteren Beruf zu, den er auch via Rollstuhl ausüben konnte, und entwickelte zunehmend die Fähigkeit zu einem erfüllten Berufs- und Familienleben.

      ■Schließlich besteht Coping auch darin, andere Menschen aufzusuchen und soziale Kontakte zu knüpfen.

      Die große Bedeutung von Selbsthilfegruppen besteht nicht nur darin, dass man sich gegenseitig informiert, beispielsweise über adäquate Therapien und kompetente Ärzte oder rechtliche Situationen. Sie besteht auch darin, Verständnis, Halt und Empathie von anderen Betroffenen zu bekommen, die sich wie sonst niemand in die eigene Lage hineinversetzen können. Darüber hinaus ermöglichen solche sozialen Netzwerke natürlich auch eine Information der breiten Öffentlichkeit sowie politische Aktivitäten und die Wahrnehmung spezifischer Interessen.

      Mitunter besteht professionelle sowie nichtprofessionelle, vom sozialen Umfeld geleistete Hilfe weniger in im eigentlichen Sinne kausaler Hilfe, sondern darin, einfach zuzuhören. Oft reicht das aus, kann sogar das Entscheidende sein. Es ist wichtig, die Ängste, Nöte und Belastungen des anderen wahr- und ernst zu nehmen.

       professionelleBegleitung

      Fragt man sich, inwieweit soziale oder pädagogische Begleitung auf den drei hier beschriebenen sozialen Ebenen im Gefolge von Krankheit hilfreich sein kann, so gilt zunächst festzuhalten, dass nicht jeder kranke Mensch der Hilfe von Sozialarbeitern oder Heilpädagogen bedarf. Zur Aufgabe von Sozialarbeit und Heilpädagogik werden Krankheiten und die mit ihnen verbundenen Krisen erst dann, wenn die Selbsthilferessourcen des Betroffenen und seiner Bezugsgruppe – zumindest nach ihrer Ansicht – ausgeschöpft sind und die Toleranzschwelle überschritten ist. Aber die Unterstützung durch Sozialarbeiter und Heilpädagogen kann immer nur punktuell sein. Eine Hilfe für alle Probleme mit allen denkbaren methodischen Instrumenten der Päd-agogik ist eine Überforderung sowohl für das Klienten-System wie auch für den beruflichen Helfer. Folglich sind Entscheidungen darüber notwendig, welches das zentrale Problem im Klienten-System ist, dessen Bearbeitung am ehesten Entlastung erwarten lässt – aber auch Entscheidungen darüber, welches die hierfür geeignete Methode und Vorgehensweise ist.

      Die Aufgabe der Medizin besteht in der Besserung oder möglichst der Heilung von Krankheiten. In sozialer Arbeit und Heilpädagogik geht es hingegen um die Mobilisierung vorhandener Kräfte, die Wiederherstellung oder Erhaltung der Handlungsfähigkeit im sozialen Umfeld sowie die Veränderung menschlicher Beziehungen. Nicht die Heilung oder medizinisch-pflegerische Betreuung des „Patienten mit Schlaganfall“ ist Aufgabe der Heilpädagogik, sondern Hilfen zu geben, sich mit den veränderten Gegebenheiten unter Ausschöpfung eigener und externer Ressourcen im sozialen Umfeld zu behaupten.

       Kompetenzen

      Pädagogen und Sozialarbeiter intervenieren hierbei vor dem Hintergrund instrumenteller Kompetenz (z. B. sozialmedizinischem Basiswissen), reflexiver Kompetenz (der bewussten Einbeziehung ihrer eigenen Persönlichkeit) und Sozialkompetenz (u. a. die Fähigkeit, Nähe und Distanz herzustellen). Dabei können Heilpädagogen und Sozialarbeiter auf der individuellen Ebene sowie der Mikro-, Meso- und Makroebene intervenieren:

      ■Bezogen auf den individuellen Bereich können sie beispielsweise rekonvaleszenten Krebspatienten ebenso wie chronisch-psychotisch Erkrankten unterstützend zur Seite stehen.

      ■Auf der Ebene des Mikrosystems wird die Familie und ihre Organisation, beispielsweise Regeln und Grenzen einer Kinder misshandelnden Familie, fokussiert.

      ■Auf der Ebene des Mesosystems finden sich Einrichtungen des sozialen Netzwerks, z. B. Nachbarschaftshilfe, Selbsthilfegruppen etc., ebenso wie Organisationen und Institutionen des Gesundheitssystems, z. B. Krankenhaus, Beratungsstellen etc.

      ■Zum Makrosystem gehören gesellschaftliche Rahmenbedingungen – beispielsweise der Zustand der deutschen Psychia-trie nach der Psychiatrieenquette.

      Die hierzu notwendige instrumentelle, reflexive und soziale Kompetenz sollte im Rahmen des Studiums, adäquat begleiteter Praktika nebst Supervision und durch die beruflichen Erfahrungen vermittelt werden. Im Rahmen dieses Lehrbuchs gilt es auch, die wichtigsten psychosozialen Faktoren heilpädagogisch besonders relevanter Krankheitsbilder vorzustellen. Hierzu gehören z. B. unterschiedliche Behinderungsformen, die erfahrungsgemäß mit besonderen sozialen Problemen und Stigmata einhergehen können. Hinsichtlich des Kindes- und Jugendalters sind Entwicklungsstörungen, Gewalterfahrungen und Jugendkrisen zu nennen, wenn es um die pädagogische Begleitung in sozialen Krisen geht.

      Es bleibt festzuhalten, das sowohl bei der Entstehung, als auch beim Verlauf und Erleben sowie bei der Überwindung von Krankheit bzw. bei der Bewältigung bleibender Krankheitsfolgen nicht nur körperliche und psychische, sondern zum großen Teil auch soziale Faktoren eine nicht zu verleugnende Rolle spielen. Solche sozialen Faktoren lassen sich auf der Ebene des Individuums, seiner unmittelbaren sozialen Umgebung (z. B. Familie), der sozialen Mesoebene, in der der Patient lebt, sowie im soziokulturellen Kontext (Makroebene) feststellen. Aufgabe der Heilpädagogik ist es auch, bei subjektiver oder objektiver Überforderung des Kranken und seiner sozialen Umgebung die Bewältigungsstrategien (Coping-Strategien) durch spezifische Methoden und Konzepte zu fördern. Dadurch trägt sie dazu bei, dass der kranke oder behinderte Mensch trotz bzw. mit seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung ein menschenwürdiges, ihm angemessenes und ihn zufrieden stellendes Leben führen, sich adäquat entfalten und weiterentwickeln kann, dass er befriedigende soziale Bindungen und Interaktionen erfährt und am sozialen und kulturellen Leben teilnimmt.

      Krankheit ist ein Phänomen, das auch im Kindesalter untrennbar zum menschlichen Leben gehört. Sie wird zunächst als Belastung, vielleicht sogar als Not erlebt. Hilflos müssen bis dato vitale Kinder damit umgehen, dass sie an das Bett gefesselt sind, Schmerzen haben, an Vitalität verlieren oder zunehmend wieder abhängig werden. Ebenso hilflos müssen Eltern erleben, wie ihr geliebtes Kind an einer vielleicht noch nicht zu diagnostizierenden Krankheit erkrankt und mehr oder weniger gefährdet ist. Vielleicht werden auch medizinische Maßnahmen nötig, die eine Trennung von Kind und Eltern (und sei sie nur vorübergehend) erforderlich machen – für beide Teile oft seelisch schmerzhaft. Nur zu verständlich, dass Eltern ihren Kindern Krankheiten ersparen wollen und Kinder in Krankheit ein ungerechtes Phänomen sehen.

      Aber andererseits ist Kindheit ohne Krankheit nicht denkbar. Denn in der Kindheit kommt der Körper mit vielen Krankheitserregern zum ersten Mal in Kontakt. Das sich erst entwickelnde und stabilisierende Immunsystem ist sozusagen auf Krankheit angewiesen, um zu seinen Funktionen ausreifen zu können. Nicht umsonst sprechen wir von „Kinderkrankheiten“, an denen sich Kinder im Vorschulalter gehäuft anstecken.

      Aber nicht nur körperlich, sondern auch seelisch (emotional wie geistig) wachsen Kinder in der Auseinandersetzung mit Krankheit. Eltern und Großeltern wissen ebenso wie erfahrene Kinderärzte zu berichten, dass Kinder nach durchstandener körperlicher Krankheit auch emotional wie kognitiv einen Entwicklungsschub durchmachen, dass sie „nachreifen“ und an Autonomie und Selbständigkeit gewinnen. Man hat fast den Eindruck, dass die Erfahrung einer überstandenen Krankheit und die Lust an der wiedergewonnenen Vitalität auch in ganz anderen Bereichen menschlichen Erlebens einen solchen Wachstumsschub auslösen kann. Vor allem die Erfahrung, in tiefer Regression und krankheitsbedingter Erschöpfung nicht allein gelassen zu werden, sondern liebevolle Zuwendung und Hilfe zu bekommen, verbunden mit der Erfahrung, dass auch tiefe Erschöpfung und Apathie ein zu überwindender menschlicher Zustand ist, sowie das Erleben der wieder neu gewonnenen Vitalität und Kraft ermöglichen es dem Kind, auch in späteren Krankheitssituationen nicht die Hoffnung